Ich durfte den Jaguar am Waldrand sprechen: Festschrift für Mark

December 20, 2016 | Author: Anonymous | Category: Documents
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In: Ronald Hitzler, Anne Honer und Christoph Maeder (Hg.) Expertenwissen: Die ..... und Gerölllawinen, die Speisekarte d...

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Ich durfte den Jaguar am Waldrand sprechen Ulrike Bieker, Michael Kraus, Lioba Rossbach de Olmos, Ingo W. Schröder, Dagmar Schweitzer de Palacios, Stéphane Voell (Hg.)

Reihe Curupira, Band 30, herausgegeben von Curupira: Förderverein Kultur- und Sozialanthropologie in Marburg e.V.

Mark Münzel zählt zu den international bekanntesten Ethnologen aus dem deutschsprachigen Raum. Von 1973 bis 1989 war er als Kustos am Völkerkundemuseum (heute: Weltkulturen Museum) in Frankfurt am Main tätig. Von 1989 bis 2008 lehrte er als Professor für Völkerkunde an der PhilippsUniversität Marburg. 2011 ernannte ihn die Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde (heute: Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie) zu ihrem Ehrenmitglied. Sein berufliches Leben widmete Münzel dem Studium der indigenen Bevölkerung des südamerikanischen Tieflandes. Er forschte in Brasilien, Paraguay, Peru, Ecuador und Deutschland. Mythen und Museen, Kunst und Sprache, Politik und Kannibalismus, Widerstand und Spektakel, Spiel und materielle Kultur sind nur einige der Themenbereiche, mit denen er sich seit den 1960er Jahren ausführlich beschäftigt. Im vorliegenden Band stellen Wegbegleiter sowie Schülerinnen und Schüler aktuelle Forschungsergebnisse vor. In 26 Essays setzen sie sich mit dem Münzel’schen Oeuvre auseinander und leuchten aus der jeweils eigenen Perspektive die genannten Themenfelder aus.

Ich durfte den Jaguar am Waldrand sprechen Festschrift für Mark Münzel zum 75. Geburtstag

herausgegeben von Ulrike Bieker, Michael Kraus, Lioba Rossbach de Olmos, Ingo W. Schröder, Dagmar Schweitzer de Palacios, Stéphane Voell

CURUPIRA

Curupira: Förderverein Kultur- und Sozialanthropologie in Marburg e.V. wurde 1993 gegründet. Seine Aufgabe besteht unter anderem in der Herausgabe der ethnologischen Schriftenreihen ›Curupira‹ und ›Curupira Workshop‹. Auskünfte erhalten Sie unter folgender Adresse:

Curupira: Förderverein Kultur- und Sozialanthropologie in Marburg e.V. c/o Institut für Vergleichende Kulturforschung – Fachgebiet Kultur- und Sozialanthropologie Deutschhausstraße 3, 35037 Marburg/Lahn Tel. 06421/28-22082, Fax: 06421/28-22140, E-Mail: [email protected] www.curupira.de

Das Herausgeberteam bedankt sich bei Sylvia Wackernagel, die an der Schlussredaktion der Beiträge entscheidend mitwirkte.

© 2018 Curupira ISBN 978-3-8185-0541-7 ISSN 0945-8476 Druck: Difo-Druck, Bamberg Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany

Inhalt

Ernst Halbmayer Mark Münzel zum 75. Geburtstag – Eine persönliche Einleitung zur Festschrift ................................................ 11 Bernhard Streck Mark Münzel als Mythologe – Eine Laudatio ............................................. 27 Karl Braun Die Weigerung Hans Stadens, Wildschwein zu werden und die Folgen dieser Weigerung für die Marburger Völkerkunde im Allgemeinen und Mark Münzel im Besonderen .................................. 45 Peter Schröder Curt Nimuendajú und die Xipaya – Eine Episode aus der Geschichte der deutschen und der brasilianischen Ethnologie ............... 65 Heike Drotbohm Die Crux der kulturellen Fixierung – Indigene, quilombolas und die Manöver der Fürsprache einer angewandten Ethnologie in Brasilien ................................................................................... 87 Ulrike Bieker »Bewegung der ekstaseartigen Erregung der Seele in der Bewegung des ganz zum Jaguar Gehörens« – Die Aché, das Erforschen von Emotionen und die Würde des Einzelfalls ........... 103 Lioba Rossbach de Olmos Das kubanische ifá-Orakel oder die geschriebene mündliche Tradition ............................................. 119

Schabnam Kaviany Die Steine des Mondes – Das traditionelle Telefon der Bribri-Heiler in Costa Rica ................................................................... 139 Ulrike Prinz Abtauchen – Virtuelle Realität im Videospiel und im amazonischen Ritual ....................................................................... 159 Andrea Lauser Lên đồng – Kult, Kulturerbe, Spektakel Ein vietnamesisches Ritual: Von der kontrollierten Besessenheit zur Bühnenperformance ...................................................... 179 Godula Kosack Die Methode des Palavers oder: Wie ich zur Ethnologie fand .............................................................. 209 Felix Riedel Waldgeisterwrestling – Mythologie und Fake News bei Pippi Langstrumpf, Donald Trump und in der Ethnologie ................... 227 Ingo W. Schröder Verweigerung – Ein neues/altes Konzept in der Analyse indigener Dekolonisierung ................................................. 247 Ulrike Krasberg Europa und das nationale Selbstbild Griechenlands ............................... 261 Edgar Bönisch Der Bleibtreu Verlag – Betriebsethnologische Betrachtung zweier aufeinanderstoßender Unternehmenskulturen ............................. 289 Peter J. Bräunlein Hieronymus Köler d. Ä. (1507-1573) und die Neue Welt Eine imaginäre Begegnung ........................................................................... 309 Bernard Poulelaouen Ethnologie und Politik – ein Weg der Möglichkeiten ............................. 359

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Andrea Beutlhauser Die Gesänge der N’uritá ............................................................................... 373 Sol Montoya Bonilla El declinar de la Antropología – Des-aprender de los Maestros ........... 395 Bernd Schmelz Publikationen von Mark Münzel auf meinem akademischen Berufsweg .............................................................................. 405 Peter Herbert Kann Verbindende Grenzflächen – Ethnologie und Endokrinologie ............. 419 Dagmar Schweitzer de Palacios Objects of Encounter – Die Gegenstände der Aché in der Völkerkundlichen Sammlung ........................................................... 431 Constanze Dupont Brett vorm Kopf – Mythische Erzählungen auf den Storyboards von den Palau-Inseln im Pazifik ............................. 449 Ulrike Umstätter Ein Spaziergang durch die Museologie ...................................................... 465 Nathalie Scholz Magd und Denker revisited – Bemerkungen zur Bewertung von wissenschaftlicher Museumsarbeit ...................................................... 483 Sebastian Hainsch Gegenstände, die im Museum aufleben Kunstethnologie oder indigene Kunstgeschichte ..................................... 505 Michael Kraus »Schmeist’ses raus!« – Über Dinge und Menschen und Museen ........... 529 Verzeichnis der Autorinnen & Autoren .................................................... 551 Tabula Gratulatoria........................................................................................ 555

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Mark Münzel (2018) Mark Münzel reiste Ende der 1960er Jahre an den Rio Uneiuxi, einem rechten Nebenfluss des mittleren Rio Negro, zu den Nadepa (Makú): »Man erzählte uns von Geistern ringsum. Manchmal nahmen sie die Gestalt von Tieren an, manchmal waren sie Tiere, manchmal Menschen. Affenartige Wesen verführten Frauen, und verspielte Jaguare waren des Menschen gefährlicher Freund. Manche Nacht spielten die Männer am Waldrand auf heiligen Flöten, die Frauen durften das nicht sehen, hatten aber ihre Freude an der wunderschönen Musik, die in ihre Hütte drang. Ich durfte den Jaguar am Waldrand sprechen, als er katzenhaft freundlich und wild mit der Tatze nach uns schlug, knurrte und schnurrte … und sich dann wieder in seinen Wald trollte.« Münzel, Mark 2009. Nicht alles verstehen. Paideuma 55, 7-26, hier 17, Hervorh. n. i. O.

Ernst Halbmayer

Mark Münzel zum 75. Geburtstag Eine persönliche Einleitung zur Festschrift Es ist mir eine Freude, der Einladung der Herausgeber nachzukommen, das Vorwort für Mark Münzels Festschrift zu verfassen und mich in die lange Reihe von Würdigungen seiner Person und seines Werkes einzureihen. Eine Gruppe von SchülerInnen, engen ehemaligen MitarbeiterInnen und Personen, die dem Marburger Fachgebiet seit langem verbunden sind, haben die Initiative für diese Festschrift ergriffen und dabei aus dem breiten Schaffens des Jubilars und in Abgrenzung zu einer früheren Festschrift (Schmidt 2003) den Fokus insbesondere auf sein Wirken in Marburg gelegt. Die vorliegenden Beiträge zeichnen ein facettenreiches Bild von Mark Münzels Werk und der Kreativität seiner Person. Alle, mit denen ich gesprochen habe, waren sich einig, dass es dem Naturell des Jubilars wohl nicht entsprechen würde, wenn man seine Verdienste und herausragenden Leistungen ausschließlich mit trockenem intellektuellem Ernst und distinguiertem akademischem Pathos einer universitären Weihe unterziehen würde. Es ist das Unangepasste, Paradoxe, Tricksterhafte, Poetische und Ironische, das in den Händen von Mark Münzel zum Instrument wird, um Fremdverstehen zu initiieren, vermeintliche Sicherheiten zu irritieren und andere Welten für jene, die nicht das Privileg einer ausgedehnten Feldforschungs- und Fremderfahrung hatten, vermittelbar zu machen. Bernhard Streck (dieser Band) zitiert die Studentin Barbara Slotta, die den Vorlesungsstil Mark Münzels mit den Worten »Er sang, hüpfte und kommentierte«, beschreibt. Seine Vorlesungen erlaubten Mythen »in Form von Soloperformances live mitzuverfolgen oder gar ›die Mythen zu sehen‹«, meint Schabnam Kaviany und er machte Mythen »als Teil eines Gesamtkunstwerkes verständlich, das ebenso Form und Inhalt der Oralität als auch damit verbundene Ausdrucksformen und Objekte mit einschließt« (Kaviany, dieser Band).

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Dieses Interesse an und die Fähigkeit Theatralität und Performance umzusetzen, führt Sol Montoya einerseits auf biographische Erfahrungen und insbesondere seine Feldforschungserfahrungen zurück, in denen er den »Geschmack für Parodie, Witz und Ironie« gefunden hat, »der ihn dazu brachte sich in ein anderes Feld forschenden Interesses, der theatralen Anthropologie einzubringen« (Montoya, dieser Band, eigene Übersetzung). In seinen Vorträgen und Schriften vermittelt Münzel durch Feldforschungsanekdoten die Ironie und den Witz der Indigenen und wie sie ihn, den Feldforscher parodieren und verspotten. Er betont damit ihre Kühnheit und ihren Humor, »Attribute«, wie Montoya meint, »die der Anthropologe selbst angenommen zu haben scheint« (ebenda). Nicht zuletzt kommt in diesen Strategien die Handlungsmächtigkeit, Widerständigkeit und Verweigerung der Indigenen selbst, aber auch des Ethnologen Münzel zum Ausdruck, der wie der indianische Mythos »Aussage gegen Aussage« stellt und versucht, ein »Nebeneinander verschiedener zueinander umgekehrter Welten« zu vermitteln (Münzel 1994: 271-272). Die vorliegenden Beiträge wurden, bis auf zwei, alle für diese Festschrift verfasst. Die beiden einleitenden, ebenfalls hier erstmals veröffentlichten Beiträge gehen auf frühere runde Geburtstage des Jubilars zurück. Jener von Karl Braun ›Die Weigerung Hans Stadens, Wildschwein zu werden und die Folgen dieser Weigerung für die Marburger Völkerkunde im Allgemeinen und Mark Münzel im Besonderen‹ wurde im Rahmen des Fachsymposiums ›Beiträge zur Münzelogie – Auf-, Um-, Durch- und Ausbrüche in Biographie und Werk eines Ethnologen‹ anlässlich seines 65. Geburtstags gehalten, und jener von Bernhard Streck ›Mark Münzel als Mythologe‹ anlässlich einer Festveranstaltung zu seinem 70. Geburtstag. Karl Braun stellt den Kleinkrieg zwischen Vorgänger und Nachfolger, zwischen Horst Nachtigall, der den Marburger Lehrstuhl zwischen 1963 und 1989 innehatte, und Mark Münzel, der ihm von 1989 bis 2008 folgte, ins Zentrum seines Beitrags. Er verknüpft Kannibalismus,1 Amtsübergabe und Verzehrängste und spannt so den Bogen von Hans Staden und dem in seinem Werk beschriebenen Kannibalismus der Tupinambá, über die frühen Anatomiekurse an der Marburger Universität des 16. Jahrhunderts zur Patrophagieangst des Vorgängers bei der Übergabe der Professur. Wie   1

Zum Kannibalismus als frühes mediales Phänomen im 16. Jahrhundert anhand der Darstellung von Hieronymus Köler d. Ä. (1507-1573) siehe Bräunlein (dieser Band).

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Braun darstellt, haben sowohl Nachtigall wie auch Münzel die Marburger Ethnologie mit dem Erscheinen des Werkes von Hans Staden (1557) beginnen lassen, eine Tradition, in der dann Theodor Waitz, Karl von den Steinen und Leonhard Schultze Jena folgten, um nur einige ausgewählte zu nennen. Verzehrängste und entsprechende Abwehrreaktionen haben wohl damit zu tun, dass, wie erst kürzlich Wilk (2018) feststellte, es sich bei den Ethnologen um einen Stamm handelt, der seine Vorgänger isst. Trotz allem scheint es, ganz amazonisch, die viel größere Strafe zu sein, der schließlich Nachtigall anheimgefallen ist, nicht gegessen zu werden, niemanden zu haben – weder Feinde noch intellektuelle Angehörige, die sich die Kräfte des institutionellen Vorfahrens aneignen – niemand, der sich seiner intellektuellen Anstrengungen bedient. Sollte es eines weiteren Beweises bedurft haben, dass dem vielfach gewürdigten Mark Münzel eine derartige, ganz und gar unmenschliche Behandlung sicher erspart bleiben wird, dann liefern sie die vielfältigen liebevollen Einverleibungen des vorliegenden Bandes. Von Verzehrängsten gesteuerte Abwehrreaktionen meines Vorgängers blieben mir erspart. Mark Münzel hatte sich – so meine Vermutung – fest vorgenommen, es besser und anders zu machen als sein Vorgänger, unter dessen Person und Geistern er noch lange zu leiden hatte. Geister, die sich offensichtlich lange durch keine spirituelle Reinigung und Austreibung vertreiben ließen, die nicht aufgaben, in die Marburger Ethnologie intervenieren zu wollen, und noch viele Jahre gegen den Nachfolger und seine Tätigkeiten und Entscheidungen kämpften. Eine solche Erfahrung blieb mir, Münzel sei Dank, erspart. In vielen Bereichen habe ich Unterstützung und Rat bekommen und auch all jene Entscheidungen, mit denen Mark Münzel vermutlich nicht glücklich war und von denen es mehr geben mag als ich ahne, haben zu keinem Kleinkrieg geführt. Als ich vor nunmehr fast zehn Jahren nach Marburg kam, galt es, in einem Land, in dem ich nie gelebt hatte, und das ich trotz vermeintlich gleicher Sprache weniger kannte als Venezuela, Frankreich oder die USA, in die neue Rolle zu finden und Routinen kennenzulernen. Es gab neue Rahmenbedingungen, eine neue Universität und die Geister des großen Vorgängers, die mir nun nicht in Artikeln und Büchern gegenübertraten, und die sich – wie es Geister so an sich haben – völlig unabhängig von der physischen Präsenz von Mark Münzel in Routinen, Erwartungen, Werten und Grundhaltungen am Institut und darüber hinaus gegenübertraten. Sie manifestierten sich in eingeübten Praktiken am Fachgebiet und darüber 13

hinaus in Erwartungen, die man an einen Ethnologen richtete. Das ist eine Manifestationsebene der Geister, die sich einem nicht aus dem Studium der wissenschaftlichen Beiträge des Kollegen erschließen, aber umso manifester präsent und wirksam sind. Als Ethnologe versucht man diese zu verstehen, und wenn man glaubt, sie verstanden zu haben oder das Gefühl hat, handeln zu müssen, weil das wird vom Neuen ja erwartet, dann gilt es zu entscheiden, welche der Geister man hilfreich und nützlich findet, welche man fördern und pflegen will, wie man aber auch Platz für die eigenen Geister schaffen kann und mit welchen Geistern des Vorgängers man vielleicht zu guter Letzt doch wenig anfangen kann, weil sie nicht zu einem passen, weil man selbst ganz anders wissenschaftlich sozialisiert wurde. Meine Wertschätzung und Hochachtung der Person und des Werkes Münzels – trotz offensichtlicher Differenzen in unseren Zugängen – liegt in der sensiblen ethnographischen Qualität seiner Analyse indigener Kulturen, die bei jemandem, der selbst in solchen Gesellschaften arbeiten durfte, tiefe Resonanz und Verständnis jenseits theoretischer Positionen hervorruft. In meiner Zeit in Marburg hat sich diese Wertschätzung vertieft und ist – im Gegensatz zu meinem früheren Blick aus der Wiener Ferne – reichhaltiger und facettenreicher geworden. Ich, der ich in Wien Soziologie und Völkerkunde studiert habe, habe als Student und Dissertant durch meine Lehrer Walter Dostal, Karl Wernhart und später Andre Gingrich über die zu diesem Zeitpunkt aktuellen gegenwärtigen Entwicklungen an den deutschsprachigen Ethnologie-Instituten vergleichsweise wenig erfahren. Der Blick war auf die als wichtiger angesehene US-amerikanische, britische oder französische Ethnologie gerichtet. Dabei wurde uns, insbesondere von Andre Gingrich, ein kritisches und distanziertes Verhältnis zu damals weit verbreiteten radikal partikularistischen, relativistischen, postmodernen Positionen vermittelt, die auch in der deutschen Ethnologie weite Verbreitung gefunden hatten. Diese Positionen waren als Ausgangspunkt für kritische Reflexion, solide ethnographische Arbeitsweise und Theoriebildung zwar wichtig, Analysen hatten dann aber über Dekonstruktion und das Partikuläre hinauszugehen. Da ich mich für Südamerika interessierte und Anfang der 1990er Jahre begann in Venezuela zu arbeiten, stellte Mark Münzel für mich als Student natürlich einen Referenzpunkt dar. Er hatte das deutschsprachige Grundlagenbuch ›Die Indianer. Mittel- und Südamerika‹ verfasst. Wie ich heute deutlicher sehe, ist es eines der wenigen, wenn nicht das einzige Werk, in dem er vergleichend und klassifizierend einen systematischen Überblick 14

über die indigenen Kulturen des Kontinents anhand von Kulturregionen vorgelegt hat und somit gar nicht exemplarisch für sein Denken. Aus meiner Studentensicht war besonders die politisch engagierte und öffentlichkeitswirksame Ethnologie relevant, die in den Vorlesungen von Georg Grünberg in Wien, denen ich begeistert lauschte, aber auch in der Anklage und internationalen Öffentlichmachung des Genozids an den Aché in Paraguay zum Ausdruck kam (Münzel 1973b, 1985, IWGIA 2008) und in Bänden wie ›Die indianische Verweigerung‹ (Münzel 1978) ihren Ausdruck fand. Ingo W. Schröder (dieser Band) greift diese Überlegungen auf und verknüpft sie mit aktuellen indigenen dekolonialen Diskursen. Andere Bereiche des Wirkens von Mark Münzel blieben mir damals – mit dem studentischen Blick aus der Ferne – zugegebenermaßen weitgehend verborgen. Aber Marburg war zweifellos, so meine Wahrnehmung in den 1990er Jahren, das Aushängeschild der deutschen ethnologischen Amazonienforschung, repräsentiert durch Mark Münzel. Aus der Wiener Perspektive, die ich als Student vermittelt bekam, war die deutsche Ethnologie in den 1980er Jahren primär historisch interessant, hatte aber selbst wenig Großartiges zum internationalen Diskurs beizutragen und machte offensichtlich auch nur geringe Anstrengungen in diese Richtung. Peter Schröder zeichnet diese Situation am Beginn seines Beitrags nach und skizziert auch die kritischen Einschätzungen Mark Münzels zu dieser Situation (Münzel 1989). Schröder widmet sich der Geschichte des Faches und den Beziehungen zwischen der brasilianischen und der deutschen Anthropologie anhand des Werkes und der Feldforschungen von Curt Unckel Nimuendajú. Dieser wird insbesondere auch im Briefwechsel mit Theodor Koch-Grünberg, dessen Nachlass unter Mark Münzel an das Fachgebiet der Philipps-Universität übergeben wurde, deutlich. Persönlich kennenlernen konnte ich Mark Münzel im Rahmen der Habilitationskommission von Elke Mader 1997 in Wien, an der ich als studentisches Mitglied am Ende meiner Promotionszeit teilnahm. Zu einem Wiedersehen kam es erst im Oktober 2004 beim 3. Treffen deutschsprachiger Südamerika- und KaribikforscherInnen hier in Marburg. Drei Jahre später kam ich zumindest indirekt wieder mit Herrn Münzel in Kontakt, als er als einer der externen Gutachter meiner Habilitationsschrift fungierte. Mein Verhältnis zu Mark Münzel und zu Marburg wurde um vieles konkreter, als ich 2008 den Ruf nach Marburg erhielt. Das ist naturgemäß für alle Beteiligten – auch ohne Verzehrängste und Abwehrreaktionen –

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kein trivialer Prozess, insbesondere an einem Fachgebiet, das nur aus einer Professur besteht und stark von der Person des Leiters geprägt ist. Von den vielfältigen Themen, die Mark Münzel im Laufe seiner Tätigkeit bearbeitet hat, und die nachhaltige Relevanz haben, stellt Bernhard Streck die Beschäftigung mit Mythen ins Zentrum. Diese haben die intellektuelle Auseinandersetzung und das Werk des Jubilars von Beginn an, seit seiner Dissertation über die Kamajurá (Münzel 1971, 1973a), geprägt und durchzogen. Wie Streck feststellt, nutzt Mark Münzel »das undefinierbare Wort bald im überkommenen Sinne als Gattungsbegriff für Ursprungsgeschichten, bald als griffiges Synonym für interessegeleitete Konstrukte und Ideologien«, wenn er sich etwa den »Mythos vom Inkakollektivismus« (Münzel 1993, siehe Streck, dieser Band), den »Mythos der Altentötung« (Münzel 2016, siehe u. a. Bieker, Bräunlein, beide dieser Band) vornimmt, oder mit dem Lévi-Strauss’schen Strukturalismus und seinen Folgen als »Ethnomythologie« (Münzel 2017: 5) abzurechnen versucht. Wie Streck darstellt, wurde der Mythos bei Münzel zur »freien Poesie« befreit von Ursprungssuche, und gereinigt von Befangenheiten und somit postmodern (siehe Münzel 1992). »Das Verwandlungsspiel der Erzählungen war nur noch in seiner Relativität ernst zu nehmen und taugte nicht mehr als unverrückbarer Wertekanon … (w)enn Wahrheit im Mythos liege, sei es der Widerspruch, die Verwandel- und Verwechselbarkeit, die Mehrdeutigkeit, das Zwielicht« (Streck, dieser Band). Damit wendet sich Münzel gegen rationalistische Denkschulen. Wie Münzel selbst 1994 schreibt, »der Dialog mit (dem mythischen) Text, den ich nun, im Fall der KamayuráMythologie schon seit 25 Jahren führe, hat sich mir insgesamt als fruchtbarer erwiesen als die ordentliche Feldforschung« (Münzel 1994: 275), die er ja mit großen Erfolg selbst bei den Kamayurá, den Kaborí, den Aché, den Shuar und mit Roma in Deutschland durchgeführt hat. Das Thema der Mythologie steht in unterschiedlicher Gewichtung und Form auch mit anderen zentralen Themen des Oeuvres von Mark Münzel in Zusammenhang. Dazu gehören die Frage von Schriftlichkeit und Oralität, von Rhetorik und Performativität (Scharlau und Münzel 1986, Münzel 2000), von Ritual und Theater (Schmidt und Münzel 1998). Im vorliegenden Band reicht das diesbezügliche Spektrum von der auf Oralliteratur und auf Lebensgeschichten fokussierenden prozesshaften und mehrstimmigen Palaverethnographie Godula Kosacks (dieser Band) bei den Mafa in Nordkamerun über die Gesänge der Bribri als Überliefe-

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rungsmedium für Mythen in Costa Rica (Kaviany, dieser Band) zu erotischen piktographischen Storyboards in Palau, die lokal bedeutsame mythische Ereignisse, aber auch historische Überlieferungen und Illustrationen von Sprichwörtern festhalten (Dupont, dieser Band). Er umfasst die performativen vietnamesischen lên đông-Inszenierungen zwischen dem ›Aberglauben‹ religiöser Besessenheit, in der die Anhänger mittels eines Mediums die Göttinnen der vier Paläste (Tư Phủ ) – des Himmels (Thiên Phụ), der Erde (Đi ̣a Phủ ), des Wassers (Thủ y Phủ ) und der Berge und Wälder (Nhạc Phủ ) – verehren und der nationalen theatralischen Inszenierung, des Kulturerbes als »schöner nationaler Brauch« (Lauser, dieser Band). Er umfasst aber auch die äußerst gelungenen vergleichenden Ausführungen über unterschiedliche Formen des Eintauchens, der Immersion in andere Welten sowie den resultierenden körperlichen Erfahrungen und deren Konsequenzen in amazonischen Ritualen und der virtuellen Realität (Prinz, dieser Band) und führt bis zur Frage der Transformation des Wissens, das zur Auslegung des Ifa-Orakels dient, welches von west-afrikanischer Oralität zu einer zunehmenden Verschriftlichung des Wissenskorpus in Kuba reicht und zuletzt in der Entwicklung einer Orakel-App mündet (Rossbach de Olmos, dieser Band). Die Fragen von Rhetorik und Performativität (Bieker, dieser Band), von Ritual und Theater sind bei Mark Münzel jedoch, wie sich aus den vorliegenden Texten unschwer erkennen lässt, kein reiner Gegenstand akademischer Analyse und theoretischer Reflexion, vielmehr ist die Beschäftigung mit ihnen ein Mittel zum Fremdverstehen und gleichzeitig sind sie Medien um ein Fremdverstehen vermittelbar zu machen. Die Fragen des notwendigerweise immer unabgeschlossen bleibenden Fremdverstehens und der Übersetzung sind zentrale Themen in Münzels Werken und auch im vorliegenden Band an prominenter Stelle vertreten. Nicht zuletzt haben Mythen für Mark Münzel eine poetische Qualität und werden zur »freien Poesie«, auch die fiktive Ethnopoesie, ist für ihn ein adäquates Mittel, um Fremdheitserfahrungen und andere kulturelle Logiken und Praktiken vermittelbar zu machen. In diesem Band gibt Andrea Beutlhauser ein eindrückliches und, wie ich meine, gelungenes Beispiel dieses literarischen Genres mit Bezug auf die Biographie des Jubilars. Peter J. Bräunlein (dieser Band) beschäftigt sich mit den Beschreibungen von Hieronymus Köler d. Ä. (1507-1573), der u. a. über seine Vorbereitungen zu einer Reise in die Neue Welt im Dienst der Welser im Stile früher Pilgerberichte und mittels kolorierter Zeichnungen berichtet. Bräunlein 17

will so zu einer Imaginationsgeschichte des Fremden beitragen und eine frühkoloniale Kritik am kolonialen Unternehmen sichtbar machen. Wie er richtig feststellt, hatte das Fremde und die Xenologie in den 1980er Jahren Konjunktur, sich mittlerweile aber von der vielschichtigen Begegnung zu Clash-Szenarien gewandelt. Letztere thematisiert auch Felix Riedel (dieser Band) unter dem Aspekt der Lüge und den Grenzen von Wahrheit. Fragen der Übersetzung spielen eine zentrale Rolle bei der Übertragung der mündlichen Yoruba-Mythologie ins verschriftlichte Spanische (Rossbach de Olmos, dieser Band), bei den Mythenübersetzungsprojekten auf Palau (Dupont, dieser Band) oder der narrationsbasierten Feldforschungspraxis von Godula Kosack (dieser Band). Am detailreichsten setzt sich jedoch Ulrike Bieker (dieser Band) mit den Übersetzungen Mark Münzels anhand der Aché auseinander. Sie zeigt, wie Münzels »spröde, sperrige, aber doch merkwürdig schöne Übersetzung(en)« sowohl etwas von der Komplexität und Mehrdeutigkeit des Aché vermitteln wie »Achtung vor der scheinbar unverstandenen, fremden Emotion«, die für den Ethnologen nicht nachvollziehbar scheint. Bei Münzel sind es Übersetzungen, die das Unverstandene stehen lassen und nicht mit vertrauten Begriffen belegen, die umschreiben, indem sie Emotionen, hier zum Beispiel den Zorn bei den Aché (siehe auch Schweitzer de Palacios, dieser Band) in fassbare Einzelteile zerlegen. Dabei spielt, wie Bieker zeigt, in Münzels Werk der Einzelfall eine zentrale Rolle, ebenso die Individualität der Forschungspartner sowie die systematische Weigerung diese allgemeinen Aussagen und westlichen Theorien unterzuordnen. Auch 2017 schreibt Münzel im selben Sinne »an der Universität werden die Äußerungen des zum Himmel emporsteigenden Jaguars zur theoretischen Abstraktion einer von unreinen Feldforschungsergebnissen desinfizierten Ethnologie.« Er selbst weigert sich dem Jaguar zu folgen, sondern bleibt auf der Erde bei den Wildschweinen: »Mit der Schnauze im Schlamm der Realität wühlend, entdeckt es neue Trüffeln, die in der Großen Theorie nicht vorkommen« (Münzel 2017: 27). Dieses Plädoyer für Feldforschung, welches es mit Nachdruck zu unterstützen gilt, geht mit einer Abwehr einher, westliche Theorien auf die untersuchten Fälle zu übertragen sowie mit einer Abneigung, die ich persönlich nicht teilen würde, allgemeinere Aussagen zu formulieren und mittlere, wenn auch nicht große Theorien zu versuchen oder an die Existenz fallübergreifender allgemeiner Logiken oder zu Grunde liegender Strukturen im menschlichen Denken und Handeln zu glauben. 18

Damit kommt im Münzel‘schen Werk die zentrale und früh formulierte Überzeugung Indigene als aktive, kreative, individuelle und entscheidende Subjekte zu betrachten zum Ausdruck (Montoya, dieser Band). Diese Überzeugung, gepaart mit den Feldforschungserfahrungen bei den Aché während der Stroessner-Diktatur, bei der Münzels geplante Verwandtschaftsanalyse eine »nekrologische« (Münzel 2008: 9) Dokumentation getöteter, gestohlener und verkaufter Verwandter wurde, führte dazu, dass Mark und Christine Münzel den Genozid an den Aché 1973 international bekannt machten. Dies reiht sich ein in den Kontext der kurz zuvor veröffentlichten Barbados-Deklaration (Dostal 1972, Bartolomé et al. 1971) der Etablierung des Begriffs des Ethnozids, den Robert Jaulin, ein Mitarbeiter von Claude Lévi-Strauss, anhand seiner Erfahrungen bei den Barí entwickelt hatte (Jaulin 1970, 1972) und löste eine ganze Serie internationaler (siehe IWGIA 2008, Hitchcock et al. 2011, Hitchcock et al. 2017) und nationaler politischer Reaktionen (Weber 2016) aus. Es führte zu Diskussionen zwischen internationalen NGOs wie Survival International und Cultural Survival über die Frage des Genozids, die Münzel 35 Jahre später dazu veranlasste trocken festzustellen, dass es für die Aché sicher ein Holocaust war – ganz unabhängig davon, ob es sich um einen Genozid gehandelt hat oder nicht (Münzel 2008). In der Zeit der späten 1960er und frühen 1970er Jahre könnte man auch den Beginn einer dekolonialen Anthropologie verorten, die nicht nur die Verantwortung und das Engagement von Ethnologien für ihre Untersuchungsobjekte betont, sondern später in Begrifflichkeiten wie engaged, committed, advocate, public oder militant anthropology (Ingo W. Schröder, dieser Band) thematisiert wurde. Aber auch hier und gegenüber dem Dekolonialismus bleibt Münzel kritisch und würde sich wohl nur ungern als früher Vertreter oder Vorläufer vereinnahmen lassen. Vielmehr stellt er die lange Geschichte der aktiven Verweigerung der Indigenen selbst (Münzel 1978) in den Vordergrund. Das vermeintliche Engagement der Ethnologen hält Münzel für ein »Schutzschild pro-indianischen Engagements«. Unter diesen Vorzeichen, so schreibt er, kann es »einen Angriff der Eingeborenen auf die fortschrittliche Ethnologie … ebensowenig geben wie im Sozialismus einen Streik der Arbeiter gegen die Betriebe, die ihnen ja selbst gehören. Nicht mehr imperialistische Interessen bestimmen Forschungsthemen und -ergebnisse, sondern die ›Betroffenen‹« (Münzel 1980: 61). Doch wer

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ist der Betroffene, fährt er fort zu fragen und zeigt auch hier die Komplexität, Uneindeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten auf, sowohl auf Seite der Indigenen wie der der Ethnologen. Das Münzel’sche Projekt wendet sich gegen kulturelle Fixierungen, weshalb das genannte klassifizierende Grundlagenwerk auch eine Ausnahme bildet. Drotbohm (in diesem Band) greift dieses Thema auf und zeigt anhand der Kategorien der Indigenen und Quilombolas in Brasilien, zu welchen Paradoxien solche Fixierungen angesichts unterschiedlicher Selbstdefinitionen einzelner Gemeinden führen können. Anhand von Fallbeispielen veranschaulicht sie, wie in ihnen ethnopolitische Anerkennungsregime und ethnisch-rassische Konnotationen zum Ausdruck kommen und welche Probleme dies für die Fürsprache einer angewandten Ethnologie produziert. Ebenso kann Lausers Beschäftigung mit der Anerkennung und Festschreibung der lên đông-Rituale als UNESCO-Kulturerbe und nationaler Brauch unter dem Aspekt der kulturellen Fixierung gelesen werden. Vier Artikel im vorliegenden Band sind am Rande der zentralen Arbeitsschwerpunkte Mark Münzels angesiedelt. Dazu gehört die erhellende Beschäftigung mit Griechenland, die Ulrike Krasberg ausgehend von der Finanzkrise, aber weit in Geschichte und historische Kulturräume zurückgreifend, entwickelt. Sie zeigt die Ambivalenzen der Definition einer griechischen Nation und einer griechischen nationalen Identität angesichts der internen Differenzen und der Tatsache, dass nicht nur der Islam, sondern auch das orthodoxe Christentum als das dem Westen gegenüberstehende Fremde definiert wurde. Kann (dieser Band) geht der medizinischen Frage nach, inwieweit kulturelle Differenzen, Rassismus und soziokulturelle Stressoren konkrete krankheitsrelevante Folgen haben. Edgar Bönisch (dieser Band) fasst Ergebnisse seiner betriebsethnologischen Untersuchung des Bleibtreu-Verlages zusammen und Bernard Poulelaouen (dieser Band) nimmt ein Zusammentreffen mit dem Bürgermeister von Le Mans (selbst Ethnologe) zum Anlass, um über Möglichkeiten im Zusammenspiel von Ethnologie und Politik zu reflektieren. Der abschließende große thematische Schwerpunkt der vorliegenden Festschrift steht mit Mark Münzels besonderer Beziehung zur Museumsethnologie in Zusammenhang, die ihn vom ehemaligen Frankfurter Museum für Völkerkunde – heute ›Weltkulturen Museum‹ – nach Marburg und zur Leitung der Völkerkundlichen Sammlung führte. Seine vielbeachteten und von etlichen AutorInnen in der Festschrift erwähnten Ausstellungen, wie etwa ›Herrscher und Untertanen‹ (Kelm und Münzel 1974), 20

›Gejagte Jäger‹ (Münzel 1983) oder ›Die Mythen sehen‹ (Münzel 1988), seine Beiträge zur Museumsdebatte (Münzel 2003) und zum Verhältnis von Universität und Museum (Kraus und Münzel 2000, 2003) bilden dabei eine zentrale Grundlage. Hier beschreibt Bernd Schmelz (dieser Band), selbst langjährig Ethnologe am Museum für Völkerkunde Hamburg, den Einfluss des Münzel’schen Werkes auf seinem Berufsweg. Dagmar Schweitzer de Palacios nimmt die von Münzel erworbene Sammlung von Aché-Objekten in der Völkerkundlichen Sammlung zum Anlass, in Auseinandersetzung mit Mark Münzel die Rolle ethnographischer Objekte in der Vermittlung ethnologischer Inhalte an Studierende zu thematisieren. Das macht sie am Beispiel des sogenannten Totschlägers, der bei den Aché im Zuge der tomombú Initiationsriten für Männer eine zentrale Rolle spielte, Zorn produzieren sollte und damit letztendlich den Jagderfolg der jungen Männer garantierte. Ulrike Umstätter (dieser Band) gibt einen gelungenen Einblick in die Geschichte und den damit einhergehenden Wandel der Inszenierung ethnographischer Objekte in Ausstellungen. Wie sie feststellt, sind Museen keine neutralen Orte, sondern solche, wo Bedeutungen konstruiert werden, indem »die historischen und zeitlichen Wurzeln (des Objektes) ebenso gekappt (werden) wie der Zugang zu Bedeutungs- und Gebrauchskontext« der Artefakte und diese in einen neuen, westlichen Kontext gestellt werden. Sie zeigt dies insbesondere anhand der von Felix von Luschan initiierten Erwerbung des Throns des kamerunischen Königs Nyoja, der 1908 nach Deutschland kam. Nathalie Scholz (dieser Band) beschäftigt sich mit wissenschaftlicher Museumsarbeit, der Forschung an Museen und Forschungsmuseen. Sie verweist auf aktuelle Förderungsmöglichkeiten und entsprechende Studiengänge in Deutschland und zeigt, dass das Museumsstudium an die Universität zurückgekehrt ist. Constanze Dupont (dieser Band) verbindet in ihrem Beitrag zu den Storyboards in Palau eigene Feldforschung mit historischer Ethnologie und Museumsarbeit und demonstriert, wie Storyboards auch in der europäischen Kunst ihren Niederschlag gefunden haben. Die Frage von Ethnologie und Kunst bzw. Kunstgeschichte durchziehen auch die Beiträge von Sebastian Hainsch und Michael Kraus. Hainsch (dieser Band) beschäftigt sich mit der Frage indigener Kunst, insbesondere Zeichnungen, und argumentiert, dass diese innerhalb der Kunstgeschichte keinen Raum finden. Er verweist, wie viele andere in diesem Band, auf die zwei bedeutenden Bände ›Die Mythen sehen‹ und setzt sich mit den kunstethnologischen Arbeiten Münzels auseinander. 21

Während sich die ethnologischen Museen mit Bestrebungen auseinandersetzen, die ihre zunehmende Transformation in Kunstmuseen intendieren, appelliert Hainsch in diesem Sinne für eine zumindest partielle Ethnologisierung der Kunstmuseen, indem er die Abwesenheit des Kontextes in Kunstmuseen kritisiert. Schließlich setzt sich Michael Kraus (dieser Band) anhand eines Erlebnisses in der Ausstellung ›Begegnungen/Encounters‹ im Semperbau Dresden mit der Gegenüberstellung ethnographischer Objekte und klassischer Gemälde und den Reaktionen, die diese auslösten, auseinander. Dabei spielt die Frage der Hierarchisierung von klassischer Kunst und ethnographischen Objekten, die Inklusion und Exklusion fremder Objekte eine zentrale Rolle. Er appelliert mit Münzel das Fremde zu akzeptieren, auch wenn man nicht alles verstehen könne. Mir scheint, dass diese kreative Unangepasstheit mehr ist als eine persönliche Note und eine Eigenschaft guter Ethnographen. Mark Münzel repräsentiert damit mit Anderen eine Generation der deutschsprachigen Ethnologie, die von den politischen Debatten und studentischen Protesten der 1960er Jahre beeinflusst war. Diese haben sich an einer alten Form des Fachverständnisses abgearbeitet, mit Neuem experimentiert und sich um die Etablierung einer anderen deutschsprachigen Nachkriegsethnologie verdient gemacht. In Marburg hat Mark Münzel nach den tiefen Verwerfungen Nachtigalls mit dem Fachbereich das Verhältnis zu den anderen Fächern, insbesondere der Politikwissenschaft und Soziologie wieder normalisiert. Diese Fächer waren lange durch die Wirkungen und Nachwirkungen der Marburger Abendroth-Schule, die Nachtigall, ebenso wie den Wandel der Universitäten weg von der Ordinarienuniversität, oder die entstehenden Ansätze zur Neuausrichtung des Faches politisch bekämpfte. Wie Bettina E. Schmidt, die unter Nachtigall studiert hatte und in der völkerkundlichen Sammlung arbeitete, schreibt, wurde sie durch Münzel »mit einer Wissenschaft konfrontiert, die fremdartiger zu meinem im Studium erarbeiteten Wissen gar nicht sein konnte« und die sich deutlich von der bis dahin gepflegten »äußerst phantasiearmen Ethnologie … ohne theoretische Anregungen« abgrenzte und über den Tellerrand blicken wollte (Schmidt 2003: 9). Mark Münzel ist zweifellos einer, der mit seinem Wirken die Geschichte und den spezifischen Charakter der Ethnologie in Deutschland in den letzten fünf Jahrzehnten nachhaltig geprägt hat. Sein Engagement für indigene Gruppen und seine Positionierung gegen vorschnelle Verallgemeinerungen

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und die Unterordnung ethnographischer Erfahrungen unter westliche Moden und Theorieströmungen sind zentrale und bleibende Errungenschaften, die es immer wieder neu zu aktivieren gilt, auch für theoretische Versuche heute, die über das Partikuläre, Relativistische, Individuelle und Unabgeschlossene hinausgehen. Ich möchte Ihnen, lieber Herr Münzel, im Namen unseres Fachgebiets und Instituts, welches Sie zusammen mit dem damaligen Vertreter der Religionswissenschaft, Herrn Pye, gegründet haben, ganz herzlich zum 75. Geburtstag gratulieren. Mit diesen Wünschen verbindet sich nicht nur persönliche Wertschätzung und Dank, sondern auch die Hoffnung, dass Sie das Marburger Fachgebiet noch lange dazu anhalten, verführen und inspirieren werden, über den Tellerrand zu blicken. Literatur Bartolome, Miguel Alberto, Guillermo Bonfil Batalla, Victor Daniel Bonilla, Gonzalo Castillo Cardenas, Miguel Chase Sardi und Georg Grunberg 1971. The Declaration of Barbados: For the Liberation of the Indians. Current Anthropology 14 (3), 267-270. Dostal, Walter (Hg.) 1972. The Situation of the Indian in South America. Geneva: World Council of Churches. Hitchcock, Robert K., Charles Flowerday und Thomas E. Koperski 2011. The Ache of Paraguay and Other ›Isolated‹ Latin American Indigenous peoples: Genocide or Ethnocide? In: Samuel Totten und Robert K. Hitchcock (Hg.) Genocide of Indigenous Peoples. New Brunswick: Transaction Publication, 173-195. Hitchcock, Robert K., Charles Flowerday und W. A. Babchuk 2017. The Case of the Aché: the Genocide Debate Continues Unabated. In: S. Totten, H. Theriault und E. von Joeden-Forgey (Hg.) Controversies in the Field of Genocide Studies. London: Taylor & Francis, 3-44. IWGIA (Hg.) 2008. Los Aché del Paraguay: Discusión de un Genocidio. Kopenhagen: IWGIA. Jaulin, Robert (Hg.) 1972. L’ethnocide à travers les Amériques : Textes et documents. Paris: Fayard. ―― 1970. La paix blanche: Introduction à l’ethnocide. Paris: Seuil. Kelm, Heinz und Mark Münzel 1974. Herrscher und Untertanen: Indianer in Perú. Frankfurt am Main: Museum für Völkerkunde. 23

Kraus, Michael und Mark Münzel (Hg.) 2000. Zur Beziehung zwischen Universität und Museum in der Ethnologie. Marburg: Curupira. ―― (Hg.) 2003. Museum und Universität in der Ethnologie. Marburg: Curupira. Münzel, Mark (Hg.) 1978. Die indianische Verweigerung: Lateinamerikas Ureinwohner zwischen Ausrottung und Selbstbestimmung. Reinbek: Rowohlt. ―― (Hg.) 1988. Die Mythen sehen: Bilder und Zeichen vom Amazonas. Frankfurt am Main: Museum für Völkerkunde. ―― 1971. Medizinmannwesen und Geistervorstellungen bei den Kamayura (Alto Xingú-Brasilien). Wiesbaden: Steiner. ―― 1973a. Erzählungen der Kamayurá. Alto Xingú, Brasilien. Köln: Köppe. ―― 1973b. The Aché Indians: Genocide in Paraguay. Kopenhagen: IWGIA. ―― 1980. Aktions-Ethnologie: Sich verstecken hinter dem abstrakten Gesamtbetroffenen. Ethnologische Absichten 6, 61-66. ―― 1983. Gejagte Jäger: Aché und Mbia-Indianer in Südamerika, Teil 1. Museum für Völkerkunde: Frankfurt am Main. ―― 1985. Genozid, Ethnozid und Ethnologische Forschung: Die Aché in Ostparaguay. In: Hans Fischer (Hg.) Feldforschungen: Berichte zur Einführung in Probleme und Methoden. Berlin: Reimer, 143-160. ―― 1989. Über den Tellerrand schauen: ein Gespräch mit Mark Münzel. Trickster 7, 46-57. ―― 1993. Traditionsbruch als Tradition. Indianisches in der indianischen ethnischen Bewegung Brasiliens. Ibero-Amerikanisches Archiv NF 19 (3-4), 243-270. ―― 1994. Geisterkultur: Sind nun auch noch die Mythen postmodern? In: Birgit Scharlau (Hg.) Lateinamerika denken: Kultur-theoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen: G. Narr, 266-277. ―― 2000. Performance: Braves Theater oder Ausbruch des NichtMeßbaren? Paideuma 46, 301-312. ―― 2003. Die ethnologische ›Museumsdebatte‹. In: Dieter Kramer, Mark Münzel, Eva Raabe und Mona Suhrbier (Hg.) Missio, Message und Museum: Festschrift für Josef Franz Thiel zum 70. Geburtstag. Frankfurt am Main: Lembeck, 35-44. ―― 2008. Prólogo: 35 años despues. In: IWGIA (Hg.) Los Aché del Paraguay: Discusión de un Genocidio. Kopenhagen: IWGIA, 7-18.

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―― 2016. Vom Mythos der Altentötung – Verallgemeinerungen aus Südamerika. In: Andreas Kruse, Harm-Peer Zimmermann und Thomas Rentsch (Hg.) Kulturen des Alterns: Plädoyers für ein gutes Leben bis ins hohe Alter. Frankfurt am Main: Campus, 49-61. ―― 2017. Jaguar und Wildschwein, eine Fabel für Menschen oder: Der Aufstieg des Jaguars zum Himmel, ein Karriereleitfaden für Wissenschaftler. GISCA Occasional Paper Series (9), 1-32. Scharlau, Birgit und Mark Münzel 1986. Qellqay: Mündliche Kultur und Schrifttradition bei Indianern Lateinamerikas. Frankfurt am Main: Campus. Schmidt, Bettina E. et al. (Hg.) 2003. Wilde Denker: Unordnung und Erkenntnis auf dem Tellerrand der Ethnologie. Festschrift für Mark Münzel zum 60. Geburtstag. Marburg: Curupira. Schmidt, Bettina E. und Mark Münzel (Hg.) 1998. Ethnologie und Inszenierung: Ansätze zur Theaterethnologie. Marburg: Curupira. Weber, Gaby 2016. Die ›angebliche‹ Indianerverfolgung in Paraguay- Aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes: Rundfunk-Feature (Deutschlandfunk: Hintergrund Kultur, Redaktion Karin Beindorff, 26.04.2016). http://www.deutschlandfunk.de/die-angebliche-indianerverfolgung-inparaguay-aus-dem.media.b822f1d5820dde11dab237c46a429cd1.pdf (17.03.2018). Wilk, Richard 2018. ›The Tribe that Eats Its Ancestors.‹ Anthropology News 16.02.2018, http://www.anthropology-news.org/ index.php/2018/02/16/the-tribe-that-eats-its-ancestors/(16.03.2018).

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Bernhard Streck

Mark Münzel als Mythologe Eine Laudatio Um der von mir erwarteten Laudatio1 einen etwas rituelleren Rahmen zu geben, beginne ich mit Wilhelm Raabes laus regis aus dem Roman ›Abu Telfan‹ von 1868: Wenn der König von Serendib auf seinem weißen Elefanten ausreitet, so ruft der vor ihm sitzende Hofmarschall von Zeit zu Zeit mit lauter Stimme: Dies ist der große Monarch, der mächtige und furchtbare Sultan von Indien, welcher größer ist, als der große Salomon und der große Maharadscha waren! – Worauf der hinter Seiner Majestät hockende erste Kammerherr ruft: Dieser so große und mächtige Monarch muß sterben, muß sterben, muß sterben! – Und der Chor des Volkes antwortet: Gelobt sei Der, der da lebt und nie stirbt! (Raabe o.J.: 202) Unsterblichkeit ist es, was die Fan-Gemeinde auch von Mark Münzel erwartet und der er aber so wenig wie der König von Serendib entsprechen kann. Während aber diesem seine Höflinge die Widersprüchlichkeit seiner Existenz immer aufs Neue einzutrichtern versuchen, bis sie – zumindest in den Ländern des heiligen Regizids – auch noch Hand an ihn legen, scheint unser Jubilar durch sein hier zu würdigendes Oeuvre in eigener Person seine Unglaubhaftigkeit erläutert zu haben – gleichsam in der Doppelrolle des vor wie hinter sich selbst sitzenden Kammerdieners. Sicher konnte dies nur im Lichte der ältesten Wahrheit, die in Mythen verpackt zu sein pflegt, gelingen. Der kundige Umgang mit diesen in allen Räumen und Zeiten herumgereichten Wunderpaketen ist m. E. der wichtigste Ertrag aus Mark 1

Dieser Vortrag wurde während einer Feierstunde in der Alten Aula der PhilippsUniversität Marburg anlässlich des 70. Geburtstages von Mark Münzel am 3. Mai 2013 gehalten.

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Münzels mehrere Dekaden umfassendem Lehrprogramm. Deswegen möchte ich die Lebensleistung des Siebzigjährigen im Fokus auf die Mythologie in der Ethnologie herausarbeiten, ohne damit die zahlreichen anderen Konturen seines reichen Profils auch nur ansatzweise abwerten zu wollen. Eine Laudatio dieses Ethnologen, der von 1989 bis 2008 den Lehrstuhl für Völkerkunde an der Philipps-Universität Marburg innehatte und sich selbst in der Nachfolge Hans Stadens, des ersten hessischen Teilnehmenden Beobachters unter Tupi-Indianern verstand, hätte auch mit dem seit 1968 zum Jungethnologen dazugehörenden ›Tiermondisme‹ versucht werden können, oder mit dem allen Regenwaldforschern seit Dekaden in zunehmender Dringlichkeit aufgetragenen Ökologismus, oder mit der modernen indigenistischen Bürgerrechtsbewegung für jene Kleingruppen, die oft nur zwischen Genozid, Ökozid und Suizid zu wählen haben, oder der Verteidigung der museumsethnologischen Position gegen die alles verschlingende Kunstmoderne, oder dem hispanologischen und romanistischen Einspruch gegen die sich Globalismus nennende Anglophonie – alles Arbeitsfelder, auf denen sich Mark Münzel große Verdienste erworben hat. Dabei sind seine Leistungen als Ausstellungsmacher – ich erinnere an ›Herrscher und Untertanen‹ (Kelm und Münzel 1974) oder ›Die Mythen Sehen. Bilder und Zeichen vom Amazonas‹ (1988) –, als Organisator von Wissenschaftlertreffen – ich nenne nur die ›Dammmühle‹ oder die Amöneburger Zusammenkünfte – oder als langjähriger Schatzmeister der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde, für die er 2011 die Ehrenmitgliedschaft verliehen bekam (Kohl und Zinser 2012), noch gar nicht erwähnt worden. Stattdessen habe ich mir nun vorgenommen, mit der Mythologie ein für modern Denkende recht marginal oder zumindest umstritten erscheinendes Forschungsgebiet zu beleuchten und dazu auch noch von Mark Münzel, dem polyglotten, antiautoritären Kritiker von Kolonialismus, Neo-Kolonialismus und Genozid eine Rechtfertigung zu holen. Unser Fach hat nach oberflächlichen Schätzungen in den letzten Dekaden etwa acht verschiedene turns mitgemacht, möchte sich also mit fast selbstmörderischer Entschlossenheit immer noch zur Avantgarde der Geisteswissenschaften rechnen; warum nun mit der Mythologie die Völkerkunde – zum Anlass des 70. Geburtstags eines seiner bedeutendsten Vertreter im heutigen Europa – an die romantischen Verstrickungen erinnern, die es im 19. und 20. Jahrhundert, insbesondere in Mittel- und Osteuropa allzu lange gefangen 28

hielt? Doch gehört Mark Münzel wirklich zu den Ursprungssuchern, die den Mythos als Bastion gegen die Innovationsströme der Geschichte verteidigten oder, wie zuletzt Kurt Hübner (1985), nach der Ontologie außerhalb des cartesianischen Denkens fragen? Einer der letzten turns, die die Ethnologiespitze herumgerissen haben, war der Dekonstruktivismus im Anschluss an Jacques Derrida (1930-2004). Danach konnten auch die völkerkundlichen Essenzen wie Stamm, Subsistenz oder eben Mythos kaum noch Plausibilität beanspruchen – alles war konstruiert und zerfiel rasch unter dem Lichtkegel rationaler Kritik. Jeder Mythos – ob in heiligen Schriften wiederholt, im politischen Kampf auf Fahnen geschrieben oder auf spannende Weise am Lagerfeuer erzählt – hat im modernen Denken – sehen wir von seinem Unterhaltungswert ab – nur als Aufforderung zur Entmythologisierung einen Platz. Das Klinikum Münster bietet heute im Internet allen Substanzträgern Aufklärung an über ›Mythen und Fakten der Organ- und Gewebespende‹,2 und Mark Münzel selbst, unser gefeierter Jubilar, benutzt das undefinierbare Wort bald im überkommenen Sinne als Gattungsbegriff für Ursprungsgeschichten, bald als griffiges Synonym für interessegeleitete Konstrukte und Ideologien, wenn er sich etwa – wie 1993 im Ibero-Amerikanischen Archiv – den »Mythos vom Inkakollektivismus« (1993: 261) vornimmt. * Bevor ich den »heiligen Widerspruch« (Streck 2013) als Kern der Münzel‘schen Mythologie verrate, erlauben Sie mir einen kleinen Schwenk über die Stationen, die das mythologische Fragen in der Ethnologie und dann besonders in der wissenschaftlichen Biographie unseres Jubilars ausgemacht hat. Bekannt sind die großen Mythologen der Romantik, die den im 18. Jahrhundert durchgesetzten Blick nach vorn und zum Fortschritt wieder zurückzuwenden versuchten – sicher zu einem guten Teil aus Angst vor umfassendem Substanzverlust beim definitiven Untergang des Alten Reichs, aber auch aus Enttäuschung über die herrschenden Welterklärungen alter und neuer Provenienz. Die Mythologie eines Görres, Creuzer, Mone, Bachofen etc. war immer auch antiskriptualistisch, und nicht von 2

Siehe http://www.Klinikum.uni-muenster.de/organspende/Themenimfokus/ mythenundfakten/index.php (März 2013, Seite heute nicht mehr verfügbar).

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ungefähr setzte mit ihnen auch die Bibelkritik ein, die die Differenz zwischen kritischem Expertenwissen und naiver Gemeindegläubigkeit bis hin zum von Nietzsche wie Adorno angeprangerten Priestertrug ausweitete. Im 19. Jahrhundert begann die Erschütterung der abendländisch-christlichen Selbstgewissheit zunächst durch die Entdeckungen einer bodenständigen Mythologie – z. B. durch die Brüder Grimm, später durch Forscher wie Wilhelm Mannhardt – dann bald auch durch die Übersetzungen außereuropäischer Mythenwerke – wie etwa in den berühmten ›Sacred Books of the East‹ des Schelling-Schülers Friedrich Max Müller (1823-1900) oder der Öffnung umfangreicher Keilschriftbibliotheken durch ›Babylonisten‹ wie Hugo Winkler oder Friedrich Delitzsch, die die um Jahrtausende älteren Vorlagen für unsere Heilige Schrift im Sande liegen fanden (Streck 2003). Zuletzt traten diesem antiaufklärerischen Aufklärerchor die Ethnologen bei, die den primitiven, weil schriftlosen Völkern zuzuhören lernten und nochmals eine neue Qualität des Weltwissens außerhalb der geistesgeschichtlichen Magistrale in die Diskussion brachten. Um die Wende zum 20. Jahrhundert war die mythologische Datenbank der Ethnologie bereits derart angewachsen, dass man sich heftige Debatten um die Deutung leisten konnte, etwa um die Priorität der Sonne- oder Mond-Mythologie oder die Verbreitungsgebiete der für heilig geachteten Zahlen. Die Auseinandersetzungen in der frühen Ethnologie zwischen Parallelisten und Diffusionisten wurden nicht nur an Hand von Artefakten wie Masken oder Waffen geführt, immer auch waren kosmologische Geschichten im Spiel von der Art, wie sie etwa die von Mark Münzel bei den Kaborí in Nordwestbrasilien aufgenommene Sonnenmythe darstellt: Danach trennten sich die verfeindeten Urzwillinge in die Richtungen flussaufwärts und flussabwärts und bewarfen sich fortan abwechselnd mit dem Sonnenball (Münzel 1974). Für die erste Kapazität auf dem Gebiet der vergleichenden Indianermythologie Paul Ehrenreich (1855-1914) wäre das ein sicherer Beleg für die weltweit verbreitete Astralmythologie gewesen, als deren Basis die Naturbeobachtung des vorwissenschaftlichen Menschen angenommen wurde (Ehrenreich 1910). Für die sich von der naturmythologischen Schule absetzende kulturmorphologische Mytheninterpretation wären die kugelstoßenden Urbrüder eine Zerfallsform der ursprünglichen Ergriffenheit durch das Selbstopfer der untergehenden Sonne gewesen (Jensen 1951). In der strukturalistischen Mythendeutung des Claude LéviStrauss (1964-71), dem unser Honoratus ebenfalls viel verdankt, wäre die Geschichte ein Beleg für das universal verbreitete Denken in Oppositionen 30

gewesen. Wir sehen, wie eine einfache Indianererzählung ganze Forschergenerationen in Atem und den Rhythmus aus These und Antithese im Fluss halten konnte. Für Mark Münzel ist die Mythologie die Seele der ethnologischen Wissenschaftsdisziplin, und er verachtet Strömungen, die sich davon entfernt haben wie die deutsche Ethnosoziologie, die in Nacheiferung der britischen Sozialanthropologie Mythen allenfalls als Hilfskonstruktionen beim Verständnis der Sozialstruktur zulassen können. In diesen rationalistischen Denkschulen der Ethnologie müsse man – wie im wissenschaftlichen Denken generell geboten – eine Unterscheidung treffen zwischen »mythisch« und »richtig«, finde also keinen Zugang zur »Wahrheit des Mythos«, wie sie für den Mythenerzähler wie für dessen unwissenschaftliche Zuhörer Geltung besitzen muss (Münzel 1991). Welcher wissenschaftliche Zugang aber bleibt, wenn die Mythe nicht entmythologisiert, die Maske nicht demaskiert und der Heiligenschein nicht säkularisiert werden soll? Darüber kann allein die Forschung Auskunft geben, und diese findet für Ethnologen bekanntlich im Felde statt. Man hat diesen Lernort mit der Buschschule der Initianden oder der bis ans Mark gehenden Krankheit während der Schamanenberufung verglichen. Der Proband – in unserem Falle der Doktorand Mark Münzel – verliert an dem fernen Ort – es handelte sich um ein Reservat am oberen Xingu in Brasilien – alle mitgebrachten Qualitäten – zum Teil hat man sie ihm nachts aus der Reisetasche gestohlen – und erhält dafür neue, z. B. Mythen. Durch seine Ausbildung im Bannkreis des Frankfurter Frobenius-Instituts, wo vor und nach dem 2. Weltkrieg die profilierteste Mythologie unter allen deutschsprachigen ethnologischen Schulen aufblühte und wo im Werk Karin Hissinks bei den Takana im bolivianischen Tiefland exemplarisch vorgeführt worden war (Hissink und Hahn 1961), wie die Mythologie einer indianischen Stammesgesellschaft als Grundlage ihres Weltverständnisses ausgedeutet werden kann, war unser Mythensammler auf seine Aufgabe bestens vorbereitet. Die Kamayurá, wie die Leute in dem damals 113 Seelen zählenden Dorf seiner Gastgeber genannt werden, hätten mit ihren dem Forscher mitgeteilten ›Bruchstücken‹ einen bedeutsamen Beitrag – wenn nicht gar zu einer Weltmythologie – so doch zur Rekonstruktion ihres durch koloniale Landnahme, Vertreibung, Dezimierung und Reservatierung zertrümmerten eigenen Weltbildes leisten können. Doch gaben das die ihm angebotenen Scherben offensichtlich nicht her, und Mark Münzel begann zu zweifeln, ob es sich bei den fleißig aufgenommenen Erzählungen überhaupt um 31

Scherben handelt, die der Forscher nach den Regeln der Museumskuratoren zu reinigen, vorsichtig mit Klebstoff zu versehen und zu einem Ganzen zusammenzufügen habe. Außerdem hatte Münzel bei seinen Forschungsaufenthalten 1967 und 1968 noch die Schreie der Studentenbewegung im Ohr, man solle kaputt machen, was einen selbst kaputt mache. Wozu also Scherben wieder ganz machen? Die Mythen der Kamayurá wurden für den Ethnologen trotzdem zu einer Lehrsammlung, wenn auch nicht im kulturmorphologischen Sinne einer Rekonstruktionsaufgabe. Diese Suche nach ›wabernden‹ Ursuppen, Urtexten, Ursprüngen und Urformen hat Münzel immer abgelehnt. Sie funktionalisiere die Informanten zu Datenträgern bzw. -überbringern und die Autorität läge allein beim ethnologischen ›Synthesizer‹, der oft nostalgische Interessen verfolge bzw. für eigene Beschädigungen durch den Zeitgeist der Moderne Heilung im Fremden suche. Insofern bedeutete Münzels Mythologie einen radikalen Bruch mit den oben angesprochen traditionsreichen Schulmythologien, auch wenn deren Vertreter Münzel immer noch lieber waren als die Technokraten, Soziologen und Politologen, die sich im Fach immer mehr breitmachten und über mündlich tradierte Erzählungen eigentlich nur noch schmunzeln konnten. Mark Münzel hingegen ließ sich im Laufe seiner anschließenden Karriere von den 1973 als Buch erschienenen Kamayurá-Mythen wie von einem Vademecum begleiten, das ihm immer neue Rätsel aufgab und ihn zu immer neuen Deutungen anregte. Waren es Ende der 1960er Jahre noch die antiautoritären Motive, also die »Verherrlichung des Ungehorsams« (Münzel 1973: 5), wie er sich in der Einleitung ausdrückte, kam in den 1970 Jahren die Entdeckung der freien Phantasie dazu. Bald halfen auch Odo Marquard und Hans Blumenberg beim Verständnis des dokumentierten Sinnwirrwarrs. Der Polymythiker Marquard versprach: »Wer polymythisch…an vielen Geschichten teilnimmt, hat durch die jeweils eine Geschichte Freiheit von der jeweils anderen et vice versa« (Marquard 1991: 98). Und von Blumenberg übernahm Münzel die Unterscheidung zwischen Arbeit des Mythos, die immer Verwirrung stifte, und Arbeit am Mythos, die sinnstiftend wirke (Blumenberg 1979). In den 1990er Jahren kam schließlich noch der brasilianische Ethnologe Tullio Maranhão (1992) dazu, der die mythische Erzählung als »Gegenmittel zum Totalitarismus des Textes« pries und für die Arbeit am Mythos an die homerische Penelope erinnerte, die nachts wieder auftrennte, was sie im Tage zusammengewoben hatte.

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Damit war Münzels Mythologie postmodern geworden; das Verwandlungsspiel der Erzählungen war nur noch in seiner Relativität ernst zu nehmen und taugte nicht mehr als unverrückbarer Wertekanon, wie er von der »neomythischen Kehre« eingefordert wurde – so nannte Münzel (1994) die Wiederentdeckung einer fundamentalistischen Wahrheit des Mythos durch »Erfahrungsfreaks«, »Neoschamanen« und »Stadtindianer«. Wenn Wahrheit im Mythos liege, sei es der Widerspruch, die Verwandel- und Verwechselbarkeit, die Mehrdeutigkeit, das Zwielicht – oder wie die Attribute dieser von Mark Münzel zum ersten Mal in die Ethnologie eingebrachte Ernte der Polysemie auch genannt werden könnten. Sie stünden für Reichtum, Sinnreichtum und straften alle angeblich festen Wertigkeiten Lüge. Aus den Mythen, so Mark Münzel nach 45 Jahren Mythenforschung, lerne man die Kunst der Umwertungen, nicht aber, wie die alten Mythologen meinten, der Grundwertungen, und auch nicht, wie die Sozialtechniker meinten, der Verwertungen. Verkehrte Welten – man denke an unsere Fasnachtsbräuche –, mit denen Funktionalisten die richtige Ordnung gefestigt sehen und Traditionalisten die Warnung vor Verfehlungen verbinden, sind für Münzel praktischer Wertrelativismus. In seinem wichtigen Aufsatz über ›Geisterkultur‹ von 1994 schreibt er: »Die umgekehrten Welten der Amazonas-Indianer sind kein Irrtum, sondern andere Wahrheit und unterscheiden sich dadurch grundsätzlich von unserer Verkehrten Welt« (1994: 271). Für Auffassungen wie die, dass die Menschen im ›Jenseits‹ Untiere sind und die Untiere Menschen, gibt es im indianischen Welterleben sicherlich natürliche Vorbilder. Schon Karl von den Steinen, einer der großen Vorgänger und Vorbilder Mark Münzels in Brasilien, hatte die Verwandlung der Raupe zum Schmetterling als Denkvorgabe herausgestellt, so wie der heutige Interpret der »silvanischen Philosophie«, der Brasilianer Viveiros de Castro (1992) das raubtierhafte Auffressen und Einverleiben des Opfers als Leitmotiv der »gejagten Jäger« deutet. Die Natur und ihre greifende – begreifende wie ergreifende – Wahrnehmung liefern aber nicht nur die allseitige Verwandlung als vielseitig verwendbares Motto, sondern auch deren Rhythmus. Münzel spricht von »oszillierender Identität« bei den mythischen Gestalten. In der Festschrift für seine romanistische Kollegin in Frankfurt, Birgit Scharlau, schreibt er: »So oszillieren die Identitäten der Figuren der Geschichte ständig zwischen Freund und Feind, zwischen wild und friedlich, zwischen verspielter Großkatze und bösem Raubtier, je nachdem, wer spricht, und warum« (Münzel 2004: 117).

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Sprecher, Absicht und Umstand sind für die jeweils relevante Wahrheit, bzw. die situationale Wahrheit verantwortlich in diesem discours circonstanciel, wie der Schweizer Romanist Paul Zumthor (1983) die mündliche Kultur bezeichnet hat. Die wissenschaftliche Antwort darauf kann nach Mark Münzel nicht die Reduktion auf Essenzen oder Ausklammerung störender Elemente sein, sondern die Erweiterung des Blickwinkels in Richtung Perspektivismus und Situationismus. Ein Lehrstück dafür war in vielen Indianerethnographien der Tränengruß, der schon Hans Staden irritiert hatte und bei dem sich der Begrüßende zuerst emotional ausschüttet, um unmittelbar danach in eine normale Unterhaltung überzuwechseln (Münzel 2009). Abrupte Verwandlungen und rascher Maskenwechsel sind nach Mark Münzel die Charakteristika der Kommunikation mythengeleiteter Gesellschaften. Begreifen lässt sich das aber nur, wenn man sich von der Ursprungssuche ebenso befreit hat wie vom Leitprinzip der ›vernünftigen Gesellschaft‹, die, wie in der Durkheim-Schule herausgearbeitet wurde, auf Dauer nur das Nützliche zulässt. In der Mythologie schlägt sich nach Münzel aber die Defizienz der gesamten Schöpfung nieder. Die Schöpferheroen Kwat und Yau, die die Kamayurá als Sonne und Mond begrüßen, können sich nicht auf der Feststellung des biblischen Creators ausruhen, von dem die Genesis erzählt: »Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe da, es war sehr gut«. Kwat und Yau scheiterten mit vielem, was sie vorhatten. Die Beweglichkeit des ›Firmaments‹ selbst zeigt überdeutlich, dass die Dinge noch nicht ihren endgültigen Ort gefunden haben, und die Unzulänglichkeit der Urzeittaten schlägt sich nach Münzel (1971: 219) auch in der »Tragik des mythischen Geschehens« nieder, wie immer dieses auch phantastisch ausgemalt werde.3 Wenn Mythos keine Ordnung mehr anmahnt oder affirmiert, werden Mythenkritik oder Entmythologisierung schwierig. Die von Münzel bei den Kamayurá aufgenommenen Mythen sind nicht abgefragt, sind nicht mit der Motivation der Abrundung eines konsistenten Bestands gesammelt und sind nicht nach den Kriterien der Plausibilität gesichtet worden. Vielmehr wurden sie vom Ethnographen zur freien Poesie erhoben und erhielten damit ihren Wert in sich. Wie die Ethnologie eine Zeit lang brauchte, bis sie jede Kultur als nur aus sich heraus beurteilbar anerkennen konnte –

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Zum Verhältnis zwischen perfekter und verdorbener Schöpfung siehe besonders Kap IV in Streck (2013).

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ungeachtet ihrer einleuchtenden Einstufung nach ethischen, zivilisatorischen oder früher auch biologischen Kriterien – hat Münzel die Mythologie unter großen Anstrengungen von ihren mannigfachen Befangenheiten reinigen können und zur Kunst erhoben. Wohl gemerkt, geht es nicht mehr um »d e n Mythos« im Sinne des italienischen Kulturmorphologen Raffaele Pettazoni (1950), der ihn im 2. Weltkrieg schwinden sah zusammen mit dem alten Glauben, und es geht auch nicht mehr um die Mythologie eines Stammes als deren Verfassung oder Charta, wie Malinowski (1986) nach dem 1. Weltkrieg lehrte, sondern es geht Mark Münzel um Mythen im Plural, die von begabten Erzählern ad hoc gedichtet werden und damit Zeugnis ablegen von ihrer Kunst, »mit Widersprüchen zu leben« (Münzel 1978: 12). * Münzel beginnt seine Interpretation der Kamayurá-Mythen mit dem bekannten Frobenius-Zitat aus der Kulturgeschichte Afrikas von 1933: »Das Leben selbst ist ja Dichtung – höchste Dichtung, aber nicht mitteilbare Dichtung« (1954: 247). Warum aber ist diese Dichtkunst nicht mitteilbar? Die Antwort auf diese Grundfrage ethnologischer Forschung durchzieht seine 330 Schreibmaschinenseiten umfassende Dissertation, die genannte umfangreiche Mythensammlung selbst sowie sein im Jahre 2002 schon auf 176 Titel angewachsenes Gesamtwerk. Im Grunde geht es allein um den richtigen Umgang mit Widersprüchen. Die Fachgeschichte hatte dazu immer neue Rezepte vorgelegt; in der französischen Tradition sprachen LévyBruhl von ›Prälogik‹ und Lévi-Strauss von ›Grundlogik‹. Diese sei dazu auch noch unbewusst. In der deutschen Kulturmorphologie, vor allem bei Adolf Ellegard Jensen galt der Sinnzusammenhang als vergessen. Zurück bleibe Sinnleere oder Unsinn. Aufgabe des Ethnologen sei es, Bruchstücke zu einem Ganzen zu rekonstruieren. Welche Antwort findet Münzel selbst? Die Widersprüchlichkeit der Mythologie entspringe der Autonomie der Erzähler. Gerade in mündlichen Gesellschaften ohne theologische oder gar wissenschaftliche Leitung ist nämlich jeder für seine Worte selbst verantwortlich. Es regiert der subjektive Sinn. In Ermangelung von Absprachen und verbindlichen Vorlagen erscheine das Resultat zwangsläufig chaotisch.

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›Wildes Denken‹ ist für Mark Münzel also keine geistige Kapazitätsfrage, wie bei Rassisten (in unheilbarer Weise) und bei Pädagogen (mit Korrekturchancen), sondern eine Organisationsfrage des Geistes – dies aber weniger im strukturalistischen Sinne, wo die Denkoperationen unabhängig von Sinn und Motivation nach basalen Mustern erfolgen, sondern in einem sehr pragmatisch gesellschaftlichen Sinn: Wo alle berufen sind, redet man durcheinander. Was all diesen authentischen Aussagen gemeinsam ist, ist ihre Souveränität, ihr souveräner Umgang mit Identitäten und Kausalitäten, ganz besonders aber ihre Kreativität, da viele der aufgenommenen Geschichten sich auf Eingebungen, Träume und Visionen berufen. Hier kann keine andere Autorität Einsprüche erheben oder Vorschriften machen. Oratur-Produzenten kennen nur ihre eigenen Sprudelquellen und die Gesichter ihrer Zuhörer, unter denen das des Ethnographen vielleicht das fassungsloseste ist. Trotz der Individualität, Subjektivität und Autorität der einzelnen Erzähler finden sich in den von Mark Münzel einmal aufgenommenen und dann immer wieder von neuem untersuchten Mythen Gemeinsamkeiten, ja sogar Uniformitäten. Fast als Warnung vor subjektivistischen Übertreibungen schreibt er 2000 in der Festschrift für Klaus E. Müller: »Mythen sind kollektive Produkte, sie werden nicht gedichtet, sondern dichten sich« (2000: 212). Schließlich stehen die Informanten miteinander in Kontakt und verehren die gleichen Vorfahren; sie gehören ein und derselben Kultur an und die ist in von Mission und Zivilisation ausgesparten Teilen Südamerikas vom Verkehr zwischen Menschen und Geistern geprägt. Ich kenne keinen anderen Ethnologen, der sich nach dem 1999 verstorbenen Frobeniden Otto Zerries (1954) so ausdauernd und hartnäckig mit dem Wesen dieser Wesen beschäftigt hat wie Mark Münzel. Seit seiner nun schon 45 Jahre zurückliegenden ersten Feldforschung ist er im deutschsprachigen Fach die Geisterautorität schlechthin geworden. Wenn viele – ebenfalls religionsethnologisch interessierte – Kollegen um dieses wenig griffige Thema lieber einen Bogen machen, Mark Münzel hat sich immer in medias res begeben, auch wenn sich der dortige Nebel nicht eigentlich lichten wollte – »als sei es«, wie in Münzels Einleitung zu seiner Mythensammlung von 1973 zu lesen ist, »menschliches Schicksal, dauernd in Unklarheit zu leben« (Münzel 1973: 16). Nun konnte er aber auch nicht wie weiland Frobenius einfach die Nichtmitteilbarkeit des gehörten Wortes erklären, schon gar nicht in seiner Dissertation, die zwei Prüfern, nämlich den Professoren Eike Haberland und Wolfgang Lindig vorgelegt wurde. 36

Er musste sich also an die Übersetzungsarbeit machen und aus dem Gestrüpp der Widersprüchlichkeiten belastbare Aussagen für die Wissenschaft herausziehen. Zunächst galt es, einen akzeptablen Terminus für das populäre ›Geister‹Wort zu finden. Er wählte ›irreale Wesen‹ als Gegensatz zu den realen Wesen, die man jagen konnte. Irrealen Wesen müsse man hingegen ausweichen (wie das die eben genannten religionsethnologischen Kollegen instinktiv richtig praktizieren). Es handelt sich bei den Kamayurá um Totenseelen, um Buschgeister, dann auch Hilfsgeister und Alter-Ego-Vorstellungen. Diese ganze Geisterbevölkerung schien sich am oberen Xingu in permanenter Wallung zu befinden. Münzel schreibt: »Der Phantasie scheinen keine Grenzen gesetzt. Neuerfindungen und Variationen aus der Vorstellungskraft Einzelner werden wohl leicht von der Gemeinschaft übernommen« (Münzel Ms. [1971]: 110). Da tummeln sich sexuelle Phantasien, Visionen erscheinen im Tabakrauch, Buschseelen spürt man im Windhauch; das Gemeinsame aller irrealen Wesen scheint ihre Verwandlungsfreudigkeit zu sein: Bald sind sie so, bald anders, bald sind sie viele, bald nur einer. Die Erzähler zeigten bald Angst vor ihnen, bald spotteten sie ihrer. Schließlich glaubte Münzel aber doch, einen ›roten Faden‹ in dem Wirrwarr der Irrealität entdeckt zu haben. Ich zitiere nochmals aus der Dissertation von 1971: »Das Ungeheuer im Urwald und der Spaßmacher im Flötenhaus, der gefürchtete Menschenfresser und der dienstbereite Hilfsgeist sind, wie die Kamayurá auf Fragen ausdrücklich antworteten, identisch« (Münzel Ms. [1971]: 123). Daraus folgt für den Forscher nichts anderes, als dass sich die Menschen um die Geister bemühen, dass sie sie gewinnen möchten, dass sie sie verwandeln möchten von schrecklichen Ungeheuern in hilfreiche Freunde. Viele der aufgenommenen Erzählungen deutet Münzel als Zähmungsgeschichten, als Verwandlung vom Ungeheuer zum Geheuer. Die Keule des Urwalds wird zur Flöte im Kulthaus; der Geist der Wildnis wird auf dem Weg ins Dorf domestiziert; die wilde Kraft draußen wird zur handhabbaren Kraft im Dorf, im Versammlungshaus der Männer und im Langhaus der Familien. Warum aber ist der Weg der Geister eine Einbahnstraße? Warum erzählt man sich kaum von der Verwandlung in umgekehrter Richtung, vom freundlichen Hausgeist zum wilden Menschenfresser? Mark Münzel glaubt, dafür die Angst verantwortlich machen zu können. Mündlich vorgetragene Erzählungen sind wie Wirklichkeit, und wer möchte schon ›den Teufel an die Wand malen‹? Somit haben die Domestikationsgeschichten 37

auch eine wichtige soziale und ethische Rolle (vergleichbar vielleicht mit unserem Kriminalroman oder Kriminalfilm, in denen das Recht siegen muss), man könnte sie auch mit Beschwörungen vergleichen oder anderen Kreationen durch das Wort. Das Unkontrollierbare wird angesprochen, benannt, beschrieben und verliert damit schon seinen ersten Schrecken. Münzel glaubt, im Umgang mit feindlichen Nachbarstämmen das Modell für die Geistervorstellungen gefunden zu haben. Vor ihrer Pazifizierung im Xingu-Reservat 1961 lagen die Kamayurá in permanentem Kriegszustand mit Nachbarn. Diese kamen ins Dorf, um zu wüten. Es sei denn, es gelang, sie zu domestizieren. Dann gab es auch wieder Phasen des friedlichen Verkehrs und Austauschs, in denen die Feindseligkeit latent blieb – bis zu ihrem nächsten Ausbruch. Münzel fand noch eine andere Vorlage für die Empirie der Geister: die Malaria, die häufigste Krankheit im Amazonas-Becken, deren Anfälle kommen und gehen, was bekanntlich in dem Begriff des Wechselfiebers aufgehoben ist. Warum aber sind Geister so wütend wie Feinde und das immer wieder aufs Neue? Es sei der elementare Rache-Gedanke, der Genugtuung fordere für die Verletzungen des Waldes, des Wildes, der Fischbestände. Kopulierende Geister seien darüber hinaus eifersüchtig auf Männer (Münzel Ms. [1971]: 214). Das hervorragendste Mittel, um sich mit aus der Wildnis ins Dorf gekommenen Wut-Geistern auszusöhnen, ist nach Münzels Kamayurá-Ethnographie aber der Tanz. Auch hierin folgt der Umgang mit Geistern dem Umgang mit Fremden, die kommen, um sich der Mädchen zu bemächtigen oder um die Bewohner im Handel zu übervorteilen. Im gemeinsamen Tanz werden Differenzen abgebaut, wird ein Ausgleich angestrebt, auch wenn er nur von begrenzter Dauer ist. Für Mark Münzel ergibt sich daraus ein allgemeines Gesellschaftsgesetz: »Alles, was von außen ins Dorf kommt, soll dort zum Guten gewendet werden« (Münzel Ms. [1971]: 284), steht in seiner Dissertation. Ist das nicht auch das Ziel der Integrationspolitik moderner Industriegesellschaften – z. B. wenn der Islam ›berechenbar‹ gemacht werden soll durch deutschsprachigen Religionsunterricht? Oft findet der Ethnologe weit draußen im Feld nichts anderes als den Schlüssel zum Begreifen des Eigenen.

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* Selbstverständlich reichen die Konsequenzen der Entdeckungen, die Mark Münzel am oberen Xingu machte, weit über die Probleme unserer Tagespolitik hinaus. In den aufgenommenen Erzählungen wird eben nicht nur der Weg von der Keule zur Flöte beschrieben, sondern auch die Verwandlung des Selbst durch Verschlingung des Anderen, was Leo Frobenius, der Inspirator der älteren Frankfurter Schule, 1931 in die Worte fasste, es folge »jeder Besitzergreifung eine Ergriffenheit durch den Besitz« (1931: 113). Denselben Befund nannte Viveiros de Castro in seiner ›Urwaldphilosophie‹ auch perspectivismo amérindio und Münzel (2000) hat dafür den Terminus von der »kannibalischen Liebe« geprägt. Hier wird die Verbindung zur modernen Ethik schon recht problematisch; die Schwierigkeiten wiederholen sich bei den wohl überhaupt nicht mehr in Worte zu fassenden Mythologemen, die durch Bilder, Masken, Rituale und Mythogramme (LeroiGourhan) zum Ausdruck gebracht werden (Münzel 1988). Mythologie bleibt immer ein Rätsel, ihr ist nicht durch psychoanalytische Redekur (Münzel 1987) beizukommen und auch nicht durch anderweitig rationale Analysen. Wenn die mexikanischen Rarámuri, die Mark Münzels Studienkollege Claus Deimel über 40 Jahre studiert hat, den Himmel Spiegelbild der Erde nennen (1996: 59), klingt das auf den ersten Blick absurd. Zum Verstehen der Mythologik führt oft erst der zweite oder dritte Blick, der der langen und geduldigen Betrachtung, die dann auch die glatte Wasserfläche als Urspiegel mit einbeziehen kann, wo das Wolkenchaos inmitten der festen Erde aufscheint und damit das Unvergleichliche vergleichbar macht – in Münzels Worten »das Teil mit seinem Gegenteil« (Münzel Ms. [1971]: 179) aussöhnt. Frühere Mythologenschulen glaubten im Welthaus (Bargatzky) der ›Naturvölker‹ ein Abbild des Kosmos erblicken zu dürfen, was die Umwelt zum Vorbild, zur Lehrmeisterin und zum Reservoir erhob, aus der die Menschen Kraft schöpfen. In der strukturalistischen Mythologie wird die Umwelt zum feindlichen Ausland, das pazifiziert werden muss. In Mark Münzels Mytheninterpretation finden wir beides, Adolf Ellegard Jensen ebenso wie Claude Lévi-Strauss. Doch belässt er es nicht allein beim Pendeln zwischen diesen so unterschiedlichen Denkschulen, er prescht zwischen ihnen auch durch zu einem völlig neuen Mythenverständnis, nämlich

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dem ethnopoetischen. Der Dichter und Mythenerzähler ist nun der Schöpfergott selbst – und dieser, so dürfen wir als christlich geprägte Abendländer hinzufügen, ist eben unerforschlich (Röm. 11, 33). Widersprüchlichkeit und Polysemantik sind die Gütesiegel der Münzel‘schen Mythen. Sie sind keine Geschichten von gestern, sondern Experimente von heute, keine Trümmerlandschaften, sondern lebendige Kunstwerke, Dokumente einer – wie man zu Münzels Promotionszeit gerne dem ›großen Vorsitzenden‹ im Fernen Osten nachsprach – ›permanenten Revolution‹. Mark Münzel hat mit seiner Kamayurá-Forschung einen neuen Gesellschaftstypus entdeckt, bei dem die Individuen ständig ihre Namen ändern, unterschiedliche Masken aufsetzen, immer wieder die Gefolgschaft wechseln und ebenso kaum jemals Gruppenallianzen treu bleiben. Ihre geistige Kultur besteht aus Zitaten,4 die vielseitig verwendbar und kombinierbar sind. Wie andere Indianer leben sie »zwischen zwei Übeln« – z. B. die schon erwähnten Kaborí zwischen den Schrecklichkeiten flussabwärts und den Ungeheuerlichkeiten flussaufwärts (Münzel 1974: 302) – oder die Kamayurá »zwischen Unkultur und Überkultur« (Münzel 1973: 13) eingeklemmt, in einem schon von Lévi-Strauss so genannten »desequilibrium«. Um ihre prekäre Lage zu erläutern, unterhalten mythengeleitete Gesellschaften nach Mark Münzel Lagerhallen, in denen ›Mythen-Rohlinge‹ gestapelt sind. Bei Bedarf – etwa der Anwesenheit eines Ethnographen und Mythensammlers – werden entsprechende Rohlinge aus der Halle geholt und bearbeitet. Diese Bearbeitung fällt völlig verschieden aus, wenn der Forscher gezielt Fragen stellt, wenn ein Ritual mythisch unterbaut werden oder wenn die heranwachsende Jugend entsprechend belehrt werden muss. Denn der Mythos ist nach Münzel kein Dogma, hat wenig mit Glauben und schon gar nichts mit einem unerschütterlichen zu tun. Er ist aber beliebt, weil er formbar ist, weiter- und umerzählt werden kann. Denn Mythologie und Polytheismus sind unfertige ›Systeme‹, also eher Dauerbaustellen der Gegenwart als fertige Kathedralen aus vergangenen Zeiten oder gar Ruinen, die zum Klagen einladen.

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In ›Ente, Jaguar und Malinowskis Schatten‹ bezeichnet Münzel (2004: 112, FN 3) das Leben in Zitaten als Wanderzitat, ursprünglich nach Thomas Mann, umgedeutet von Karl Kerényi, in seiner bekanntesten Form auf den Mythos bezogen durch Pierre Grimal (1963: 8). Letzterer Ort ist Grimal (1963).

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Der Suche nach Ursprungsmythen im Sinne von Urfassungen kann der Mythologe Münzel nur ein Scheitern prophezeien. Es gibt für ihn nur Bearbeitungen, d. h. Abwandlungen, die immer auch als Domestikationen begriffen werden können. Denn der Skandal des Mythos, wie der belgische Religionsethnologe Marcel Detienne (1981) ihn bloßgestellt hat, verlangt nach Reduktion, nach Zivilisierung, nach Anpassung. Das Skandalöse am Mythenkern, den es eben nur als theoretische Abstraktion geben kann, ist aber nicht nur die schreiende Unmoral der Urzeitwesen, sondern auch die Nacktheit des Geschehens. In einem frühen Aufsatz sprach Mark Münzel sogar vom »Gedankenskelett« (Münzel 1984/85: 38), an dem die essentialistischen Mythologen allein ein Interesse gehabt hätten und dabei gerne über die wundersamen Verpackungen durch Fleisch, Haut und Bekleidung hinwegsehen wollten. Das erinnert wieder an die Kostümkunde als Wiege von Völkerkunde und Volkskunde (Streck 2006). Bunte Stoffe sind wie bunte Erzählungen elementare Formen menschlichen Ausdrucks und damit Bollwerke gegen den Rationalisierungsprozess und seine Versachlichungen oder Skelettierungen. Kultur besteht aus Umwegen, Drapierungen und Maskierungen. Die Studentin Barbara Slotta erinnerte sich in der Oberhessischen Presse vom 17. Januar 2011 an den Vorlesungsstil Mark Münzels: »Er sang, hüpfte und kommentierte«. Und ich beende meine Laudatio für meinen nunmehr greisen Freund Mark mit der Wiederholung von Wilhelm Raabes ›Laus Regis‹: Wenn der König von Serendib auf seinem weißen Elefanten ausreitet, so ruft der vor ihm sitzende Hofmarschall von Zeit zu Zeit mit lauter Stimme: Dies ist der große Monarch, der mächtige und furchtbare Sultan von Indien, welcher größer ist, als der große Salomon und der große Maharadscha waren! – Worauf der hinter Seiner Majestät hockende erste Kammerherr ruft: Dieser so große und mächtige Monarch muß sterben, muß sterben, muß sterben! – Und der Chor des Volkes antwortet: Gelobt sei Der, der da lebt und nie stirbt!

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Literatur Blumenberg, Hans 1996 [1979]. Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Deimel, Claus 1996. Híkuri ba: Peyoteriten der Tarahumara. Hannover: Niedersächsisches Landesmuseum. Detienne. Marcel 1981. L’invention de la mythologie. Paris: Gallimard. Ehrenreich, Paul 1910. Die allgemeine Mythologie und ihre ethnologischen Grundlagen. Leipzig: Hinrichs. Frobenius, Leo 1931: Die Kunst Afrikas. Der Erdball 5 (3), 85-114. ―― 1954 [1933]. Kulturgeschichte Afrikas. Prolegomena zu einer historischen Gestaltlehre. Zürich: Phaidon. Grimal, Pierre 1963. L’homme et le mythe. In: Ders. (Hg.) Mythologie de la Méditerranée au Gange (Mythologiques, Bd. 1). Paris: Larousse, 4-15. Hissink, Karin und Albert Hahn 1961. Die Tacana. Wiesbaden: Steiner Hübner, Kurt 1985. Die Wahrheit des Mythos. München: Beck. Jensen, Adolf E. 1951. Mythos und Kult bei Naturvölkern. Wiesbaden: Steiner. Kelm, Heinz und Mark Münzel 1974. Herrscher und Untertanen: Indianer in Perú 2000 v. Chr. bis heute. Frankfurt am Main: Museum für Völkerkunde. Kohl, Karl-Heinz und Hartmut Zinser 2012. Laudatio für Mark Münzel. DGV-Mitteilungen 43, 26-28. Levi-Strauss, Claude 1964-71. Mythologiques, 4 Bde. Paris: Plon. Malinowski, Bronislaw 1986 [1926]. Die Rolle des Mythos im Leben. In: Ders. Schriften zur Anthropologie. Frankfurt am Main: Syndikat, 139-143. Maranhão, Tullio 1992. Mythos: Penelopes Arbeit zwischen Mensch und Gott. In: Karl-Heinz Kohl (Hg.) Mythen im Kontext. Ethnologische Perspektiven. Frankfurt am Main: Campus, 129-146. Marquard, Odo 1991 [1981]. Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart: Reclam. Münzel, Mark [Ms.] 1971. Theorie und Praxis – Medizinmann und Religion bei den Kayamurá (Mato Grosso) [Manuskript der Dissertation von 1971 (Medizinmannwesen und Geistervorstellungen bei den Kamayurá (Alto Xingú-Brasilien). Wiesbaden: Steiner). ―― 1973. Erzählungen der Kamayura. Alto Xingu, Brasilien. Wiesbaden: Franz Steiner.

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Streck, Bernhard 2003. Babel-Bibel oder die wiederkehrende Theomachie. Paideuma 49, 61-86. ―― 2006. Wie wahrt eine Kultur ihr Gesicht? Über die Grenze zwischen Zeigen und Verbergen. In: Thomas Hengartner und Johannes Moser (Hg.) Grenzen und Differenzen. Zur Macht sozialer und kultureller Grenzziehungen. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 89-102. ―― 2013. Sterbendes Heidentum: Die Rekonstruktion der ältesten Weltreligion. Leipzig: Eudora. Viveiros de Castro, Eduardo 1992. From the Enemy’s Point of View. Humanity and Divinity in an Amazon Society. Chicago: University of Chicago Press. Zerries, Otto 1954. Wild und Buschgeister in Südamerika. Wiesbaden: Steiner. Zumthor, Paul 1983. Introduction à la Poésie Orale. Paris: Seuil.

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Karl Braun

Die Weigerung Hans Stadens, Wildschwein zu werden und die Folgen dieser Weigerung für die Marburger Völkerkunde im Allgemeinen und Mark Münzel im Besonderen Zu Mark Münzels Dienstzeiten und auch danach pflegte ein Gespenst in Marburg umzugehen: das Gespenst des Kannibalismus. Es ging um im Kugelhaus und geht auch heute noch um an mancherlei völkerkundlichem Gesprächsort.1 Alle, die Mark Münzel schätzen (oder zumindest die meisten von ihnen), fürchten das Erscheinen: dass die Rede auf den Menschenverzehr komme. Doch ist die Furcht vor diesem präsenten Thema nicht allzu stark, eher unterwirft man sich dem homo homini schnitzel 2 in Form eines karnevalistisch angehauchten Masochismus. So führt die Fokussierung auf die ›Wilden, Nacketen Grimmigen Menschenfresser Leuthe‹ (2007 [1557]), Auszug aus dem Titel Hans Stadens, meist nicht zu Beklemmung vor solcher Tat, sondern zu befreiendem Gelächter.

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Bei diesem Text handelt es sich einen Vortrag, den ich auf dem vom Förderverein ›Völkerkunde in Marburg‹ veranstalteten Nachmittag ›Beiträge zur Münzelogie – Fachsymposium über Auf-, Um-, Durch- und Ausbrüche in Biographie und Werk eines Ethnologen‹ anlässlich des 65. Geburtstag von Mark Münzel in der Alten Mensa am 3. April 2008 gehalten habe. Neuere Literatur ist nicht eingearbeitet, der Rede-Duktus weitgehend beibehalten. 2 Leider konnte ich dieses Zitat, das mir vor langer Zeit als Motto in einem Menschenverzehrbuch begegnet war, nicht mehr nachweisen. Ich hatte gedacht, dass es sich um ›Christian Spiel, Menschen essen Menschen. Eine Kulturgeschichte des Kannibalismus. München 1972‹, gehandelt habe, aber dort ist nur das Kapitel ›Homo homini Dracula‹ zu finden.

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Das ist ein erster Befund, der festgehalten werden sollte: sinistrer Kannibalismus vs. wildes Gelächter, Kirmes-Stimmung gar, ein Befund, dem ich im Fortgang in zwei Richtungen folgen will.3 Zum einen wäre zu fragen, warum Begriffe wie ›Kirmes‹ oder ›Karnevaleske‹ greifen, in deren Schlepptau – für mich wenigstens – das Dauerthema Kannibalismus immer herausgeholt, herumgezogen und auch wieder entschärft wurde; zum anderen, inwieweit das Wirken dieses ›herumspukenden Diskurselements‹ mit der ›Adoptierung‹ Hans Stadens als Gründervater der Disziplin in Marburg zusammenhängt und ob sich daraus eine spezielle Dynamik für die Geschichte der Marburger Völkerkunde entwickeln konnte. Diesen Fragestellungen will ich – als volkskundlich-ethnologischer Kollege – nachgehen. Hans Staden als Gründervater kenne ich aus zwei Versionen; aus dem Munde von Mark Münzel hörte ich sie zum ersten Mal bewusst bei der Goldenen Promotion von Werner Kallweit am 1. November 2002; eigentlich begänne, so Münzel, die Marburger Völkerkunde mit dem 1557 in Marburg erschienenen Brasilienbericht Hans Stadens. Man könnte diese Äußerung als indirektes Zitat verstehen: Durch Erlaß des Hessischen Kultusministers vom 27.8. 68 wurde das ›Völkerkundliche Seminar der Universität‹ offiziell eingerichtet und der Verf. als Direktor des Völkerkundlichen Seminars bestellt. Die Geschichte der Marburger Völkerkunde ist jedoch viel älter. Man könnte sie mit dem 1557 erschienenen Reisebericht von Hans Staden (1525-1576) 3

Titel und Rohkonzept dieses Beitrags standen und zirkulierten bereits, als ich von Mark Münzels Titel der Abschiedsvorlesung erfuhr: ›Hier kommt euer Essen gehüpft‹, Zitat aus Hans-Staden, 1. Buch, 24. Kapitel (eine Veröffentlichung dieser Vorlesung konnte ich nicht finden). Nach damaligen Rücksprachen mit Teilnehmer/innen der ›Münzelogie‹ entschied ich mich – trotz der Nähe –, beim einmal gewählten Thema zu bleiben, zum einen, weil diese Nähe eben Nähe, Verbundenheit ausdrückt, zum anderen, weil Innen- und Außensicht wohl doch nicht zur Deckung kommen würden, und weiter, weil damit der Arbeitsstil zweier gemeinsamer Seminare (›So sehen sie uns: Der Blick der Erforschten auf die Forschenden‹, WS 2006/07; ›Ethnopoesie‹, WS 2007/08) – ein Thema, zwei Stimmen – auf anderer Ebene sowohl Fortsetzung als auch Weiterentwicklung finden kann.

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über den Indianerstamm der brasilianischen Tupinamba beginnen lassen, der unter dem Titel ›Wahrhaftige Historia und beschreibung eyner Landtschaft der Wilden ...‹ in Marburg erschienen ist (Nachtigall o.J.). Horst Nachtigall, 1963 nach Marburg berufen, setzt hier, in einer Broschüre zur Präsentation der Völkerkundlichen Sammlung im renovierten Kugelhaus – Einzug am 1. Oktober 1971 –, eine doppelte Gründervaterschaft: weit zurückliegend Hans Staden, jetzt – ab 1968 – als Direktor des neu eingerichteten Völkerkundlichen Seminars er selbst, wobei er die Geschichte der Marburger Völkerkunde knapp und in ihrem Vorlauf mit Philosophie und Geographie – Theodor Waitz, Karl von den Steinen, Leonhard Schultze Jena bis zum ersten ›Fach-Völkerkundler‹ Martin Block – referiert. Horst Nachtigall hatte das Amt des Marburger ›FachVölkerkundlers‹ von 1963 bis 1968, und dann als Direktor des eigenständigen Seminars von 1968 bis 1989 inne, also immerhin ein gutes Vierteljahrhundert lang. Ihm folgte 1989 Mark Münzel, der die Marburger Südamerika-Ausrichtung samt ihrer musealen Präsentation sowohl durch breite Feldforschung bei indianischen Gruppen in Paraguay und Brasilien als auch durch seine langjährige Erfahrung (1973-1989) als Kustos am Frankfurter Museum für Völkerkunde (heute: Weltkulturen Museum) bestens gewährleisten konnte. Eine ideale Nachbesetzung also, so könnte es zumindest scheinen. Aber akademische Nachfolgen gestalten sich mitunter kompliziert, doch die hier benannte gestaltete sich (einige der Leserinnen und Leser dieser Zeilen dürften es noch wissen) besonders schwierig. Es kam zu einem unablässig und scharf geführten Kleinkrieg durch den Vorgänger gegen den Nachfolger: Schreiben, Eingaben, Pamphlete, kurz eine Sturzflut an Papier voller Vernichtungsabsicht. Martin Scharfe, seinerseits mein Vorgänger, dem diese kriegerischen Schriftstücke in Kopie ebenfalls überreicht wurden, erwehrte sich dieser Flut in einer Glosse mit dem bezeichnenden Titel ›Krächzender Nachtigall‹ (Scharfe o.J.). Aber was hat diese Amtsübergabe und der sich anschließende ›Vernichtungsfeldzug‹ mit den ›Grimmigen Menschenfresser Leuthen‹ zu tun? Mehr als man denkt, so meine These; doch dazu ist es notwendig, die Position sowohl des Platz räumenden wie des Platz einnehmenden Amtsinhabers zur Frage der Anthropophagie zu beleuchten.

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Horst Nachtigall hatte sich in der Einführung ›Völkerkunde‹ mehrfach mit dem Thema ›Kannibalismus‹ herumgeschlagen und mit kritischem Blick auf die europäische Tradition und Expansion recht apodiktisch festgestellt: Da das Töten-Wollen offenbar zu den geistigen Grundzügen der Menschen christlicher Religion gehört, scheint die Grundlage der Religion und der gesamten geistigen Haltung der europäischen Völker der Kannibalismus zu sein (Nachtigall 1974: 28). Nachtigall benutzt hier einen metaphorischen Gebrauch des Begriffs ›Kannibalismus‹, im Sinne der Kulturvernichtung oder des ›Sprachenfressens‹ durch den Kolonialismus,4 aber genauso anwendbar auf innereuropäische, scheinbar religiös motivierte ›Kreuzzüge‹ gegen Anders-Denkende. Diesem Exo-(›Feinde‹) stellt er den Endo-(›Angehörige‹) Kannibalismus gegenüber, mit der – sicher berechtigten – Frage, »ob zwischen beiden Formen überhaupt ein Zusammenhang besteht« (Nachtigall 1974: 80). Innerhalb des Endokannibalismus findet eine Differenzierung statt: Neben Sekundär- bzw. Tertiärbestattung (Trinken/Verzehr der mit welchen Verfahren auch immer hergestellten und zubereiteten Knochenasche von verstorbenen Angehörigen) findet sich auch die Altentötung, die Nachtigall so beschreibt: Man tötet die alten Menschen aus humanitären Gründen, bevor ihre Lebenskraft erschöpft ist. Man verspeist ihr Fleisch [Hervorh. d. Verf.] und übernimmt auch ihre Namen ... Dieser letztgenannte Brauch ist besonders unter südamerikanischen Urwald-Indianern verbreitet. Die vor kurzem von Hans Becher besuchten nordwest-brasilianischen Surára und Pakidái zum Beispiel kennen weder Geburts- noch Hochzeitszeremonien, sondern ihr gesamtes Zeremonialleben konzentriert sich auf die Liebe und Zuneigung zu den verstorbenen Angehörigen. Im Schnupftabakrausch nehmen

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Siehe bspw. die in den 1970er Jahren bekannten Schriften von Calvet 1978, Leclerc 1973 und Monod 1975.

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sie beim Totenfest in einer Bananensuppe die Knochenasche der Verstorbenen zu sich (Nachtigall 1974: 81-82). Bei dem von Nachtigall angeführten Hans Becher, damals Leiter der Völkerkunde-Abteilung des Niedersächsischen Landesmuseums Hannover, liest sich die Patrophagie (bei Becher die Tötung und der Verzehr der Knochenasche, nicht des Fleisches der Alten) folgendermaßen: Daraus, daß es ... keine Geburts- und Hochzeitszeremonien gibt, sondern nur solche aus Anlaß des Todes, lässt sich ersehen, wie unendlich groß bei diesen Indianern die Liebe und Zuneigung zu den verstorbenen Angehörigen ist. ... Eine Furcht vor dem Sterben ist ihnen unbekannt, selbst der Patrophagie sehen alte und schwer erkrankt Personen, die nicht mehr im Urwald wandern können, geradezu mit Freude entgegen (Becher 1974: 108-109). Den Gedanken des Exokannibalismus – des Feind-Verzehrs – schließt Hans Becher für die von ihm untersuchten Yanomami-Gruppen kategorisch aus.5 Anders Mark Münzel, der mit Christine Münzel 1971-72 bei den Aché /Guayaki – einer den Tupinambá nahen Gruppe – geforscht hat: Für ihn ist in ›Gejagte Jäger: Die Aché in Ostparaguay‹ der direkte Fleischverzehr des Exokannibalismus zwar eine strategisch tabuierte, aber dennoch empirisch nachweisbare Tatsache, wobei die Illustrationen aus Stadens Buch quasi als ›Kronzeugen‹ dienen.6 Münzels Argumentation verknüpft dabei zwei Positionen: Indem er sich in aller Schärfe zum Kulturrelativismus bekennt, muss er in Konsequenz für eine Enttabuisierung des in Frage stehenden schwierigen Tatbestands als notwendige Offenlegung, Verstehbarmachung und Akzeptierung von uns fremden Handlungsweisen plädieren: Der Kannibalismus. Diese Sitte der Aché wurde deshalb erst relativ spät sicher bekannt, weil jene Paraguayer, die en5

»Geradezu unvorstellbar wäre ihnen aber auch der Gedanke, sich etwa von einem getöteten Feind die Knochenasche einzuverleiben oder sein Fleisch zu verspeisen« (Becher 1974: 109). 6 Siehe die Staden-Illustrationen in Münzel 1983: 284, 291-292.

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geren Kontakt zu Aché hatten, die Indianer gebeten hatten, darüber zu schweigen – sie fürchteten, Berichte über den Aché-Kannibalismus könnten das Ansehen der Aché schädigen. Die Aché selbst freilich haben dies oft nicht so recht verstanden und schließlich den Forschern ... geradezu ärgerlich gesagt, nun sei es an der Zeit, dass man über diesen wichtigen Aspekt der Aché-Kultur rede. Unseren europäischen Abscheu vor dem Verzehren von Menschenfleisch empfinden auch jene Aché nicht, die selbst keine Kannibalen waren ... Wenn wir uns aber vorgenommen haben, die Indianer und ihr Denken ernst zu nehmen, so müssen wir auch ihren Kannibalismus ernst nehmen. Die Auseinandersetzung mit dieser uns so besonders abstoßenden Sitte ist ein besonders scharfes Beispiel dafür, welche Schwierigkeiten sich uns stellen, wenn wir die Prämisse aufgeben, dass europäische Moral und europäisches Denken immer Recht haben (Münzel 1983: 285-286). Münzels aufklärende, ein bisschen in ›68er‹-Diktion und -Stil verpackte Intention folgt in der Darstellung zwei Linien: Zum einen umspielt sie indirekt Stadens Beschreibungen (bspw. »Alsdann zerteilte man den Leichnam und legte die Einzelteile auf einen großen Rost, unter dem man ein Feuer anzündete«, Münzel 1983: 291), zum anderen werden neuere, in Feldforschung gewonnene Belege angeführt, ein Beispiel: »›Der da hat meine Mutter gegessen, deshalb habe ich ihn gern!‹ In ihren Augen hatte er denen, die er verzehrte, damit einen Liebesdienst erwiesen« (Münzel 1983: 288). Münzel bezieht sich in seinen Belegen – neben eigener Erfahrung – auch auf Pierre Clastres, der Beispiele endokannibalischer Primärbestattung bei den Aché 1972 publiziert hat (1984: 205-228). Bei Münzel wie bei Clastres bleibt jedoch das Verhältnis von Endo- und Exokannibalismus unklar; so wären meines Erachtens die vorgebrachten ›Beweise‹ für einen Feind- wie auch den Freundverzehr durchweg kritisch zu hinterfragen.7 7

Ich halte Aussagen wie die hier zitierte für solche, die dem typisch spanischsprachigen ›Cachondeo‹ zuzurechen sind: Sie sind neckisches Spiel mit der Wissbegier, also Verarschung des Ethnologen. Mark Münzel hat mir zum ersten Mal diese und ähnliche Verzehr-Geschichten bei der gemeinsamen Extremadura-

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Festzuhalten ist: Zwei unterschiedliche Konzeptionen zu Fragen des Kannibalismus bei zwei ausgewiesenen Forschern zu südamerikanischen Gruppen. Nachtigall abstrahiert, indem die europäische Fremdbegegnung generell als eine gefräßige darstellt wird, den Kannibalismus als Metapher von Kultureinebnung und -vernichtung. Daneben nimmt bei ihm der Alten- bzw. Vaterverzehr, die Patrophagie, als durchaus affektiv positiv besetzte und empirisch nachweisbare Praktik eine Sonderstellung ein. Münzel bezieht sich auf Erfahrungen aus der Feldforschung, die durch historische Berichte zusätzlich an Glaubwürdigkeit gewinnen und die für ihn – so schockierend sie für Europäer auch sein mögen – bekannt gemacht werden müssen. Doch gehen empirische Erfahrung und historisches Verpflichtet-Sein nicht ganz zusammen: So wird den Aché Wagi, den ›Menschenfresser-Aché‹, kein Exo-, sondern ein Endo-Status des Menschenverzehrs zugeschrieben, also kein ›aggressiver‹, sondern ein »›affektiver‹, d.h. liebevoller Kannibalismus«8, während Stadens Feindverzehr unhinterfragt und theoretisch wirksam stehen bleibt. Münzel weiß sehr wohl um den Zerstörungswillen und die Gefräßigkeit der europäischen Expansion; nicht zufällig endet sein Aché-Buch so: Heute (sagen die Aché Wagi, in deren Sprache ›Alter Jaguar‹ auch ›Weißer‹ bedeutet) essen wir unsere Toten nicht mehr auf. Denn uns hat alle der alte Jaguar verschlungen (Münzel 1983: 293). Mark, aber auch Christine Münzel – letztere zusammen mit Bartomeu Meliá –, haben mehrfach zum Genozid an den Aché-Guayaki publiziert.9 Deshalb mutet es umso erstaunlicher an, dass Münzel nach der Berufung nach Marburg den metaphorischen Begriff des Kannibalismus kaum zur Anwendung gebracht hat, sondern eher den traditionellen, Staden’schen Exkursion von Volks- und Völkerkundlern im Sommer 1991 erzählt; zudem an der ›Barra‹ im ›Adarve‹, Bar-Restaurant in Cáceres, an der ich über Jahre hinweg unter ›Abgabe‹ von Lehrgeld – Hochgenommen- & Hereingelegt- samt Ausgelacht-Werden – das Sprachspiel ›Cachondeo‹ mühsam zu verstehen erlernt habe. 8 Münzel (1983: 290) hat diese Trennung von Sagan (1974). 9 Siehe bspw. Münzel (1978, 1983: 68-165), Meliá und C. Münzel (1973: 7-53). Münzel war zudem langjährig Redakteur von ›Pogrom‹, der Schriftenreihe der ›Gesellschaft für bedrohte Völker‹.

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Begriff gepflegt hat, allerdings unter Akzeptanz einer gewissen Unschärfe in der Trennung des aggressiven vom affektiven Menschenverzehr. Doch bevor die Rolle dieser Unschärfe bei der Marburger Amtsübergabe und ihren Folge-Lasten beleuchtet werden kann, ein paar Worte zu Hans Stadens ethnologischem Klassiker. Dass Hans Staden sich erfolgreich weigern konnte, Wildschwein zu werden, ist eine Frage von Glaube und Gnade. Stadens Bericht, ›uff Fastnacht 1557‹ in Marburg erschienen,10 berichtet unermüdlich und umständlich (im alten Sinn von detailreich) von Praktiken und Techniken des Menschverzehrs, vom elenden Schicksal der Aufgefressenen und den Irrungen und Wirrungen des eigenen Entspringens vor solchem Aufgefressen-Werden; die Glaubwürdigkeit solch kannibalischen Tuns bezieht der Text aus den durch exakte Orts-, Detail- und (wie wir heute auch wissen) Sprachkenntnis gewonnenen geographischen und ethnologischen Schilderungen, aber auch aus dem Kernsatz ethnologisch-empirischer Legitimierung, aus dem »Das alles habe ich selbst gesehen und bin dabei gewesen« (Staden 2007 [1557]: 283). Es gibt zwei Kategorien von Beute: feindliche Indianer sowie Ausländer, wobei letztere sich in Mitglieder befreundeter oder feindlicher Nationen aufspalten. Staden spricht mit einem Indianer, der verzehrt werden soll: ›Ja, du bist also gerüstet zum Tod?‹ Da lachte er und sagte: ›Ja‹ … Ja meinte er, er wäre wohl gerüstet mit allen Dingen, allein die Mussurana [Baumwollschnur zum Umwickeln der Gefangenen] wäre noch nicht lang genug ... Ja, sagte er, bei ihnen hätte man sie besser. Und er führte solche Rede, als ob er zur Kirmes gehen sollte (Staden 2007 [1557]: 257). Und wird gegessen. Das Kirmes-Gefühl kann Staden dem ›Eingeborenen‹ nicht austreiben, weder durch Erzählungen vom Himmel (»denn sie würden von ihm allein das Fleisch essen, aber sein Geist würde an einen anderen Ort fahren«, Staden 2007 [1557]: 257) noch durch sonstigen Trost. Der Unterschied zwischen beiden ist, der zu fressende Indianer akzeptiert seinen Status als Beute = Wildschwein, Hans Staden, trotz 10 Die Literatur zu Stadens Bericht ist ausufernd. Es sei hier nur mit Lope (1992) ein Marburger Beispiel zitiert.

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einiger Besorgnis, appelliert ohne Unterlass an seinen Gott und negiert so den Wildschwein-Status, indem er eine pronominale Objektzuschreibung als Tier für sich nicht gelten lässt. Die Durchlässigkeit der Tier-, Menschen- und Geistwesenwelt ist – so wissen wir heute, und ich sage es überspitzt – eine Frage der Perspektive-Ordnung des Pronominalsystems: mir Beute zufallend / Jäger = fressender Jaguar, mich erbeutet / Gejagter = Wildschwein, und beide Positionen beinhalten das wechselnde Glücksrad der Jagd, wobei alle, auch die Tiere und Geistwesen, anthropomorph, aus menschlichem Blickwinkel agieren. Dieser Perspektivismus zeigt sich schön in folgender Schilderung: Und derselbe Cunhambebe hatte einen großen Korb voll Menschenfleisch vor sich, aß von einem Bein, hielt es mir vor den Mund, fragte, ob ich auch essen wollte. Ich sagte: ›Ein unvernünftiges Tier frisst kaum das andere, sollte denn ein Mensch den anderen fressen?‹ Er biss hinein, sagte: ›Jauára ichê. Ich bin ein Tigertier. Es schmeckt gut.‹ Damit ging ich von ihm (Staden 2007 [1557]: 264).11 Die mögliche Umkehrung und Verkehrung der Welt in ihr Gegenteil (Jäger – Gejagter/ Beute – Essender) ist vom Körperkonzept der Karnevaleske und europäischen Lachkultur nicht so weit entfernt, wie es im ersten Moment scheinen mag; deswegen liegt Staden mit seiner abschätzigen Bemerkung, ›als ob er zur Kirmes gehen sollte‹, nicht ganz daneben. Denn bei der Kirmes ist letztlich die Frage, Bratwurst essen oder Bratwurst sein bzw. sich die Bratwurst nicht leisten können, was nichts anderes heißt als gesellschaftlich untergebuttert, verbraten zu sein oder wie die kulinarischen Ausdrücke für soziales Deklassiert-Sein sonst noch lauten mögen. Hans Staden, aus streng früh-lutherischen Verhältnissen kommend, verfügt über eine andere Perspektive; er besteht – auch in schlimmsten Situationen seines Berichts – auf dem Nexus von unerschütterlichem Glauben = Gottvertrauen und Gnadenwahl; und diese Verknüpfung 11

Inzwischen ist ein von Mark Münzel am Göttingen Institute for Social and Cultural Anthropology (GISCA) am 26. Oktober 2016 gehaltener Vortrag veröffentlicht, in dem er sich mit dem ›indianischen Perspektivismus‹ auseinandersetzt. Ich empfehle als begleitende Lektüre Münzel 2017 und 2009.

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macht aus seiner Schrift Propaganda in lutherischer Glaubenslehre. Mit ihm gefangene Portugiesen, Jorge Ferreira und Jerônimo, verzagen, müssen aufgrund ihrer Gottesvorstellung verzagen und verschwinden – perspektivisch betrachtet –, obwohl auch sie nicht Wildschwein werden wollten, als Wildschweine in den Mägen von Jaguaren oder ›Tigertieren‹. Das Nicht-Wildschwein-Werden-Können ist also der Gnadenerweis, welchen der lutherische Gott Staden gewährt. Dessen unbeirrbarer Glaube ist die Grundlage all der göttlichen Zeichen; aber Staden tut das Seinige dazu, er vertraut und verkündigt seinen Gott, übt Selbstkritik, wenn er auf Menschen vertraut hat (auf den Franzosen, der ihm helfen soll und der ihn als aufzufressenden Portugiesen verleugnet), stellt Kreuze auf und schreibt seinem Gott manch Wunderwerk zu, bspw. Eingriffe in die natürliche Ordnung (plötzlicher Regen, Sturm, Beenden von Naturgewalt), welche Gott an seinem Diener Staden erweist. Die Indianer schwanken zwischen Indifferenz (Staden sieht einen Jungen beim Knochenabzausen, es wird schlecht Wetter, Staden sagt: Seht ihr, mein Gott! und bekommt zur Antwort: »hätte er’s doch so gegessen, dass ich’s nicht gesehen hätte, so sollte es wohl gutes Wetter geblieben sein«, Staden 2007 [1557]: 258) und Beeindruckung (»Auch so haben wir schon etliche Portugiesen gehabt und gegessen, aber ihr Gott wurde so zornig nicht wie deiner. Dabei sehen wir nun, dass du kein Portugiese sein musst« (Staden 2007 [1557]: 256). Oder der Schönwetterumschwung beim Wiederaufrichten des Kreuzes, das von Indianern abgebrochen worden war: »Sie verwunderten sich alle, meinten, mein Gott täte, was ich wollte«, Staden 2007 [1557]: 266). Es lässt sich feststellen, dass das ausufernde Thema Fressen-Wollen und Gefressen-Werden/Nicht-Gefressen-Werden deswegen so inflationär im Text auftaucht, weil es als Chiffre und Funktion ausgeschütteter Gnade herhalten muss, also als ethnographische Aussage nicht mehr für sich selbst als Geschehen steht, sondern anderen Zwecken dient und über seine Nennung – psychoanalytisch gesprochen – sekundärer Gewinn eingefahren wird: eine »metaphysische Sinnstiftung der Ereignisse« (Neuber 1995: 149-164, hier: 153)12 im Sinne eines lutherischen Fideismus »Ich glaube, also werde ich nicht gefressen«. Ähnliche Dynamik lässt 12

Siehe zum Zusammenhang von Berichten aus der neuen Welt, Reformation und Karnevaleske auch Mahlke (2005).

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sich auch für andere Teile der ›Wahrhaftigen Historia‹, wenn nicht gar für ihren Gesamtaufbau feststellen. Aber war der Landsknecht Hans Staden in der Lage, solch ›metaphysische Sinnstiftung‹ selbst zu leisten, oder bedurfte die Herausgabe seines Textes einer ordnenden, d.h. lutherisch gebildeten und agierenden Hand? Es hat mich Hans Staden ... gebeten, dass ich doch ... seine Arbeit und Schrift dieser Geschichten durchsehen, korrigieren und, wo es vonnöten ist, verbessern wolle. Dieser seiner Bitte habe ich aus vielerlei Ursache stattgegeben (Dryander in Staden 2007 [1557]: 230). So beginnt die Vorrede, die der Marburger Professor für Medizin und Mathematik Johann Dryander (= Eichmann) für Staden verfasst hat. Dryander zählt zu der Philipp Melanchthon nahestehenden und von ihm inspirierten Gruppe Marburger Professoren, welche – ihrem Mentor folgend – Geo-, Kosmo- und auch Ethnographie »für ... ein Erkennungsinstrument der Providentiallehre, ein(en) Beweis des aktiven und lenkenden Gottes und seiner Vorsehung« (Neuber 1995: 153) hielten. Im Sinne Melanchthons kann Stadens Bericht, wohl nicht zuletzt durch Dryanders Bearbeitung, in seiner Mischung aus geographischem, landes-, kultur- und ›sittenkundlichem‹ Wissen durchaus als »natürliche Theologie«, »als ein wichtiges außerbiblisches Zeugnis für die Existenz Gottes und seines Heilsplans« (Bauer 1995: 83-110, hier: 104) gelten. Die ›Menschenfresser-Leuth‹ Stadens sind als Antipoden, als Gegenfüßler, zu einem sich in Formation begriffenen humanistisch-geprägten und von der Reformation erschütterten Europa konzipiert, welches die frühneuzeitliche Kosmologie der Erde als Kugel zu integrieren versucht. Beim Nachdenken über die Antipoden – noch ist die Theorie der Schwerkraft nicht formuliert! – figurieren diese als äußerster Gegensatz zum Eigenen und reproduzieren in schroffer Gegenüberstellung die Problematiken der europäischen Entwicklung. Das alte europäische Tabu des Öffnens von menschlichen Körpern wird in der entstehenden Anatomie aufgebrochen; aber findet diese Enttabuisierung des geöffneten Körpers nicht auch seine Berechtigung in der zwar moralisch pervertierten, aber in heilsgeschichtlicher Perspektive eben doch zugelassenen Zerteilung menschlicher Körper im kannibalischen Handeln? Es dürfte kein Zufall sein, dass Stadens akademischer Mentor, Dryander, einer der ersten hervortretenden Anatomen ist und – noch vor Vesalius – Bücher mit 55

Darstellungen geöffneter Leiber veröffentlicht hat. In diesem Licht liest sich plötzlich die ausführlich beschriebene und bildlich breit dargestellte Zerlegungspraxis der Tupinambá als mögliches Propädeutikum eines frühneuzeitlichen Marburger Anatomiekurses. ... ziehen ihn aufs Feuer, kratzen ihm all die Haut ab, machen ihn ganz weiß und stopfen ihm den Hintern mit einem Holz zu, auf dass ihm nichts abgeht. Wenn ihm dann die Haut abgefegt ist, nimmt eine Mannsperson ihn, schneidet ihm die Beine über den Knien ab und die Arme an dem Leibe ... Danach schneiden sie ihm den Rücken mit dem Hintersten von dem Vorderteil ab (Staden 2007 [1557]: 283, siehe auch Neuber 1995: 162-164). Hier folgt der schon zitierte, die Autorität des Ethnographen bezeugende Satz, die Äußerung des ›Ich hab’s mit meinen eigenen Augen gesehen‹; die Writing-Culture-Debatte hat genau dieses Zeugnis-Ablegen und seine jeweilige Form des Präsentiert-Werdens als fragwürdig bedacht. Im Fall Staden gibt ihr die historische Analyse durchaus recht, denn die Art des hier geschilderten Zerlegens von menschlichen Körpern mag weniger für den Holzrost der Tupinambá (wahrscheinlich hätten sie sowieso Erdröstung praktiziert) als für den Seziertisch im Marburger Anatomischen Theater stehen: »So sind Stadens Tupinambá letzthin Marburger Menschenfresser« (Neuber 1995: 164). Marburger Menschenfresser? Ein Gespenst geht um … Verzehrängste, Verzehrabwehr, ständige Verzehrthematisierung. Ein Gespenst geht um … und findet im Lachen Auflösung wie Fortsetzung. Aber warum geht das Gespenst um? Ich hatte vorher die Marburger Lehrstuhlübergabe Ende der 1980er Jahre mit der Gespenstwerdung des Kannibalismus in der Marburger Völkerkunde in Zusammenhang gebracht. Hier meine These – mehr Indizienkette aus heuristisch-hermeneutischen Überlegungen als offenkundige ›Beweise‹, welche es auf einem solchen Gebiet auch gar nicht geben kann. Das Gespenst ist Effekt eines Ping-Pongs: Auf der einen Seite entzündet sich eine imaginierte Patrophagie-Angst bei der Übergabe der Professur seitens des ›scheidenden Alten‹ und ein aus diesen Ängsten resultierender hyperaktiver Widerstand, eine ›kannibalisch-aggressive ContraAktivität‹ gegen den ›nachdrängenden Jungen‹, also gegen den Nachfolger, dem unbewusst zugeschrieben wird, ihn, den alten Ordinarius, auf56

fressen (= wissenschaftlich ausschalten und vernichten) zu wollen. Der neue Amtsinhaber, dem diese ›kannibalisch motivierte Angst und ContraAktivität‹ unverständlich bleiben musste, sieht sich durch diese Vorwürfe und Angriffe in Bedrängnis gebracht, beantwortet sie – ebenfalls unbewusst auf dem Gebiet des Kannibalismus – in der Verstetigung einer, zwar in seinem Forschungsbereich angelegten, aber dennoch randständigen Thematik: dem Gespenst des Menschenverzehrs in der Unschärfe von affektiver und aggressiver Motivierung. Die Verstetigung dieser randständigen Thematik aber war tendenziell ›notwendig‹, im ursprünglichen Sinn des ›Not-Wendens‹, und sie findet zurück zu der ihr innewohnenden schwarzen Karnevaleske.13 Mark Münzels diskursiver Umgang mit dem Kannibalismus (alle fürchten, dass das Gespräch aufkomme …) wohnt also eine doppelte Bewegung inne: das vom Vorgänger projizierte Gespenst, weil es auf ihm lastet, aufzurufen und gleichzeitig, wie wenn er ›zur Kirmes ginge‹, zu bannen und so zu neutralisieren. Ich will diese knappe Synthese etwas breiter erläutern. Verzehrängste und Verzehrabwehr. Der Schritt ins Altenteil, zumal nach einem Vierteljahrhundert verantwortlicher und entscheidungsgesättigter Tätigkeit, ist zweifelsohne ein schwieriger und angstbesetzter Übergangsritus in Sinne van Genneps rites de passage. Eigentlich hätte Mark Münzel als Nachfolger für Nachtigall eine fast ideale Lösung darstellen müssen; und das war wohl auch so, bis ... ja bis Münzel eben wirklich als Nachfolger zu arbeiten anfing. Irgendwann müssen nun unbewusste Vorgänge einen ›Kurzschluss‹, cruce de cables, wie im Spanischen die psychische Verschmelzung nicht zusammengehöriger Vorgänge heißt, ausgelöst haben. Die sich kreuzenden Kabel waren in diesem Fall wohl ›Altenteil‹, ›Nachfolger‹ und ›Alten-Tötungskomplex‹14, ein Kurzschluss, welches jedes produktive Verhältnis von Vorgänger und Nachfolger lahm zu legen wusste, sonst aber mächtig unproduktive Funken sprühte. Ich zitiere nochmals Nachtigall: »Man tötet die alten Menschen aus humanitären Gründen, bevor ihre Lebenskraft erschöpft ist. Man verspeist ihr Fleisch und übernimmt auch ihre Namen« (Nachtigall 1974: 82-83). Der den ›Namen‹, sprich das Amt, übernommen hatte und auch das ›Fleisch‹, das 13

Parallel gebildet zu André Bretons Konzept des ›schwarzen Humors‹. Mark Münzel im Gespräch nach der Disputatio von Stefanie Hermann am 29. Februar 2008.

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Institut und die Geschicke des Instituts, war ein ausgewiesener Kenner der Patrophagie und zugleich ›kulturrelativistisches Sprachrohr‹ des Kannibalismus mit positiv-affektiver Besetzung, wobei – es sei daran erinnert – der Angehörigen- und der Feindverzehr ineinander verschwammen. Nun gehörten beide dem ›Stamm‹ der Ethnologen an, waren also Angehörige, konnten aber in der Generationen-Konkurrenz sich dennoch feindlich gegenüberstehen. Ich hatte gesagt, dass Mark Münzel seine Offenlegung des Aché-Kannibalismus in ›enttabuisierender 68er-Diktion‹ vorgebracht habe. Ich weiß nicht, ob Nachtigall Münzel als ›68er‹ wahrgenommen hat.15 Sicher ist, dass Horst Nachtigall unter ›1968‹ extrem gelitten hat; er ist mir in seinen Schriften als eine durch Studentenbewegung und APO ›versehrte‹ Person entgegengetreten, deren Traumatisierung nicht nur als Subtext die von ihm verfasste ›Einführung in die Völkerkunde‹ durchzieht, sondern auch in Anti-Reform-Rundumschlägen wie »Utopien über eine nachindustrielle Gesellschaft« oder »Die Illusion von Gleichheit und Gerechtigkeit« (Nachtigall 1974: 38-47, siehe auch 1981, 1982) Niederschlag findet. ›1968‹ ist für ihn nur der neueste Ausdruck des der europäischen Tradition eingeschriebenen Tötungs- und Vernichtungswillens und somit Verlängerung seines metaphorischen Begriffs von ›kannibalischer Aktivität‹. Sicher aber hat Nachtigall ›1968‹ als Generationenkonflikt wahrgenommen; die Richtung des imaginierten Potentials am Vernichtet-Werden konnte somit auch auf den ›AltenTötungskomplex‹ abzielen und ihn einschließen. Diese – metaphorisch motivierten, aber real sehr wirksamen – Verzehrängste wurden mit einer Verzehrabwehr beantwortet, der eine gegenkannibalische Aggression, ein Vernichtung-Wollen des Bedrohlichen, metaphorisch natürlich, eingeschrieben war: die schon erwähnte Sturmflut an Schriften und Pamphleten des ›krächzenden Nachtigall‹. Die Thematisierung des Menschenverzehrs, so zumindest meine Beobachtung, geschieht bei Mark Münzel meist in diskursiver Nähe zur Vorgänger-Geschichte: Tritt das eine Thema auf, ist das andere nicht weit; jedoch mit klarer affektiver Unterschied-Setzung, das eine eher karnevalesk, das andere mit Einsprengseln von Traumatisierung und nicht 15

Beim Münzelogie-Symposium (siehe Fußnote 1) hat Bernhard Streck zum Thema ›Mark Münzel und die 68er-Revolte‹ vorgetragen. Siehe den Vortrag als Beitrag in dieser Festschrift.

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abgeschlossener Trauerarbeit, wobei in dieser unbewussten Verschränkung dem Lachen die notwendige – im strikten Sinne des Wortes: Not wendende – Funktion eines Entkommens vor möglichem ›GefressenWerden‹ innewohnt. Dass dabei Hans Stadens ganz unmetaphorischer Begriff des Kannibalismus erhalten werden muss, liegt auf der Hand. Denn es war wohl der einzige friedliche Ausweg, mit dem dieser Art unbewusst motivierter Aggression (kannibalisch im metaphorischen Sinn) zu begegnen war. Mark Münzel hat die Diskursivierung des Themas als Blitzableiter intensiv betrieben, indem er die Staden’schen FleischExzesse als solche zwar stehen ließ, aber immer in der Nähe zum schwarzen Humor: Es ehrt Mark Münzel, diese Dauer-Aggression mit einer Art säkularisierten Osterlachens (der Brauch, bei dem in der Auferstehungsnacht der Geistliche Obszönitäten und sonstiges Abstoßendes erzählen muss, wozu sich die Gemeinde vor Lachen ausschüttet, Jacobelli 1991) erwidert zu haben: Die Überwindung des kannibalisch-metaphorischen Angriffs und Vernichtungswunsches konnte nur in der Auferstehung eines befreiten Lachens über den realen Kannibalismus geschehen. So war der Münzel-Ära der Marburger Völkerkunde das Festhalten am Staden’schen Menschenverzehr eingeschrieben, allerdings als Paradox: Weil der realistische Kannibalismus so betont wurde, blieb der metaphorische – auf Zerstörung nach innen gerichtete – gebannt. Die Produktivität des Kugelhauses spricht für sich; hilfreich – so seltsam es klingen mag – ist mitunter die Pflege von Gespenstern. Literatur Bauer, Barbara 1995. Melanchthon in Marburg. In: Jörg Jochen Berns (Hg.) Marburg-Bilder – Eine Ansichtssache: Zeugnisse aus fünf Jahrhunderten. Marburg: Rathaus-Verlag, 83-110. Becher, Hans 1974. Poré / Perimbó: Einwirkungen der lunaren Mythologie auf den Lebensstil von drei Yanonámi-Stämmen – Surára, Pakikái und Ironasitéri. Hannover: Prestel. Calvet, Louis-Jean 1978 [1974]. Die Sprachenfresser: Ein Versuch über Linguistik und Kolonialismus. Berlin: Das Arsenal. Clastres, Pierre 1984 [1972]. Chronik der Guayaki: Die sich selbst Aché nennen, nomadische Jäger in Paraguay. München: Trickster.

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Jacobelli, Maria Caterina 1991. El Risus paschalis y el fundamento teológico del placer sexual. Barcelona: Planeta. Leclerc, Gérard 1973. Anthropologie und Kolonialismus. München: Hanser. Lope, Hans-Joachim 1992. Un Mercenario Alemán al Servicio de las Coronas de Portugal y Castilla: Observaciones sobre Hans Staden y su Verdadera Historia (1557). In: Mate Reyes und Friedrich Niewöhner (Hg.) El Precio de la ›Invención‹ de América. Barcelona: Anthropos, 203217. Mahlke, Kirsten 2005. Offenbarung im Westen: Frühe Berichte aus der Neuen Welt. Frankfurt am Main: Fischer. Meliá, Bartomeu und Christine Münzel 1973. Ratones y Jaguares – Reconstrucción de un Genocidio a la Manera de los Axé-Guayaki del Paraguay Oriental. In: Bartomeu Meliá (Hg.) La Agonía de los Aché-Guayakí – Historia y Cantos. Asunción: Centro de Estudios Antropológicos, 7-53. Monod, Jean 1975 [1972]. Un rico caníbal. Mexiko: Siglo XXI Editores. Münzel, Mark (Hg.) 1978. Die indianische Verweigerung: Lateinamerikas Ureinwohner zwischen Ausrottung und Selbstbestimmung. Reinbek: Rowohlt. —— 1983. Gejagte Jäger, Teil 1: Die Aché in Ostparaguay. Frankfurt am Main: Museum für Völkerkunde. —— 2009. Gab es Kannibalismus? In: Volker Gottowik, Holger Jebens und Editha Platte (Hg.) Zwischen Aneignung und Verfremdung: Ethnologische Gratwanderungen. Frankfurt am Main: Campus, 83-98. —— 2017. Jaguar und Wildschwein, eine Fabel für Menschen. Oder: Der Aufstieg des Jaguars zum Himmel, ein Karriereleitfaden für Wissenschaftler. GISCA Occasional Papers 9, http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?gs1/14228 (08.11.2017). Nachtigall, Horst 1974 [1972]. Völkerkunde: Von Herodot bis Che Guevara – Naturvölker werden Entwicklungsvölker. Stuttgart: DVA. —— 1981. Die Illusion von Gleichheit und Gerechtigkeit. In: Lothar Bossle et al. (Hg.) ›Wider die Angst!‹ Über die Chancen der Technik, der Unternehmen und der Sozialen Marktwirtschaft. Köln: Informedia, 89-132. —— 1982. Utopien über eine nachindustrielle Gesellschaft. In: Johannes Gross, Willy Linder und Horst Nachtigall (Hg.) Solidarität mit unserer Zukunft. Stimmung und Bestimmtheit der Gesellschaft. Köln: Informedia, 79140. —— o.J. Die Völkerkundliche Sammlung Marburg: Lehrsammlung des Völkerkundlichen Seminars der Philipps-Universität. Marburg: PhilippsUniversität. 60

Neuber, Wolfgang 1995. Marburger Menschenfresser – Hans Stadens Brasilienbericht (1557): Über die Verbindung von ›Indianern‹ und akademischer Autonomie. In: Jörg Jochen Berns (Hg.) Marburg-Bilder – Eine Ansichtssache: Zeugnisse aus fünf Jahrhunderten. Marburg: RathausVerlag, 149-164. Sagan, Eli 1974. Cannibalism: Human Aggression and Cultural Form. New York et al.: Harper & Row. Scharfe, Martin o.J. Krächzender Nachtigall. Unveröffentlichtes Typoskript. Marburg. Staden, Hans 2007 [1557]. Wahrhaftige Historia: Zwei Reisen nach Brasilien (1548-1555). Kiel: Westensee.

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Postscriptum aufs Jahr 2018 Auf der Homepage von Mark Münzel findet sich als ganz zu Anfang stehende Präsentation eine Abbildung aus Hans Stadens ›Wahrhaftige Historia‹ (1587). Dort sieht man den armen Hans Staden in scheinbar höchster, allerhöchster Gefahr.

Abb.: Hans Staden vor dem Häuptling (Staden 1925 [1557]: g-iv, verso). Daneben, unter dem Namen Mark Münzels und seinem Ex-Amt (markiert durch den neuen Namen der Abteilung im Institut für Vergleichende Kulturforschung: nicht mehr Völkerkunde, sondern Kultur- und Sozi62

alanthropologie, Umbenennung 2010 durch den Nachfolger Ernst Halbmayer) findet sich ein Zitat von Andreas Gryphius: »Quantum est quod nescimus! Wie viel gibt es, das wir nicht wissen!« (1639). Nimmt man dieses Bild als Suchbild, kann man aufgrund der Vorgeschichte annehmen, dass Hans Staden und Mark Münzel irgendwie zusammengehören, aber es stellt sich sofort die Frage: Wo steckt denn der Horst Nachtigall? Das Bild gibt keine Auskunft; wir wissen nicht, wo er darauf zu sehen oder zu finden sein könnte: »Quantum est quod nescimus!« Nachtigall ist verschwunden, bleibt verschwunden in der ethnologischen Allegorie. Denn in der Nachfolge Hans Stadens hat sich Mark Münzel – auf andere Weise als dieser allerdings: ein Trickster der Kannibalismus-Zitierung – nicht zum Wildschwein machen lassen, das Wildschwein aber – als potentielle Wildschwein-Werdung – immer wieder über die verschiedensten Tische Marburgs und so nachhaltig durch Institut und Uni-Dorf getrieben. Gratuliere, satte Leistung! Karl Braun Staden, Hans 1925 [1557]. Wahrhaftige Historia und Beschreibung eyner Lantschaft der Wilden, Nacketen Grimmigen Menschfresser Leuthen, in der Neuenwelt America gelegen … [Faksimile nach der Erstausgabe ›Marburg uff Fastnacht 1557‹]. Frankfurt am Main: Wüsten & Co.

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Peter Schröder

Curt Nimuendajú und die Xipaya Eine Episode aus der Geschichte der deutschen und der brasilianischen Ethnologie Bis heute erinnert die deutsche Ethnologie der 70er und 80er Jahre in einem Punkt erstaunlich an die der 50er Jahre: Ein von Leuten aus ganz verschiedenen Richtungen weitergetragener Trend ist, daß die eigene Theoriegeschichte nicht aufgearbeitet wird, und daß man immer wieder versucht, auf die unaufgearbeiteten eigenen Grundlagen jeweils irgendwelche Theorien komplett von außen draufzusetzen. Ein bißchen wie der Import eines Systems verkehrsberuhigender Ampelschaltung aus Frankfurt in ein Urwalddorf am Amazonas (Münzel in Trickster-Redaktion 1989: 49). Gespräche mit Mark Münzel empfinde ich immer als sehr anregend. Zwar gehöre ich nicht zu seinen Schülern und auch nicht zu seinen langjährigen Mitarbeitern, aber seit dem Ende meiner Promotionszeit 1992/93 tauschen wir in unregelmäßigen Abständen Informationen und Ideen aus, meistens zu Brasilien und zur brasilianischen und deutschen Ethnologie. Heutzutage läuft diese Kommunikation aufgrund der Entfernung zwischen Marburg und Recife vor allem über E-Mail. Obwohl ich meinen Magister in Köln und meine Promotion in Bonn gemacht habe, stellten Münzels Arbeiten immer eine wichtige Lektüre für meine Forschungen zu Themen in Brasilien dar. Allerdings gab es noch einen weiteren Aspekt, den ich bereits als Student bei Münzel interessant fand: seine sehr kritischen Positionen gegenüber der deutschen Ethnologie. Viele Studierende meiner Generation empfanden die deutsche Ethnologie der 1980er Jahre als stagniert, so wie dies auch Dieter Haller (2012) in seiner Darstellung der Geschichte der westdeutschen Ethnologie zum Ausdruck gebracht hat. In jenem Zusammenhang 65

erschienen uns Münzels oftmals provokative Äußerungen wie ein Leuchtfeuer in einem Fach, in dem grau gekleidete Professoren die Mehrheit zu bilden schienen. Ich erinnere mich beispielsweise an einen Vortrag Münzels in Köln (das Datum ist mir entfallen), bei dem er den kurzen Kommentar fallen ließ, dass Veröffentlichungen der Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Durchschnitt anderthalb Leser hätten, was nicht nur Zustimmung erzeugte, wie man am Gesichtsausdruck der damaligen Institutsdirektorin erkennen konnte. Aufgrund der internen Konflikte des Kölner Instituts für Ethnologie seinerzeit waren Münzels Äußerungen zu Geschichte und Gegenwart der deutschen Ethnologie vor allem bei den Schülern Peter Tschohls (1935-2007) besonders beliebt. Später bekam ich den Eindruck, dass Münzels Kommentare zur älteren deutschen Ethnologie, vielleicht aufgrund des zeitlichen Abstands, gemäßigter wurden. Die Kritik, die er 1989 in einem Interview für den ›Trickster‹ äußerte, ist heutzutage nach zahlreichen guten wissenschaftshistorischen Forschungen zur deutschen Ethnologie vielleicht nicht mehr so ganz nachzuvollziehen oder höchstens im damaligen Zusammenhang verständlich. Die Aufarbeitung der eigenen Fachgeschichte ist zwar immer noch das Betätigungsfeld einer Minderheit unter den Ethnologen, wie dies jüngst auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie in Berlin (Oktober 2017) noch einmal deutlich wurde, aber sie wird inzwischen deutlich professioneller und gewöhnlich mit einer umfassenderen Quellengrundlage betrieben. Sie ist nicht mehr nur Ideengeschichte, sondern auch eine Art Historiographie des Faches im Sinne der Unterscheidung, wie sie beispielsweise Mariza Peirano (2004) traf. Meinen kritischen Abstand zur deutschen Ethnologie habe ich in den letzten Jahren einigen Hinterfragungen unterzogen, als ich anfing, mich mit dem Leben und Werk des brasilianischen Ethnologen deutscher Herkunft Curt Nimuendajú (1883-1945) zu beschäftigen. Bei allen postmodern inspirierten Kritiken, die häufig voreilig erzeugt werden, um ältere Ethnologengenerationen generell zu disqualifizieren – Nimuendajú bleibt eine faszinierende Gestalt der brasilianischen Anthropologie. Und eine Auseinandersetzung mit seinem Werk, vor allem auf der Grundlage bisher wenig oder überhaupt nicht ausgewerteter Quellen, stellt einen vielleicht ungewöhnlichen Weg dar, sich der Geschichte der deutschen Ethnologie erneut anzunähern.

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Münzel hat sich mit dem Werk Nimuendajús vor allem als Leser seiner Ethnographien auseinandergesetzt. Man kann aber auch auf einer der Seiten des Instituto Socioambiental (ISA) aus São Paulo im Internet lesen, dass er die berühmte Monographie über die Palikur (1926) ins Portugiesische übersetzt habe (Capiberibe 2012)1 und dass sich das Manuskript im Museu Goeldi in Belém befinde. Auf Nachfrage antwortete mir Münzel vor einiger Zeit in einer sehr humorvollen E-Mail, dass es sich keinesfalls um ein publikationswürdiges Manuskript, sondern praktisch um eine spontane mündliche Übersetzung handele, die von Expedito Arnaud aufgeschrieben wurde. Aufgrund der ungewöhnlichen Qualität seiner ethnographischen Arbeiten sei Nimuendajú »schwer zu toppen«. Nimuendajús Forschung bei den Xipaya,2 mit der ich mich in letzter Zeit etwas beschäftigt habe, bietet eine gute Möglichkeit, über Forschungspraktiken vor nun fast einhundert Jahren und über die Geschichte der deutschen und der brasilianischen Ethnologie zu reflektieren. Curt Unckel – Curt Nimuendajú In der Geschichte der brasilianischen Anthropologie nimmt Nimuendajú eine herausragende Stellung ein, nämlich die einer Zentralfigur für die Etablierung der systematischen Erforschung der indigenen Völker und Kulturen des Landes, also der Fachtradition der etnologia indígena (Cardoso de Oliveira 1988). In der brasilianischen Anthropologie versteht man nämlich das Wort Ethnologie als einen Zweig des Faches, der sich auf bestimmte Bevölkerungsgruppen bezieht. Deshalb erhält etnologia auch entsprechende Zusätze wie indígena oder das populações afro-brasileiras. Dabei war Nimuendajú Einwanderer. Er wurde am 17. April 1883 in Jena geboren und auf den Namen Curt Unckel getauft. Noch als Kleinkind wurde er Vollwaise und entschloss sich 1903, als junger Mann nach Brasi-

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Dabei handelt es sich um einen Artikel mit allgemeinen Informationen über die Palikur. Die Angabe zu Münzels Übersetzung findet sich unter den Erläuterungen zu den Quellen Nota sobre as fontes, https://pib.socioambiental.org/pt/ povo/palikur/176 (16.11.2017). 2 In der Fachliteratur gibt es verschiedene Schreibweisen. Xipaya ist die heutzutage in Brasilien mehrheitlich benutzte. Bei Nimuendajú taucht hingegen Šipáia bei etwa gleicher Aussprache auf.

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lien auszuwandern, wo er später den Guarani-Namen Nimuendajú annahm, den er von den Apapokúva-Guarani erhielt. Diesen übernahm er dann auch als Nachnamen als er 1926 die brasilianische Staatsbürgerschaft erhielt. Fälschlicherweise wird hierüber übrigens ein anderes Datum kolportiert, ohne dass ich bisher die Primärquelle dafür ausmachen konnte. Seine Einbürgerungsurkunde befindet sich im Original im Museu Goeldi, wo ich sie im August 2017 einsehen konnte. Es ist interessant zu beobachten, dass Nimuendajú nicht nur einer Fachtradition zugerechnet wird. Das kommt allerdings sehr auf den Standpunkt an. In der brasilianischen Anthropologie wird er unzweideutig als brasilianischer Anthropologe gesehen, wenn auch manchmal mit dem Zusatz ›deutscher Herkunft‹. Der deutschen Ethnologie wird er nicht zugerechnet. In Deutschland sieht das etwas anders aus. So findet sich beispielsweise auf dem Portal ›Interviews with German Anthropologists‹ unter den biografischen Kurzporträts auch ein Eintrag zu ›Curt Nimuendajú (Unckel)‹.3 Und 2013 erhielt ich eine Einladung der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, einen Lexikonartikel für den Band 26 der ›Neuen Deutschen Biographie‹ zu schreiben, der 2016 schließlich gedruckt erschien (Schröder 2016). Curt wird allerdings unter Unckel aufgeführt, und nicht unter Nimuendajú.4 Die Artikel über die Xipaya und ihre Vorgeschichte Zwischen 1919 und 1929 veröffentlichte Nimuendajú fünf Artikel über Kultur und Sprache der Xipaya im ›Anthropos‹ (Nimuendajú 1919/20, 1921/22, 1923/24, 1928, 1929). Die ersten beiden enthalten ausschließlich nach Themen geordnete mythische und geschichtliche Erzählungen. Der dritte Artikel ist eine detaillierte grammatische Beschreibung der Xipaya-

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http://www.germananthropology.com/short-portrait/curt-nimuendajunckel/193 (19.11.2017). 4 Am 16.10.2013 erhielt ich folgende Erklärung per E-Mail: »Ich hoffe, dass (für ein Lexikon im deutschen Sprachraum) ›Unckel‹ als primäre Namensansetzung verwendet werden kann, denn als ›Nimuendajú‹ hätte er sonst im 19. Band der NDB (Nauwach-Pagel) berücksichtigt werden müssen, und wir könnten ihn nicht mehr für den 26. Band (ab Tecklenburg) einplanen. Als ›Nimuendajú‹ war er damals noch nicht in unserer Datenbank.«

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Sprache, während der vierte und fünfte Wortlisten aufführt, die nach Themen und grammatischen Kategorien gegliedert sind. Die Geschichte dieser Artikel fällt in einen Abschnitt aus Nimuendajús Biographie, als sich sein Ruf als Ethnograph zu konsolidieren begann. Allerdings sind die Informationen über sein Leben in den 1910er und 1920er Jahren des vergangenen Jahrhunderts immer noch relativ spärlich im Vergleich zu denjenigen der darauffolgenden Zeit. Scheinbar ist er gleich am Ende des Jahres 1910 in den Serviço de Proteção aos Índios e Localização dos Trabalhadores Nacionais (SPILTN) eingetreten, als dieser gegründet wurde.5 1913 wurde er nach Belém versetzt, wo er seinen Wohnsitz bis ans Lebensende hatte. Damals hat er bereits mit seinem indigenen Namen unterschrieben, und es war in Belém, wo er am Museu Goeldi, welches sich heute offiziell Museu Paraense Emilio Goeldi (MPEG) nennt, dessen Direktorin, die Ornithologin Emilie Snethlage (1868-1929) kennen lernte. Snethlage war ebenfalls Auslandsdeutsche. Nimuendajú hatte bereits eine sehr ausführliche Monographie auf der Grundlage seines langen Aufenthaltes bei den Apapokuva geschrieben, aber er war Autodidakt und hatte niemals eine akademische Ausbildung erfahren, was ihm seinen Zugang zum akademischen Milieu zunächst erschwerte. Wie der zustande kam, war lange Zeit Gegenstand von Hypothesen. Die bekannteste lautet, dass die Veröffentlichung seines ersten wissenschaftlichen Textes in der ›Zeitschrift für Ethnologie‹ (Nimuendajú 1914) durch die Vermittlung Emilie Snethlages ermöglicht wurde. Diese Vermutung konnte vor wenigen Jahren durch den Fund einiger ihrer Briefe im Ethnologischen Museum Berlin bestätigt werden.6 Zum einhundertjährigen Jubiläum der ersten ethnographischen Veröffentlichung Nimuendajús erschien 1913 in der Zeitschrift ›Tellus‹ ein Themenheft (Barbosa at al. 2013). In diesem Zusammenhang sind zwei Artikel des Bandes besonders interessant: Barbosa (2013) und Pierri (2013). Obwohl Nimuendajú nicht etwa einen Text über ein damals wenig bekanntes indigenes Volk geschrieben hat, wenn man die damalige Bibliographie in 5

SPILTN war der erste offizielle Name des ›Indianerschutzdienstes‹ Serviço de Proteção aos Índios (SPI), welcher am 20.06.1910 per Dekret ins Leben gerufen wurde und der Vorgänger der noch immer existierenden Fundação Nacional do Índio (FUNAI) war. 6 Nelson Sanjad (MPEG), persönliche Mitteilung, 22.02.2013. Siehe auch Sanjad et al. (2013).

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Betracht zieht, so hatte seine Arbeit doch tiefgehende und langanhaltende Auswirkungen auf die Interpretationen der seit Jahrhunderten beobachteten Migrationen der Guarani. Der Schwerpunkt auf dem eschatologischen Motiv des ›Landes ohne Übel‹ als treibender Kraft der Wanderungsbewegungen bedeutete die Einführung einer neuen Erklärung für ein altbekanntes Phänomen und wurde von vielen Südamerikanisten (und nicht nur Guarani-Spezialisten, siehe Villar und Combès 2013) akzeptiert. Nimuendajús für seine Zeit innovativer Ansatz bestand aber auch darin, den indigenen Erklärungen für ihre Wanderungsbewegungen den Vorzug zu geben, obwohl er genauso gut den sozialen und wirtschaftlichen Druck, der durch die Kolonisierung des indigenen Landes entstand, hätte betonen können. Im vergleichenden historischen Rückblick hat Nimuendajú gewissermaßen den native point of view bevorzugt, bevor dieser von Malinowski zum übergeordneten Erkenntnisziel der anthropologischen Feldforschung erklärt wurde. Und genau dieser Vorzug, der den indigenen Erklärungen ihrer eigenen Kulturen gegeben wurde, hilft uns auch etwas, das Format und die Inhalte der Texte über die Xipaya zu verstehen. Die Feldforschung und ihre Umstände Um die Geschichte der Texte über die Xipaya und ihre Sprache zu kennen, muss man auf Bruchstücke zurückgreifen. Lediglich zu Beginn des ersten Artikels erwähnt Nimuendajú seinen Aufenthalt an einem Ort namens Boca do Baú am Rio Curuá von 1918 bis 1919. Damit fasst er die prekären Umstände im Feld und die Schwierigkeiten, sich mit seinen indigenen Gesprächspartnern zu verständigen, in zwei Absätzen zusammen. Aber der Reichtum und die Vielfalt an Details in den Texten, insbesondere die vielen mythischen Erzählungen, scheinen auf das Gegenteil hinzuweisen. Zumindest legen sie nahe, dass ihr Autor ein ungewöhnliches Talent für Feldforschungen besaß. Um noch mehr Bruchstücke zusammenzutragen und eine teilweise Rekonstruktion der ethnologischen Forschungspraxis Nimuendajús in jenen Jahren vornehmen zu können, muss man zwei Städte besuchen: Marburg und Rio de Janeiro. Am Museu Nacional in Rio de Janeiro wird Nimuendajús persönlicher Nachlass (vor allem Briefe und Manuskripte, aber auch Fotos und Zeichnungen) aufbewahrt. Diesen erwarb das Museum

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von seiner Witwe nach langen Aushandlungen, die von 1946 bis 1951 verliefen. Neben Kopien der Manuskripte für die Artikel im ›Anthropos‹ ließen sich dort bisher nur noch zwei Dokumente zur Forschung bei den Xipaya auffinden: eine Übersetzung der ersten beiden Artikel ins Portugiesische (Lommel o.J.) und ein kleines Heft mit ganz kurzen Notizen aus dem Felde sowie einigen geografischen Skizzen (Nimuendajú o.J. [1918]), welches sich aber leider in einem sehr schlechten Zustand befindet. Die Übersetzung wurde schließlich 1981 durch Eduardo Viveiros de Castro und Charlotte Emmerich veröffentlicht (Nimuendajú 1981).7 An der Philipps-Universität Marburg befindet sich im Fachgebiet Kulturund Sozialanthropologie des Instituts für Vergleichende Kulturforschung der Nachlass Theodor Koch-Grünbergs (1872-1924), welcher mit Nimuendajú seit 1915 einen regen Briefwechsel unterhielt. Im Januar 2011 und im Oktober/November 2015 war ich in Marburg, um Einsicht in die Dokumente des Nachlasses zu nehmen. Insgesamt befinden sich in Marburg 34 Briefe der Korrespondenz zwischen den beiden Ethnologen. Von diesen ermöglichen zehn, die Geschichte um die Artikel zu den Xipaya teilweise zu rekonstruieren. Der Briefwechsel begann während des Ersten Weltkrieges, wurde aber sofort Ende 1915 unterbrochen. Erst im April 1920 gelang es Nimuendajú, ihn wiederaufzunehmen. In einem Brief vom 23.04.1920 (Nimuendajú 1920) fasst er für Koch-Grünberg seine verschiedenen Forschungstätigkeiten im Zeitraum von 1915 bis 1920 zusammen, welche meistens unter sehr widrigen Umständen stattfanden. Mit keiner Zeile erwähnt er die Verleumdungen, die 1915 zu seiner Entlassung beim SPI führten, aber seine Beschreibungen lassen keine Zweifel aufkommen, dass er zeitweilig als Bediensteter regionaler Machthaber überlebte: Krank war ich von den Aparai zurückgekommen [wo er 1915 etwa einen Monat verbracht hatte], und erst im Januar 1916 wurde ich bei den Tembé der Mission S. Antonio do Prata, nahe der Bahn von Belém nach Bragança, wieder gesund … Dann mußte ich, da ich dem Nichts gegenüberstand, schleunigst nach irgend einer Arbeit suchen. Ich bot dem berühmten Senador José Porfirio meine Dienste an, und dieser 7

2015 wurde eine neue, überarbeitete Übersetzung aller Artikel Nimuendajús zu Kultur und Sprache der Xipaya zusammen in einem Band veröffentlicht (s. Schröder 2015).

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liess mich an der großen Xingúbiegung eine Straße für Automobilverkehr herrichten. Meine Hoffnung, bei dieser Gelegenheit mit Indianern zusammenzutreffen, erfüllte sich nur in recht bescheidenem Maßstab. Trotzdem traf ich schließlich in Altamira 13 Jurúna von der Pedra Secca die bis auf 2 wegstarben ehe ich Zeit gehabt hätte etwas mit ihnen anzufangen. Doch konnte ich hier auch die ersten Šipáia und Kuruáia abhören, und eines Tages erschienen sogar zwei blaugestreifte Arára. José Porphírio de Miranda Júnior (1863-1932) – Ingenieur, Kautschukbaron, Bundesabgeordneter und Senator – war zu der Zeit einer der mächtigsten Politiker Parás. Im letzten Jahrzehnt des 19.Jahrhunderts begann er, seine Handelsposten am Lauf des Xingu aufzubauen, wo es ihm schließlich gelang, die gesamte Region unter seine Kontrolle zu bringen. In verschiedenen Quellen wird er als dominador e imperial senhor, als feudatário da região (Alarcon und Torres 2014: 23) und als brutal und skrupellos beschrieben (Umbuzeiro und Umbuzeiro 2012: 113). Nimuendajú (1920) fährt fort: Im Februar 1917, gerade als ich mit meiner Straße fertig war, lud mich Coronel Ernesto Accioly, Frl Dr. Snethlages Freund, ein, mit ihm nach dem Curuá do Iriry zu kommen wo er mir einen unbekannten, wilden Indianer zeigen wollte der dort erschienen war und sich einem Caucheiro angeschlossen hatte. Wir fuhren den Iriry und den Curuá hinauf und trafen in einer Barraca etwa unter 7°30‘ s.Br. einen langhaarigen, wild aussehenden Kerl mit Lippenstein und Penisstulp der kein Wort Portugiesisch sprach oder verstand und aus Südwesten gekommen zu sein, angab. Ich nahm ihn ins Gebet – es war ein ganz gewöhnlicher Kaiapó! Den ganzen Rest des Jahres hielt mich nun Ernesto in Santa Julia mit dem Versprechen hin, einen Streifzug in den Sertão zu machen und diese Kaiapó aufzusuchen. Santa Júlia war eine Sammelstelle für Kautschuk und wurde von Accioly kontrolliert. Scheinbar besaß Nimuendajú nicht die Mittel, um einfach fortzugehen, oder er wollte sich der Anordnung des mächtigen Kautschukbarons nicht widersetzen, was ziemlich gefährlich sein konnte. Accioly war 72

eine Art Mäzen des Museu Goeldi und vor allem der Forschungen Snethlages. Seine Förderergunst war aber gewiss weniger durch wissenschaftliche Interessen als durch politischen Pragmatismus motiviert, da das Museu Goeldi dem Bundesstaat Pará gehörte. Somit bot die Unterstützung der Forschungen des Museums eine Gelegenheit, gute Beziehungen zur Regierung Parás zu unterhalten. Der unfreiwillige Aufenthalt in Santa Júlia war nicht das erste Mal, dass Accioly Nimuendajú seinem Schicksal überließ, und es sollte auch nicht das letzte Mal sein: Schließlich schickte er mich im Januar 1918 mit dem Boot eines Caucheiros voraus und versprach selbst nachzukommen. In dem ersten Nachtlager hinter Santa Julia wurde ich von dem Subpräfekten des Rio Iriry als der Spionage verdächtig gefangen genommen und mein Gepäck beschlagnahmt. Bis in den März hinein dauerte meine Gefangenschaft. Col. Ernesto liess mich völlig im Stich. Dann liess man mich laufen, schickte aber mein Gepäck nach Belém. Mir blieb nichts übrig als mitzufahren, sonst wären wohl alle meine Aufzeichnungen verloren gewesen. In Belém erhielt ich anstandslos meine Sachen zurück, eine kleine ethnologische Sammlung aber sowie eine Serie photographischer Aufnahmen die ich bei Col. Ernesto deponiert hatte, hatte dieser einfach fortgeworfen um den Koffer worin sie sich befanden einer seiner indianischen Hausgenossinen zu geben (Nimuendajú 1920). Gerade weil Accioly der ›Herrscher‹ über den Iriri war, wirkt seine Gleichgültigkeit in diesem Falle verdächtig. Sie stellt möglicherweise einen Hinweis darauf dar, dass es sich bei der Festnahme Nimuendajús um einen schäbigen Trick des Kautschukbarons gehandelte habe, um irgendwie den Deutschen loszuwerden, der ja für ihn keinerlei wirtschaftlichen oder politischen Nutzen besaß. Man kann aber einen guten Eindruck von Nimuendajús Charakter, insbesondere seiner Hartnäckigkeit, bekommen, wenn man folgenden Satz aus seinem Brief liest: »Um denen am Iriry zu beweisen daß sie sich mit meiner Gefangennahme verhauen hatten kehrte ich wieder nach diesem Fluss zurück«. Auf Anregung Acciolys hin stellte er schließlich einen kleinen Trupp zusammen, um, ausgehend vom Quellgebiet des Curuá, die Region zwischen 73

dem Xingu und dem Tapajós zu erkunden und Kayapó-Dörfer zu finden. Aber die Gruppe musste aufgrund der unüberwindbaren natürlichen Hindernisse, die die scheinbar unbewohnte Gegend stellte, wegen unzureichendem Proviant und von verschiedenen Krankheiten erschöpft ergebnislos zurückkehren. Man könnte sogar meinen, dass der Vorschlag, einen Weg zwischen den Flussgebieten des Xingu und Tapajós zu erkunden, etwas mit Snethlages früherer Expedition von 1909 zu tun gehabt haben könnte (1910 [1913]), aber diese Möglichkeit wird im Brief an Koch-Grünberg mit keinem einzigen Wort erwähnt. Daher schiebt Nimuendajú die Verantwortung für die erfolglose Expedition ausschließlich Accioly zu. Dieser besaß mit Sicherheit eine Vorstellung von der Undurchdringlichkeit der Region, welche für ihn keinerlei wirtschaftliches Interesse darstellte. Vielleicht bot die kleine Expedition ja auch eine weitere Gelegenheit, sich den deutschen Migranten mit seinem unbedeutenden sozialen Status vom Hals zu schaffen. Und wenn er während der Expedition stürbe, dann wäre das kein ernsthaftes Problem. In Bocca du Bahú liess mich nun Col. Ernesto wieder bis zum März 1919 sitzen und ich selbst konnte mich nicht einmal zurückziehen, so verarmt und heruntergekommen war ich. Ich benutzte die Zeit um die Šipáia zu studieren, von denen eine kleine Bande hier als Sklaven des Besitzers von Bocca do Bahú wohnte. Hier wohnte ich auch mehreren Geistertänzen bei und freundete mich sehr mit dem Medizinmann Mãwaré an, dem ich die besten meiner Angaben verdanke. Vergebens suchte ich nach Gelegenheit um das Dorf der Kuruáia zu besuchen das von hier nicht sehr weit weg liegt. Meine Mittellosigkeit machte es unmöglich, und ich mußte mich darauf beschränken mit einzelnen Kuruáia die hier herkamen Sprachaufnahmen zu machen. Als ich im März 1919 endlich wieder nach Santa Julia hinunterfuhr hatte ich wenigstens so leidlich Šipáia radebrechen gelernt. In Santa Julia blieb ich wieder bis zum Juni 1919 und verkehrte viel mit meinen alten Bekannten, den oberhalb und unterhalb des Ortes unter Col. Ernestos ›Schutz‹ wohnenden Šipáia. Dann trat ich wieder in den Dienst des Senators José Porfírio und war ein paar Monate lang Gerent der Dampferstation Victoria am

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Tucuruhy. Im Oktober 1919 gelang es mir endlich, nach Belém zu entkommen. Frl. Dr. Snethlage wollte mich nun gern als Ethnologe am hiesigen Museum anstellen, aber so außerordentlich wie mir auch diese Stelle zusagen würde, mußte ich doch darauf verzichten weil ich von der Regierung doch ganz sicher nie meinen Gehalt bekäme und dann einfach verhungern könnte. Ich ging, um mich durchzuschlagen, mit einem Ingenieur auf Colonievermessung in der Zone zwischen der Bragançabahn und dem Meer – auch kein Vergnügen gerade jetzt während der Regenzeit – und mit dieser nützlichen Arbeit beschäftige ich mich bis heute und bekomme ebensowenig meinen Gehalt! Hätte ich nur wenigstens Zeit, meine Aufzeichnungen druckfertig zu machen! (Nimuendajú 1920) Während der Brief an Koch-Grünberg lediglich eine Art Zusammenfassung der allgemeinen Umstände der Forschung bei den Xipaya bietet, könnte man denken, dass das Notizheft im Museu Nacional genauere Informationen enthalten mag. Leider handelt es sich um kein diary in the strict sense of the term à la Malinowski, sondern eher um eine Art Tageskalender mit telegrafisch knappen Notizen pro Tag. Es enthält nur Notizen für die Zeit von Januar bis Mai 1918, einige geographische Zeichnungen, eine kleine Liste mit Xipaya-Wörtern und drei Xipaya-Mythen. Zur Illustration hier nur zwei kurze Abschnitte: [Januar] … Mittwoch 16. Nachmittags Koffer in Dodôs Lancha schaffen lassen. Donnerstag 17. 8h15‘ in Dodôs Lancha ›Cecy‹ mit João Quirino & [unleserlich] ab. An der Mündung des Furo do Breu bis ¾ 12 Kahn ausgebessert. 2h bei Chico Porto. 7h in Curambê. Freitag 18. Früh verhaftet mich Lopes, bedroht mich mit Handschellen. Nach Abfahrt des Bootes lange Unterhandlungen mit ihm, er wird zahm. Pedro Lopes kommt. Sonnabend 19. Lopes stellt das Verhör mit mir an. Ich bin als ›verdächtig‹ verhaftet. Pedro Lopes fungiert als Schreiber. Lopes behandelt mich gut.

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Sonntag 20. Acten über meine Verhaftung geschlossen, Pedro Lopes fährt damit ab. Sonnabend 26. Crl Ernesto kommt mit 2 Lanchas 10h nachts. Sonntag 27. Crl. Ernesto führt mich um 7h früh weiter ohne nur ein Wort an mich zu richten. … [Februar] … Montag 11. Verhandlung mit Ernesto der nichts für mich tun will. 2h40‘ in Lancha [unleserlich] mit Lopes von S. Julia ab. 1/25 bei [unleserlich] Souza angelegt & übernachtet. Dienstag 12. Früh 5h40‘ den Xingú hinunter. Unter Itapoama lange auf Bacuráo gewartet. ½ 2 in Altamira. In Camanhos Haus einquartiert. Bei João Brazil & José Accioly Gerüchte: Ich war auf Ernestos Anordnung mit einem neuen, großen Terçado ermordet worden. Der Kopf fiel auf die eine, der Körper auf die andere Seite. Nach meiner Verhaftung in Curambê war ich entflohen, aber in einer Estrada von Seringueiros wieder eingeholt worden. Mein Koffer war zerbrochen & verbrannt worden. Es überrascht natürlich nicht, dass weder Namen noch Orte im Notizheft erklärt werden, da es ja nicht zur Veröffentlichung bestimmt war. Insgesamt lässt sich sagen, dass das Notizheft gewiss nützlich ist, um Nimuendajús Fahrten in der Xingu-Region 1918 teilweise zu rekonstruieren, aber die Aufzeichnungen sind derartig knapp, dass sie es praktisch unmöglich machen, die konkreten Feldforschungsumstände zu erfahren. Eine knappe Interpretation der Fragmente All die Zeitabschnitte, die im Brief vom 23.04.1920 erwähnt werden, deuten darauf hin, dass Nimuendajú zwischen 1916 und 1919 mehr als zwölf Monate mit kleinen Gruppen der Xipaya verbracht hat. Außerdem wird durch die Abschnitte der Mythentexte in der indigenen Sprache sowie durch die linguistischen Artikel klar, dass es ihm gelungen ist, die Sprache der Xipaya zumindest soweit zu erlernen, dass eine halbwegs zuverlässige Verständigung möglich wurde. Somit setzte Nimuendajú, ohne sich dieser 76

Tatsache vielleicht bewusst zu sein, zwei wichtige Prinzipien der anthropologischen Feldforschung in die Praxis um, welche später durch Malinowski in seiner berühmten Einführung in die ›Argonauts of the Western Pacific‹ (1922) verkündet wurden: mindestens ein ganzes Jahr unter den ›Eingeborenen‹ zu verbringen und die Verständigung mit ihnen in ihrer eigenen Sprache zu erlernen. Hiermit will ich nicht etwa sagen, dass Nimuendajú ein unberücksichtigter und vergessener Vorläufer Malinowskis war, sondern dass er selbst als Autodidakt ohne jegliche formale akademische Ausbildung Vorstellungen davon besaß, unter welchen Bedingungen gute Ethnographien entstehen können. Gewiss ermöglichten ihm seine vorherigen Erfahrungen mit den Apapokuva-Guarani und die Abfassung und Veröffentlichung von ›Die Sagen von der Erschaffung und Vernichtung der Welt‹, diese Schlussfolgerungen selbst zu ziehen, ohne auf eine Spezialliteratur über Feldforschungen zurückgreifen zu können, welche es damals ja praktisch nicht gab. Überhaupt sollte man es nicht erwarten, in den Veröffentlichungen jener Anthropologengeneration systematische Reflexionen über Intersubjektivität im Feldforschungsprozess zu finden. Diese gehörten auch gar nicht zu den wissenschaftlichen Standards in den damaligen Geisteswissenschaften. Deswegen werden die Schwierigkeiten bei der Feldforschung in den Artikeln über die Xipaya auch nur ganz knapp und oberflächlich erwähnt. Was nicht heißen soll, dass die Anthropologen jener Generation keine Vorstellungen über Subjektivitäten in der Feldforschung gehabt hätten oder dass sie für diese gänzlich unempfindlich gewesen seien. Ganz im Gegenteil – die oftmals umfangreiche Privatkorrespondenz deutet auf eine andere Situation hin, wie dies vor allem Michael Kraus (2004) in seiner umfangreichen Untersuchung über die deutsche ethnologische Amazonienforschung von 1884 bis 1929 gezeigt hat. 1918/19 war Nimuendajú weder ein Berufsethnologe noch gehörte er einer anthropologischen Forschungsinstitution an. Seine Kontakte mit der akademischen Anthropologie beruhten auf der Lektüre von Ethnographien und dem Briefwechsel mit Ethnologen. Es ist allerdings bemerkenswert, wie es ihm gelungen ist, die Anerkennung durch Ethnologen wie Koch-Grünberg oder Max Schmidt (1874-1950) zu erlangen, die ihn als geschätzten Gesprächspartner und talentierten Ethnographen wahrnahmen. Mit anderen Worten: die Tatsache, dass er Autodidakt war, stellte kein Handicap für die berufliche Anerkennung in den anthropologischen Wissenschaftszirkeln der Zeit dar. In einem sehr interessanten Artikel über 77

Leben und Werk Nimuendajús im Zusammenhang mit der Geschichte der brasilianischen Anthropologie im 20. Jahrhundert zeigt João Pacheco de Oliveira (2007), wie jedoch der Status eines Autodidakten in posthumen Interpretationen seines Werkes und seiner Feldforschungsmethoden in eine Art Stigma verwandelt wurde. Florestan Fernandes‘ (1975: 119-120) Kritik des Theoriemangels in Nimuendajús Arbeiten gehört dabei zu den bekanntesten und einflussreichsten. Zeitgenössische Anthropologen hatten jedoch eine weniger hochmütige Sicht auf das Werk Nimuendajús. Sie schätzten im Gegenteil seine empirische Nüchternheit und Vertrauenswürdigkeit. Nimuendajú selbst hatte keinerlei theoretische Ambitionen, wie dies bereits mehrere Autoren anmerkten (Welper 2002). Seine ethnographische Forschungspraxis hatte viel mehr mit zeitgenössischen Idealen kultureller Aufzeichnung in der deutschen Ethnologie als mit vorherrschenden theoretischen Interessen zu tun. Von seinem Standpunkt aus war es dringend notwendig, indigene kulturelle Ausdrucksformen und Überlieferungen aufzuzeichnen, bevor diese aufgegeben und vergessen würden. Wir können damit in Nimuendajú eher eine Nähe zu Ideen Bastians und Boas als zu anderen Ausrichtungen der Anthropologie seiner Zeit wahrnehmen (Fischer et al. 2007; Stocking Jr. 1996). Die Artikel zu den Xipaya stellen hervorragende Beispiele für die Vorstellungen dar, welche die von Nimuendajú praktizierte Anthropologie beeinflusst haben. Die Xipaya werden mit wenigen Worten als ein ›elendiger Rest eines Indianervolkes‹ beschrieben, welches von der regionalen nichtindigenen Bevölkerung, die Nimuendajú ironischerweise ›Christen‹ nennt, skrupellos ausgebeutet wird. Jene ›Weißen‹, die Nimuendajú in späteren Veröffentlichungen auch ›Neobrasilianer‹ nennt, waren so ›christlich‹, dass sie jede Gelegenheit nutzten, um die Frauen und Mädchen der Xipaya sexuell zu belästigen. Der ›Geistertanz‹ beispielsweise, ein komplexes Ritual, das mehrere Tage dauerte, konnte nur nach einer formalen Bittstellung an den ›Besitzer‹ der Xipaya ohne Störungen aufgeführt werden: Der erste iánãi karia [Geistertanz], dem ich beiwohnte, fand vom 18. bis 30. September 1918 an der Mündung des Igarapé do Bahú in den Rio Curuá statt. Schon vierzehn Tage vorher war ein Versuch der dortigen Šipáia, einen Geistertanz abzuhalten, an der Einmischung der Christen gescheitert, die da meinten, der Tanz biete eine schöne Gelegenheit mit den

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Frauen der Šipáia Unfug treiben zu können. Sie liefen mit einer Gitarre nach dem Tanzplatz, setzten sich zu den Indianerinnen, führten zotige Reden, und während sie den Kaširí in Biergläsern mit Zucker anrührten, drohten sie, jeden Indianer zu töten, der etwa mit ihrer Anwesenheit nicht einverstanden wäre. Infolgedessen gaben die Šipáia den Tanz auf … Darauf ging ich selbst zu dem Besitzer der Indianer hin und bat ihn, er möchte, wenn schon nicht der Indianer, so doch meinetwegen dahin wirken, daß der Tanz stattfinden könne. Er versprach es mir auch, und darauf hin wurde dann der Tanz am 18. September von neuem begonnen. (Nimuendajú 1921/22: 376) Nimuendajús ethnographische Beschreibung der Xipaya-Kultur ist nicht allumfassend wie in vielen klassischen Monographien. Stattdessen zeichnete er diejenigen Aspekte auf, die er ›Religion und Überlieferung‹ nannte, welche wir aber heutzutage als Religion, Schamanismus, Mythologie und indigene interethnische Beziehungen bezeichnen würden. Mit anderen Worten: all das, was durch Aufzeichnung gerettet werden konnte, bevor es in Vergessenheit geraten würde. Und das sind ›Fragmente‹, weil es keine ethnographische Erzählstruktur wie in Malinowskis ›Argonauten‹ gibt. Die Textteile der ethnographischen Artikel wurden wie Tonscherben zusammengepasst, um damit eine halbwegs vernünftig erscheinende Ordnung zu schaffen. Schaut man auf die ethnographischen Artikel in ihrer Gesamtheit, so fällt der hohe Anteil an Textabschnitten in direkter (indigener) Rede auf, obwohl diese auf Deutsch wiedergegeben wurden. Diese meistens über mehrere Seiten gehenden und durch Anführungszeichen markierten Textstellen bilden die Mehrheit der ›Fragmente‹. Obwohl Nimuendajú häufig nicht die Namen der Sprecher nennt, ist es unmöglich, die Tatsache zu ignorieren, dass in den ethnographischen Texten die indigenen Stimmen – und nicht diejenige des Ethnographen - vorherrschend sind. Dass Anthropologen ihren Gesprächspartnern später in Texten eine Stimme geben, zählt heutzutage zwar zu den ethnographischen Standards, nicht jedoch zu Nimuendajús Zeiten. Dies erlaubt wiederum einen Vergleich mit dem innovativen Ansatz in ›Die Sagen von der Erschaffung und Vernichtung der Welt‹. Während Nimuendajú in seiner ersten wichtigen Monographie indigenen Erklärungen den Vorzug gibt, um eine neue Sicht auf ein historisch 79

bekanntes Phänomen zu bieten, zeigt er in den ›Fragmenten‹ hingegen keinerlei Absicht, irgendetwas zu erklären, z. B. durch den Vorschlag einer Hypothese über die Kultur der Xipaya. Trotzdem überwiegen die indigenen Stimmen. Und genau das ist der Unterschied zwischen den ›Fragmenten‹ und Nimuendajús späteren Monographien aus den 1930er und 1940er Jahren, die bereits auf den damaligen formalen Gestaltungsprinzipien und außerdem, zumindest in Teilen, auf Anregungen Robert Lowies (18831957) als Herausgeber beruhen. Im Fall der ›Fragmente‹ werden wir indirekt auf eine allgemeinere Fragestellung gestoßen, die mehrere Jahre lang in der jüngeren Anthropologie im Rahmen experimenteller kollaborativer Ethnographien diskutiert wurde: Wenn die Stimmen der Gesprächspartner anthropologischer Feldforscher nicht nur hoch geschätzt und daher vertrauenswürdig wiedergegeben werden, sondern auch die Mehrheit des ethnographischen Textes ausmachen, wer organisiert und strukturiert letztlich die Darstellung der Stimmen in ihrer publizierten Form? Dies stellte natürlich weder für Nimuendajú noch für andere Anthropologen seiner Zeit ein ernsthaftes epistemisches oder methodisches Problem dar, und es wäre wohl ziemlich banal, ihre Texte herabzuwerten, nur weil sie den Kriterien heutiger anthropologischer Forschungspraxis nicht mehr entsprechen. Ich denke, dass es eine konstruktivere Haltung ist, Nimuendajús Texte nach den Qualitätskriterien ihrer Zeit einzuschätzen und zu bewerten. Für die Anthropologen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestand keinerlei Zweifel, dass die Verantwortung für das Erstellen und Abfassen ethnograhischer Texte ausschließlich bei ihnen selbst lag. Und was Nimuendajús Forschung über die Xipaya betrifft, so deutet alles darauf hin, dass das soziale Ambiente seiner Feldforschung nichts mit dem zu tun hatte, was man sich als eine günstige Situation für eine sozial ausgeglichene anthropologische Forschungspraxis vorstellen kann. Die Beschreibungen im Brief vom 23.04.1920 ermöglichen es, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die Feldforschung unter endokolonialen Umständen stattfand, da die kleinen Gruppen der Xipaya in einer praktisch der Sklaverei entsprechenden Situation lebten. Unter aktuellen ethischen Gesichtspunkten wäre eine wissenschaftliche Forschung unter solchen Umständen wohl kaum zu rechtfertigen. Doch an wen hätte Nimuendajú seine Bedenken richten können? Er war kein unsensibler Beobachter. Seit der Zeit, als er im Bundesstaat São Paulo lebte, bis hin zu seinem Tod war er, ganz im Gegenteil, ein unnachgiebiger und strenger Kritiker der Art und 80

Weise, wie die indigenen Völker Brasiliens durch Regierungsstellen und die nicht-indigene Bevölkerung behandelt wurden. Daher ist es praktisch unvorstellbar, dass er nicht über seine Feldforschungssituation reflektiert hat, obwohl dies im Brief nicht deutlich wird. Wir können hingegen feststellen, dass sich der Ethnograph selbst in keiner Situation befand, welche ihm solidarische Maßnahmen gegen das Schicksal der Xipaya erlaubt hätte, ohne das eigene Leben zu riskieren. Obwohl er selbst nicht dem ausbeuterischen Regime des Kautschuksammelns unterlag, so war er doch den lokalen Despoten unterworfen und vollständig von diesen abhängig. Und die Kautschukbarone waren die Herren über Leben und Tod in den von ihnen kontrollierten Gebieten. Geschichten über die Brutalität des Senators Miranda Júnior (Alarcon & Torres 2014: 23-24) waren in der ganzen Region bekannt. Eine adäquatere Interpretation wäre wohl folgende: Nimuendajú führte seine Feldforschung in einer sehr heiklen Situation durch, wo ethnologische Neugier geduldet wurde, solange sie nicht die Ausbeutung des Kautschuks behinderte. Zum Abschluss Um auf das Zitat Münzels am Anfang dieses Artikels zurückzukommen: Es kann wenig Sinn machen »auf die unaufgearbeiteten eigenen Grundlagen jeweils irgendwelche Theorien komplett von außen draufzusetzen«. Beispielsweise oberflächliche Lektüren einiger Schlüsseltexte des anthropologischen Postmodernismus, um dann etwa zu einem Generalverdacht zu gelangen, der dem Ethnologen eine heimliche Komplizenschaft bei der wirtschaftlichen Ausbeutung der Xipaya unterstellt oder ihn als Helfer einer allgemeinen Verschwörung gegen die brasilianischen Indianer sieht (alles bereits geschehen). Aber was war das eigentlich für eine Ethnologie, die Nimuendajú bei und mit den Xipaya betrieb? Sie war auf jeden Fall improvisiert und beruhte auf der Nutzung sich irgendwie ergebender Gelegenheiten, besaß also keinen Plan. Die Xipaya wurden bereits seit dem 17. Jahrhundert von Missionaren, Reisenden und Wissenschaftlern erwähnt. Nimuendajú erwähnt beispielsweise Karl von den Steinen (1855-1929), Prinz Adalbert von Preußen (1811-1873) und Henri Coudreau (1859-1899). Außerdem hatte Snethlage drei Artikel mit ethnographischen Informationen über die Xipaya (Sneth-

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lage 1910, 1910 [1913], 1920/21) sowie eine kleine Arbeit über deren Sprache (1912) veröffentlicht. Aber Nimuendajús Artikel unterscheiden sich deutlich von denjenigen der Ornithologin Snethlage. Sie entstanden nicht nur unter sehr ungünstigen – widrigen – Umständen. Ihr Autor war außerdem Autodidakt, was sich insbesondere bei einer Reihe eher volkstümlicher und bisweilen sogar derber Ausdrucksweisen in den Artikeln bemerkbar macht, ohne dass es zu einem redaktionellen Eingriff der Kirchenmänner des ›Anthropos‹ gekommen wäre. Trotzdem fanden seine Artikel über die Xipaya breite Anerkennung in Fachkreisen. Haben wir es nun mit einer Episode aus der deutschen oder aus der brasilianischen Ethnologie zu tun? Das kommt wiederum auf den Standpunkt an. In der brasilianischen Anthropologie wurde Nimuendajú schon längst an prominenter Stelle in den Stammbaum der eigenen Geschichte eingefügt. Aus dieser Perspektive wäre die Frage schnell beantwortet, obwohl es schwerfällt, im Zeitraum von 1910 bis 1930 etwa eine Art Fachtradition in Brasilien auszumachen. Die hat sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet. Nimuendajú zitiert in seinen Briefen an Koch-Grünberg zwar brasilianische Autoren wie Edgar Roquette-Pinto (1884-1954) oder Capistrano de Abreu (1853-1927), aber er hat seine Fachkenntnisse vor allem durch die Lektüre wichtiger Werke der deutschsprachigen amerikanistischen Ethnologie erworben. Damit ließe er sich für den Zeitraum bis mindestens 1930 durchaus auch der deutschen Ethnologie zurechnen. Erst danach fing er an, einige Arbeiten auch in Brasilien zu veröffentlichen. Und wie hätte er selbst wohl die Antwort auf diese Frage gesehen? Der Briefwechsel mit Koch-Grünberg, der 2018 in einer zweisprachigen Edition beim Museu Goeldi in Belém erscheinen wird, lässt keinerlei Zweifel aufkommen: das ›wir‹, das in mehreren Briefen an Koch-Grünberg verwendet wird, bezieht sich nicht nur auf die gemeinsame Staatsangehörigkeit, sondern auch auf das Verständnis der ethnologischen Fachtradition. Nimuendajú hat sich als deutschen Ethnologen in Brasilien gesehen. Aber vielleicht ist die Frage ja auch letztlich unwichtig, und es kommt im geschichtlichen Rückblick mehr darauf an, wie gute Ethnologie gemacht wurde. Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich die Forschung Nimuendajús bei den Xipaya immer noch als eine interessante und anregende Episode aus der Geschichte sowohl der deutschen als auch der brasilianischen Ethnologie dar, die es ermöglicht, darüber zu reflektieren, was fazer antropologia zu anderen Zeiten und unter besonders schwierigen Umständen sein

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konnte und worauf es manchmal eben keine einfachen und schnellen Antworten gibt. Literatur Alarcon, Daniela Fernandes und Mauricio Torres 2014. ›Não tem essa lei no mundo, rapaz!‹ A Estação Ecológica da Terra do Meio e a resistência dos beiradeiros do alto rio Iriri. São Paulo: Instituto Socioambiental. Barbosa, Pablo Antunha 2013. A ›Terra sem Mal‹ de Curt Nimuendajú e a ›Emigração dos Cayuáz‹ de João Henrique Elliott: notas sobre as ›migrações‹ guarani no século XIX. Tellus 13 (24), 121-158. Barbosa, Pablo Antunha, Graciela Chamorro, Elena Welper und Nádia Heusi (Hg.) 2013. ›Dossiê Nimuendajú‹. Tellus 13 (24). Cardoso de Oliveira, Roberto 1988. O que é isso que chamamos de Antropologia brasileira? In: Roberto Cardoso de Oliveira (Hg.) Sobre o pensamento antropológico. Rio de Janeiro: Tempo Brasileiro, 109-128. Capiberibe, Artionka 2012. Palikur. Povos Indígenas no Brasil. São Paulo: Instituto Socioambiental, https://pib.socioambiental.org/pt/povo/palikur (16.11.2017). Fernandes, Florestan 1975. A investigação etnológica no Brasil e outros ensaios. Petrópolis: Vozes. Fischer, Manuela et al. (Hg) 2007. Adolf Bastian and His Universal Archive of Humanity: the Origins of German Anthropology. Hildesheim und New York: G. Olms. Haller, Dieter 2012. Die Suche nach dem Fremden: Geschichte der Ethnologie in der Bundesrepublik 1945-1990. Frankfurt am Main: Campus. Kraus, Michael 2004. Bildungsbürger im Urwald: Die deutsche ethnologische Amazonienforschung (1884-1929). Marburg: Curupira. Lommel, C. W. o.J. Fragmentos de religião e tradição dos índios Sipaias: contribuições ao conhecimento das tribus de índios da região do Xingu, Brasil Central. Maschinengeschriebenes Manuskript. Museu Nacional (MN), Universidade Federal do Rio de Janeiro (UFRJ), Centro de Documentação de Línguas Indígenas (CELIN), 712-G2-0008-1.

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Heike Drotbohm

Die Crux der kulturellen Fixierung Indigene, quilombolas und die Manöver der Fürsprache einer angewandten Ethnologie in Brasilien Es ist nun schon eine Weile her, dass ich mit KollegInnen vom ›Departamento de Antropologia‹ der Universität von Brasília zusammensaß. Das Gespräch kam auf die Probleme einer portugiesischen Ethnologin, die eine Auftragsforschung für die ›Fundação Nacional do Índio‹ (FUNAI) erstellt hatte. Einer der Anwesenden erklärte, dass dieser Bericht, in dem es um die Demarkierung des Siedlungsgebiets einer Indigenengruppe ging, zwar von der FUNAI, nicht aber von den Indios akzeptiert worden sei. Die schwierige Situation der Portugiesin wurde folgendermaßen kommentiert: Es sei heutzutage hochriskant, ein solches Gutachten zu schreiben. Diese Dinge seien in den vergangenen Jahren extrem kompliziert geworden. Jemand sagte, ein laudo, ein Gutachten, sei eine andere Textform, keine Ethnographie, da gehe es nicht mehr um Interpretationen! (Er erntete zustimmende Lacher). »Es ist wirklich riskant, heutzutage ein solches Gutachten zu schreiben, man kann sich damit nur Feinde machen«, fügte erklärend mein netter Sitznachbar hinzu. »Wer gestern noch Indio war, wird heute zum quilombolo«, ergänzte der Kollege, der das Thema aufgebracht hatte, mit einem ironischen Lächeln. »Und will am Ende nichts von beidem sein«. Im Folgenden werde ich einige Überlegungen zu dem sich hier andeutenden Spannungsverhältnis anstellen, das sich zwischen einer politischen Festschreibung von Minderheitenrechten, deren Koppelung an kulturelle Merkmale und der mitunter holprig verlaufenden politischen Anerkennung dieser Rechte aufspannt. Dabei interessiert mich auch die heikle Position der ExpertInnen, häufig EthnologInnen, deren Stellungnahmen und Gutachten Legitimationen der Berechtigung formulieren, um auf diese Weise die Ansprüche von Minderheiten zu unterstützen. Mark Münzel stellte schon vor mehr als dreißig Jahren fest, dass die Frage, was ethnische oder 87

kulturelle Minderheiten eigentlich seien, eine gleich einem ›Schlachtruf‹ geführte politische Streitfrage sei, die ohne die damalige ›Indianerpolitik‹ kaum gedacht werden könne (Münzel 1985: 7). Seine Überlegungen, die heute nach wie vor von großer Aktualität zeugen, werde ich gegen Ende meiner Darstellung wieder aufgreifen. Zunächst fasse ich im Folgenden kurz jenen Prozess zusammen, aus dem die beiden hier im Zentrum stehenden Minderheiten, Indigene und quilombolas, als voneinander unterscheidbare soziale Einheiten hervorgegangen sind. Die versetzte Zeitlichkeit dieser Kategorisierungen und deren Institutionalisierung findet, wie sich anschließend zeigen wird, ihre Entsprechung in der historischen Herausbildung der brasilianischen Ethnologie. Veranschaulichen werde ich meine Überlegungen nicht an eigenem Datenmaterial, da ich zu diesem Thema nicht empirisch gearbeitet habe. Ich werde mich auf drei Fallbeispiele aus Forschungen dreier Ethnologinnen beziehen, um zu zeigen, wie kompliziert die politische Rahmung und die postlegislatorische Umsetzung der spezifischen Minderheitenrechte in Brasilien verlaufen können. Abschließen werde ich meine Überlegungen mit der Frage, wie sich eine Ethnologie gegenüber derartigen Konfliktkonstellationen und vor allem gegenüber einem operationalisierten Kulturbegriff verorten kann. Die Wahrnehmung und Rahmung von kulturellen Minderheiten in der brasilianischen Geschichte Die ethnische oder ›rassifizierte‹ Kategorisierung von kulturellen Minderheiten sei zunächst vor dem Hintergrund der brasilianischen Nationalgeschichte eingeordnet, in deren Verlauf indigene und afrostämmige Gruppen unterschiedliche Positionen zugewiesen bekamen. Auf der einen Seite hatte ›das Indigene‹ einen markierten Platz als integrales Element der portugiesischen Kolonie. Schon vom 16. Jahrhundert an befasste man sich mit der Frage, wie Portugiesen und Indigene zusammenleben sollten, ob diese bspw. heiraten dürften, ob die indigene Arbeitskraft in der Plantagenökonomie ausgebeutet werden dürfe oder ob Indigene, wie von katholischen Missionaren praktiziert, in separierte Lebensräume überführt werden sollten, um sie zu schützen. Entscheidend ist hier, dass sie auf diese Weise, so Peter Wade (2009), schon früh eine institutionalisierte ›Identität‹ im nationalen Panorama zugewiesen bekamen. Im Gegensatz dazu entbehrten 88

›schwarze Brasilianer‹ dieser politischen Eindeutigkeit und ihrer terminologischen und rechtlichen Entsprechung. Einerseits waren die aus Afrika verschleppten Sklaven auf den Plantagen als Ware und Arbeitskraft konzipiert und zu kontrollieren, nicht zu schützen (Wade 2010: 26). Anderseits gab es auch geflüchtete Sklaven oder freie Afrikaner in Brasilien, für die sich im Laufe der Zeit eine Variation an Begriffen entwickelte, je nach legalem oder beruflichem Stand. Im Anschluss an die nationale Unabhängigkeit im Jahre 1822, vor allem aber im Verlauf des 20. Jahrhunderts, favorisierte Brasilien, ähnlich wie andere lateinamerikanische Nationen, eine ›fortschrittsorientierte Rassendemokratie‹, wie sie von Gilberto Freyre (1900-1987) formuliert worden war. ›Rasse‹, nicht kulturelle Differenz, entwickelte sich in dieser Zeit zu einem bedeutenden Unterscheidungsmerkmal und ›Rassenmischung‹, mestiçagem, wurde zu einem politischen Instrument, das im Zuge der Förderung europäischer Einwanderung einen Prozess des branqueamento, der ›Weißwerdung‹ verhieß. Afrobasilianer wurden im Zuge dessen zunächst auf der untersten Stufe eines biologistischen Gesellschaftsgerüstes angesiedelt und man erwartete, dass sich kulturelle Unterschiede im Laufe der Zeit ›biologisch auswachsen‹ würden (Skidmore 1993). Parallel dazu wurde die indigene Sonderstellung im Zuge der indigenismo-Ideologie fortgeführt. Indigene wurden als Repräsentanten einer ›ursprünglichen‹, schützenswerten Kultur betrachtet, die eine besondere Fürsorge von Seiten der Kirche, des Staates und der intellektuellen Elite des Landes bedurfte (Wade 2010: 33). Das brasilianische Konzept des Indigenismus stützte sich dabei schon früh auf Landrechtsfragen, die vor allem von Institutionen wie dem 1910 gegründeten ›Serviço de Proteção ao Índio‹ (SPI), geregelt wurden, der dann 1967 in die schon erwähnte FUNAI überging (Da Cunha 1986). Einen entscheidenden Wendepunkt stellte nach dem Ende der Militärdiktatur die im Jahre 1988 von Brasilien verabschiedete Verfassung dar, die auch die Frage, wie ethnische Minderheiten definiert und in die Gesamtgesellschaft integriert werden, neu regelte. Indigene werden darin nicht mehr als schützenswerte kulturelle Einheit, sondern als Bürger des Staates beschrieben, die das Recht haben, eine gesonderte kulturelle Identität aufrecht zu erhalten. Dem Staat kommt damit – später konkretisiert in Anlehnung an das Übereinkommen 169 der ILO – der Auftrag zu, terras indigenas zu identifizieren, zu demarkieren und zu schützen (Stocks 2005: 91). Außerdem wird der Beitrag ›schwarzer Gruppen‹ zum Erbe der Nation hier zum ersten Mal explizit genannt. Die Verfassung enthält einen Artikel, der 89

lautet: »Nachkommen von Quilombo-Gemeinschaften, die Land besetzten, werden als dessen endgültige Besitzer anerkannt und der Staat wird ihnen die entsprechenden Rechte übertragen« (Art. 68) (French 2006: 341). Bevor ich auf die praktischen Folgen dieser rechtlichen Änderungen eingehe, beleuchte ich zunächst das Verhältnis zwischen der brasilianischen Ethnologie, die sich etwa im gleichen Zeitraum an den brasilianischen Universitäten etablierte, und diesen Minderheitenfragen, denen sie nicht neutral gegenüberstand. Versetzte Hinwendung in der brasilianischen Ethnologie Die zuvor beleuchteten unterschiedlichen Geschwindigkeiten im Umgang mit beiden Minderheiten ›Indigene‹ und ›Afros‹ findet ihre Entsprechung in der Geschichte der brasilianischen Ethnologie. Deren universitäre Institutionalisierung begann in den 1930er Jahren, als ausländische Wissenschaftler, wie beispielsweise der als französischer Soziologe an die Universität von São Paolo berufene Claude Lévi-Strauss, auf die neuromantische Indianerbegeisterung brasilianischer Intellektueller trafen. Vergleichbar mit den US-amerikanischen Trends dieser Zeit setzte sich die Ethnologie mit der drohenden Dezimierung indigener Gruppen auseinander, deren Lebensweisen dokumentiert werden sollten, bevor sie untergingen (LéviStrauss 1978 [1955]). Die brasilianische Ethnologie war dabei schon früh politisch-aktivistisch und äußerte sich lautstark und kritisch gegenüber der voranschreitenden Ausbeutung natürlicher Ressourcen und den Folgen für die Lebensräume von Indigenen. Ihr Engagement als Fürsprecher der Indigenen gegenüber staatlichen Einrichtungen wurde und wird in der brasilianischen Gesellschaft als einflussreiche Stimme deutlich wahrgenommen. Eine vergleichbare ethnologische Fürsprache mussten Afrobrasilianer bis in die 1980er Jahre entbehren, obwohl sie den Indigenen zahlenmäßig in Brasilien sogar überlegen waren und es bis heute sind (Hooker 2005: 298). Ruette zufolge werden sie häufig als nicht ausreichend ›anders‹ oder als inauthentisch angesehen (Ruette 2011). Im Gegensatz zu Indigenen waren die vorwiegend in den Städten lebenden Afrobrasilianer weit weniger sichtbar und wesentlich schwächer politisch organisiert. Schließlich hatte es bis dato auch kaum ein Motiv gegeben, sich öffentlich, vielleicht abgesehen von einer Musik- oder Kunstszene, als negro, oder als Nachkommen von quilombolas, zu identifizieren (Boaventura Leite 2010, Costa 2012). Die 90

Identifikationsprozesse von Afrobrasilianern sind also, wie zuvor erläutert, vergleichsweise jung. Unmittelbar nach den zuvor erläuterten rechtlichen Änderungen von 1988 wurde von staatlicher Seite gefordert, dass Anwärter auf den quilombo-Status ihre Abstammung von geflüchteten Sklaven mittels entsprechender Dokumente beweisen sollten. Doch dieser Form der Rechtsumsetzung wurde widersprochen, da zwar einige afrobrasilianische Gemeinschaften über ein Geburtenregister verfügten, die meisten Bewohner jedoch ihre verbriefte Abstammung von Sklaven nicht nachweisen konnten – bzw. nicht wollten. Nach wie vor war negro eine deutlich benachteiligte bzw. stigmatisierte soziale Kategorie. Aber dann engagierten sich politische Aktivisten, Nichtregierungsorganisationen aus der Schwarzenbewegung, die für quilombos zuständige Palmares-Stiftung und eine Arbeitsgruppe der ›Associacão Brasileira dos Antropologos‹ (ABA) für eine Entromantisierung und eine Konkretisierung schwarzer Identitäten. In diesem Rahmen wurde angesichts der scheinbaren Assimilierung afrobrasilianischer Gruppen in die brasilianische Mehrheitsgesellschaft dafür plädiert, Schwarzsein als Identitätskonzept durch ›Ethnizität‹ zu ersetzen. Entscheidend seien zwar nach wie vor Elemente, wie eine kollektive Vergangenheit, gemeinschaftliche Subsistenzwirtschaft, aber vor allem die Selbstidentifizierung als eine afrobrasilianische Gruppe, die sich dem ›schwarzen Widerstand‹ verpflichtet sieht (French 2006: 342). Zu diesem Zeitpunkt wurden erneut EthnologInnen konsultiert, die, ebenso wie im Falle der Indigenen, bestätigen sollten, ob die Selbstidentifizierung einer Gruppe, die ihre Abstammung von quilombos deklariert, von staatlicher Seite anzuerkennen sei. Dass diese Identifikations- und Verrechtlichungsprozesse alles andere als unkompliziert verlaufen, deutete sich schon eingangs meiner Überlegungen an. Anhand von drei sehr unterschiedlichen Anerkennungsprozessen werde ich dies im Folgenden veranschaulichen. Die Fallstudien Die erste Studie wurde von der US-amerikanischen Ethnologin Jan Hoffman French durchgeführt, die seit Ende der 1990er Jahre im brasilianischen Bundesstaat Sergipe forschte (French 2004, 2006, 2009). Sie konzentrierte sich in ihrer Arbeit auf die historischen Entwicklungen in zwei Dörfern, Mocambo und Ilha de São Pedro, deren Bewohner sich im Laufe 91

der Zeit unterschiedlichen sozialen Gruppen zuordneten. Das zweite Fallbeispiel liefert die Arbeit von der ebenfalls aus den USA stammenden Ethnologin Mary Kenny, die Anfang der 2000er in Talhado, einem Dorf, das etwas nördlich im Bundesstaat Paraíba liegt, forschte (Kenny 2011). Das dritte Fallbeispiel behandelt einen Konflikt im Süden Bahias, der von der brasilianischen Ethnologin Susana de Matos Viegas (Viegas 1998, 2010) bearbeitet wurde. 1. Fallbeispiel: Mocambo – Ilha de São Pedro Im brasilianischen Bundesstaat Sergipe liegen am Fluss São Francisco zwei Dörfer in unmittelbarer Nachbarschaft: Das erste ist Mocambo und auf der gegenüber liegenden Flussseite befindet sich das Dorf Ilha de São Pedro. Die Bewohner beider Dörfer unterscheiden sich weder in ihrer Alltags- und Wirtschaftsweise oder in phänotypischer Hinsicht. Auch Heiraten, Kooperationen und Tauschbeziehungen zwischen den Dörfern waren üblich. In den 1970er Jahren kamen mehr und mehr Landarbeiter in dieses Gebiet, das damals partiell noch ungenutzt war. Durch Kontakte mit der in dieser Zeit stärker werdenden internationalen Bewegung für Indigene, EthnologInnen und einer Nichtregierungsorganisation (NRO) kamen Führungspersönlichkeiten des Dorfes Ilha de São Pedro auf die Idee, sich als ›indigene Gruppe‹ registrieren zu lassen (French 2009: 55-56). Zwar hatten sie sich bis dahin als caboclos bezeichnet, eine sowohl von indigenen als auch von europäischen Vorfahren abstammende Mischbevölkerung, und entbehrten außerdem einige Merkmale, die üblicherweise für eine Identifizierung als Indigene nötig gewesen wären (vor allem fehlte eine eigene Sprache oder die Erinnerung an Reste einer solchen oder an indigene Kulturelemente sowie eine dokumentierte Abstammung von indigenen Vorfahren, die dieses Gebiet zuvor bewohnt und das Land bearbeitet hatten). Im Verlauf eines langwierigen rechtlichen Anerkennungsverfahrens setzten die Dorfbewohner ihre Interessen jedoch durch, indem sie einen bestimmten Tanz, die Verwendung halluzinogener Drogen, spirituelle Bande und vor allem die kollektive Landnutzung als ethnische Merkmale identifizierten. Darüber hinaus hatte just in dieser Zeit eine Ethnologin gemeinsam mit einem Rechtswissenschaftler das Buch ›Terra dos Indios do Xocó‹ verfasst, in dem die indigenen Wurzeln dieser Region beschrieben wurden (French 2009: 54). Fortan bezeichneten sich die Bewohner des Dorfes Ilha de São Pedro als Xocó-Indianer.

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Meine Beschreibungen mögen nach einer sauberen kollektiven Opportunitätsentscheidung für die Durchsetzung von Landnutzungsinteressen klingen. Wie die erwähnte Ethnologin in ihrer äußerst gründlich recherchierten Arbeit jedoch deutlich macht, handelte es sich hier vielmehr um ein mitunter gewalttätig verlaufendes Gerangel zwischen unterschiedlichsten Fraktionen, wie den Dorfbewohnern, anderen Landnutzern, benachbarten Bauern, in der gleichen Region lebenden indigenen Gruppen, NROs, RegierungsvertreterInnen und EthnologInnen, das sich bis in die 1990er Jahre hinzog. Diese Feststellung ist wichtig, denn mit der rechtlichen Zuerkennung dieses Landes wurden einige Bewohner der Region, die dieses Gebiet saisonweise ebenfalls genutzt hatten, vor allem im Bereich der Landbearbeitung benachteiligt. Das Nachbardorf Mocambo blieb zunächst von diesen Entwicklungen unberührt. Gegen Ende der 1990er Jahre begann man dort jedoch, die sogenannte Quilombo-Klausel in Artikel 68 der brasilianischen Verfassung, in der Nachfahren ehemaliger quilombos ein rechtmäßiger Zugang zu dem entsprechenden Territorium garantiert wurde, öffentlich zu diskutieren. Im Zuge dessen erhielten einzelne Dorfbewohner im Bemühen, sich als quilombo registrieren zu lassen, Unterstützung von politischen Aktivisten und NROs, um sie in dem Landnutzungskonflikt gegenüber ihren Nachbarn zu stärken. Zunächst ignorierte French zufolge die brasilianische Regierung das an sie herangetragene Anliegen der Bewohner Mocambos, da es diesen nicht möglich war, ihre gemeinschaftliche Abstammung oder, z. B. anhand der Praktizierung einer afrobrasilianischen Religion, ihre ›schwarze Identität‹ zu belegen. Doch die schon erläuterte, just in dieser Zeit in Kraft tretende Lockerung der Kriterien für die Anerkennung des quilombo-Status, gab den Dorfbewohnern eine gute Argumentationsgrundlage. Zwar hatten sie sich bis dato noch nie, wie French feststellte, mit der Sklaverei auseinandergesetzt (French 2009: 158). Nun aber wurde diese zu einer Metapher für die Leiden ihrer Urgroßväter, die bei der Bearbeitung dieses Landes schon im 19. Jahrhundert ausgebeutet worden waren. In dem Bestreben, legale Landnutzungsrechte zugeteilt zu bekommen, bearbeiteten die Bewohner Mocambos ihre Mittel der Selbstrepräsentation, u. a. durch die Gründung eines Vereins und vor allem durch die wiederholte Aufführung eines Theaterstücks, das die geschichtliche Grundlage ihrer Gemeinschaft zum Thema hatte. French stellt in ihrem Artikel ›Mestizaje and Law Making in Indigenous Identity Formation in Northeastern Brazil‹ deutlich heraus, wie im Verlauf wiederholter Aufführungen dieses Theaterstücks bestimmte 93

Kulturmarker wie Familie, Abstammung, Hautfarbe und die harte Arbeit auf Reis- und Baumwollplantagen als bedeutungsvolle Elemente einer afrobrasilianischen Kultur sukzessive in dieses Theaterstück hineingeschrieben wurden (French 2004). Letzten Endes gingen also die Bewohner der beiden benachbarten Dörfer als eindeutig verschieden konzipierte ethnische Gruppen aus diesen postlegislatorischen Prozessen hervor. 2. Fallbeispiel: Talhado Ich komme nun zu meinem zweiten Fallbeispiel. Die im ländlichen Inneren, im sertão des brasilianischen Bundestaates Paraíba, lebenden Talhados identifizierten sich bis vor kurzem nicht als quilombo-Nachkommen. Einer Studie der US-amerikanischen Ethnologin Mary Kenny zufolge sahen sie sich bis zum Jahr 2004 als arme Bauern, wie ihre Nachbarn auch. Doch dann initiierte eine besonders aktive Dorfbewohnerin einen Workshop, an dem Angestellte des Bildungsministeriums und EthnologInnen mitwirkten, um die ethnischen Marker zu identifizieren, anhand derer klarwerden sollte, dass es sich hier um die Nachfahren von quilombos handelt. Als besondere Kennzeichnen der Talhado galten fortan: Verwandtschaftsbande, Endogamie, traditionelle Autoritätsformen, die gemeinschaftliche Landnutzung und eine bestimmte Form der nicht-industriellen Töpferei (Kenny 2011: 99). Auf dieser Basis wurden sie als quilombo anerkannt, erhielten ein entsprechendes Zertifikat (Kenny 2011: 94) und genossen fortan nicht nur Zugang zu unterschiedlichen Formen staatlicher Unterstützung, sondern auch ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit: Forscher, Journalisten, Mitarbeiter der Weltbank besuchten Talhado, Repräsentanten der Gemeinschaft wurden eingeladen, ihre Kultur auf akademischen Kongressen zu präsentieren, Musiker aus Talhado reisten nach Europa und in die USA. Trotz dieser offensichtlichen Ressource, die ihrer ethnischen Identität im Zuge dieses Prozesses zugute gekommen war, beschäftigten sich die Akteure selbst nach wie vor mit der Frage, ob die Markierung ihrer Identität als quilombo-Nachkommen tatsächlich als Vorteil gewertet werden kann. Zum einen darf grundsätzlich das Land, das einem quilombo zugesprochen wird, nicht als individuelles, sondern lediglich als kollektives Land genutzt werden. Damit soll die ökonomische Besserstellung Einzelner vermieden werden. Die Talhados sehen darin jedoch, so Kenny, eine Art Ghettoisierung. Darüber hinaus hadern vor allem die Frauen mit der in dem quilomboZertifikat festgeschriebenen Bedeutung der Töpferei. Sie sind es nämlich, 94

die dieses Handwerk vorwiegend ausführen, und erklären, dass sie diese mühsame Produktionsweise, für die sie lange Stunden auf dem Lehmboden hocken müssen, sofort gegen eine andere tauschen würden, wenn das möglich wäre. Kenny schreibt: For quilombolas who do not make pottery, the loiceiras remind them of a past better left forgotten, a time of intense physical labor and difficulty, when the pots would have to be strapped to a donkey in order to make the arduous journey down the rugged mountain to the town market once a week. Pots always fell and broke into pieces, indicating loss of income … Like poor quality food, clothing, and homes, earthenware is a material emblem of low status (Kenny 2011: 104). Töpferei hat Kenny zufolge primär einen symbolischen Wert, indem sie die traditionelle Bindung der Gemeinschaft an die Erde markiert, aber keinen monetären. In den Haushalten benutzt man viel lieber billigere und praktischere Aluminiumtöpfe. Eine Änderung der sozialen Praxis würde jedoch bedeuten, ein kulturelles Merkmal zu opfern, anhand dessen die Unterscheidbarkeit dieser Gruppe festgemacht worden war. 3. Fallbeispiel: Indios de Olivença Bevor ich mich abschließend den kritischen Fragen zuwende, die sich aus derartigen Konstellationen ableiten lassen, kehre ich kurz zurück zu der Zwickmühle, die sich eingangs dieses Kapitels andeutete. Die brasilianische Ethnologin Susana Matos Viegas arbeitete bei den Tupinambá von Olivença, deren Siedlungsgebiet im südlichen Bahia an den Atlantik anschließt. Die Ethnologin hatte die Tupinambá bei der Abgrenzung und bei der rechtlichen Absicherung ihres Territoriums unterstützt, doch dieser Prozess hatte sich von 2003 bis 2008 hingezogen, da die Gruppe Teile der Küstenlinie für sich beanspruchte. Diese gilt als eine besonders kostbare Region, die nicht nur von dieser indigenen Gruppe, sondern gleichzeitig auch von Großinvestoren des Tourismus und von der Küstenschutzpolizei beansprucht wird (Viegas 2010: 148). Als die Ethnologin den Tupinambá ihren Gebietsmarkierungsbericht vorlegte, beklagten sich diese, dass das darin gekennzeichnete Territorium viel zu klein sei. Darüber hinaus beschwerte sich die nach einem Kompromiss mit nicht-indigenen Macht-

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gruppen suchende FUNAI, dass das markierte Land Teile der Küste umfasst. Dies sei eben ein nicht ›typischer‹ indigener Lebensraum, was zu Konflikten auf staatlicher Ebene führen werde. In ihren Texten zeichnet die Ethnologin die vielfältigen Konfliktlinien nach, die sich im Laufe dieses Anerkennungsprozesses zwischen Indigenenvertretern, NROs, Ethnologen und Regierungsvertretern auftaten. Letzten Endes stellten die Tupinambá in Frage, ob die Zuerkennung des Indigenenstatus überhaupt Vorteile gebracht habe, eigentlich seien sie doch Caboclos, außerdem stammten sie von der ältesten Jesuitengemeinschaft Brasiliens ab, ihr Gebiet sei ein ›Sítio do Descobrimento‹ (ein Ort der Entdeckung) und eigentlich wollten sie doch nur ihre Ruhe haben. Mit dem Titel des Aufsatzes ›Índios Que Não Querem Ser Índios‹, Indianer, die keine Indianer sein wollen, fängt Susana Viegas (Viegas 1998: 107) den eigentlichen Konflikt ein, der sich im Laufe dieses Prozesses entwickelt hatte: Während es den Indigenen um eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Bedürfnisse ging (Zugang zu bedeutenden Lokalitäten und zur Küste, Fortführung ihrer Lebensweise etc.), waren andere Akteure an einer Bestimmung und damit Fixierung ihrer Identität interessiert, deren Relevanz für die Indigenen zweitrangig oder sogar fragwürdig waren. Fazit In allen drei Fällen haben wir es mit Ethnisierungsprozessen zu tun, in deren Verlauf lokale Identitätspolitiken einzelner Minderheiten mit nationalen Förderprogrammen zusammenspielen, die entlang kultureller Kategorisierungen angeordnet sind. Dabei ist unübersehbar, dass diese Prozesse nicht nur, aber auch, aus Opportunitätserwartungen heraus entstanden sind, die vor allem mit Gebietsansprüchen und Landrechtsfragen in Verbindung stehen. Das ist kein Zufall: »Land as territory is the fruit of social narrative in the context of tension in which diverse groups confront each other« (Gusmão 1996: 19) schrieb die brasilianische Ethnologin Neusa Gusmão schon im Jahre 1996. Diese Feststellung gilt heute mehr denn je in Brasilien. Landkonflikte sind Ressourcenkonflikte, anlässlich derer kulturelle Minderheiten in das nationale Projekt eingebunden werden und ihre Bürgerrechte einfordern können – und häufig auch wollen. EthnologInnen waren an der Unterstützung dieser Forderungen schon früh beteiligt. Ein

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nicht-essentialistischer Ethnizitätsbegriff wurde in diese rechtlichen Anerkennungsprozesse eingeführt und es wurde dafür plädiert, die Selbstidentifikation als Kriterium für die Anerkennung als Gruppe zugrunde zu legen. Auf diese Weise wurde es ermöglicht, die rechtliche Benachteiligung afrobrasilianischer Gruppen gegenüber Indigenen als aufgewertete first-comers zu korrigieren. Anhand der hier zusammengestellten Beispiele wurde erkennbar, dass Ethnizität in diesen Konstellationen auf eine jeweils spezifische historische Erfahrung verweist, die als kollektiv bzw. kollektivierend empfunden wird. Neben diesem diachronen Moment stehen synchrone Identifikationsmodi wie identitätsvermittelnde Texte, kulturelle Medien oder Artefakte. Kompliziert wird die Sache, weil sich die Akteure, um deren Besserstellung es gehen soll, sich dabei letzten Endes mit einer Paradoxie konfrontiert sehen: Einerseits wird ›Kultur‹ auf bestimmte Marker festgelegt, die Adam Kuper zufolge als rückwärtsgewandte ›Primitivisierung‹ bezeichnet werden können (Kuper 2003). Das Festhalten an unbequemer und unrentabler Töpferei – um zu einem der Fallbeispiele zurückzukehren – wird zu einer Art Zwangsjacke und nicht alle involvierten Akteure sehen das Ergebnis dieser Verläufe als positiv. Andererseits versprechen sich sowohl Indigene als auch Afrobrasilianer im Zuge der Bestätigung und Verrechtlichung ihrer ›kulturellen Identität‹ Zugang zu staatlichen Ressourcen: Nicht nur wirtschaftliche Besserstellung, sondern auch technischen Fortschritt, Zugang zu Bildung und zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung. ›Kultur‹ wird in einem derart multi-referentiellen Kontext zu einem Bindeglied zwischen Folklorisierung und Modernisierungsbestreben. Mark Münzel schrieb 1985 vor dem Hintergrund einer kritischen Auseinandersetzung mit der Kanalisierung indigenistischer Politik in Organisationsformen, die eigentlich nicht den Artikulationsformen indigener Akteure entsprechen, und der damit einhergehenden Instrumentalisierung des Kulturellen in politischen Zusammenhängen: Die europäische Solidaritätsbewegung feiert vielfach nicht deren Selbstfindung, sondern ihre Einreihung in disziplinierte Marschkolonnen der europäischen Zivilisation: Genossenschaften … Lobbyverbände, parteiähnliche Organisationen, Kongresse mit zivilisierter Papierflut, kurz, all das, was eben nicht den Medizinmann, sondern den Funktionär fördert – und was, wie man einräumen und als Argument für diesen 97

Wandel anführen muß, uns den indianischen Diskurs vielfach überhaupt erst verständlich macht (Münzel 1985: 15). Ein angemessener Ansatz wäre sicherlich, Minderheiten, seien es Indigene, Afrobrasilianer oder aber auch spätere Einwanderer nach Brasilien, wie Deutsche oder Japaner, nicht mehr getrennt voneinander zu betrachten, sondern sich kritisch mit öffentlichen Politiken (policies) zu befassen, innerhalb derer partikulare Deprivationserfahrungen und Anspruchshaltungen einzelner Bevölkerungsanteile in ethischer, politischer und rechtlicher Hinsicht unterschiedlich bewertet und evtl. hierarchisiert werden. Über einen solchen Zugang wäre es ggf. möglich, einem Intersektionalitätsansatz folgend, nicht nur Ethnizität, sondern auch Geschlecht, Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht oder andere Personenmerkmale einzubeziehen. Konsequenter als bisher wären auch Forschungen über die Binnenperspektiven sämtlicher an diesen Prozessen beteiligen Akteure (MitarbeiterInnen von NROs, RegierungsvertreterInnen, Mitglieder von sozialen Bewegungen, Medienvertreter, weitere Wissens- oder Politikdomänen), um tatsächlich deren Deutungen von Benachteiligungen und die Ziele politischen Handelns nachvollziehen zu können. Werden die Handlungen solcher flankierender Akteure vornehmlich aus der Perspektive der ›Zielgruppe‹ oder ›Indigenen‹ betrachtet, können andere Akteure lediglich als unreflektierte Störfaktoren erscheinen – was meiner Ansicht nach wenig Erkenntnisgewinn verspricht. Darüber hinaus sind diese Konstellationen auch ein Anwendungsbeispiel, das die Frage aufwirft, warum oder inwieweit derartige Gruppenbildungsprozesse, die offensichtlich auch nach Innen fragmentiert verlaufen und nicht von allen Gruppenmitgliedern geteilt werden, aufgrund ihrer Zweckgerichtetheit als ›inauthentisch‹ bezeichnet werden. Konkurrierende politische Formationen, die Interessen an den gleichen Ressourcen haben, versuchen, die argumentative Grundlage derartiger Prozesse als ideologisch zu entlarven und ihnen damit in letzter Konsequenz ihre Legitimität abzusprechen. Diese Frage treibt auch die Ethnologie um, denn die hier skizzierten Konflikte erfahren ihre Konkretisierung anhand einer Inwertsetzung von ›Kultur‹; ein Geschäft, in das sich Ethnologen schon vor langer Zeit als zentrale und legitimierende Zwischenhändler eingeschaltet haben (Comaroff und Comaroff 2009).

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Meiner Ansicht nach können wir uns als Ethnologen nicht einfach aus dieser Zwickmühle befreien, indem wir erwidern, dass wir die Rückwirkung unseres flexiblen Kulturbegriffs in die starren Kategorien der Rechtsprechung ohnehin nicht gutheißen und dass diese Art von ›Nutzung‹ von Kultur unserer Arbeitsweise widerspricht. Die hier angeführten Beispiele sollten verdeutlicht haben, dass Ethnologinnen und Ethnologen, in jedem Fall politisch handelnde Akteure, nachhaltig daran beteiligt sind, ›kulturelle Identität‹ als Kategorie der Praxis mitzugestalten. Gleichzeitig erkennen wir allzu deutlich, dass ›Kultur‹ nicht uns gehört, sondern dass zahlreiche unterschiedlich positionierte und ermächtigte Akteure daran beteiligt sind, Kultur ebenso wie einen Begriff von Kultur zu formen. Letztlich trägt unsere Fürsprache ganz pragmatisch dem Umstand Rechnung, dass anhand von ›groupisms‹ (Brubaker und Cooper 2000) innerhalb des nationalen Gefüges nach wie vor ein stärkerer Geltungsanspruch formuliert werden kann als anhand von individuellen Belangen und Bedürfnissen. Von Mark Münzel habe ich während meiner Studien- und Promotionsjahre gelernt, dass keine Position jemals eine abgeschlossene sein kann. Jeder Standpunkt vermittelt neue Perspektiven, verschiebt den eigenen Horizont und eröffnet neue mögliche Formen der Auslegung, die einladen, ehemals die vermeintliche Richtigkeit von schon Gewusstem zu hinterfragen. Wenngleich die folgende Behauptung vermutlich seinem Bedürfnis nach eindeutiger politischer Positionierung widersprechen würde: Eine offene und andauernde Suchbewegung in derartige Begegnungs- und Aushandlungsprozesse einzuspeisen, kann der Sinn einer angewandten Ethnologie sein, die einen moralisch eindeutigen Standpunkt vermeidet, sondern sich dafür engagiert, konkurrierende Referenz- und Handlungsrahmen zu übersetzen und sie damit nachvollziehbar und dialogfähig zu machen. Literatur

Boaventura Leite, Ilka 2010. Humanidades Insurgentes: Conflitos e Criminalização dos Quilombos. Caderno de Debates Nova Cartografia Social 1 (2), 17-40. Brubaker, Rogers und Frederick Cooper 2000. Beyond Identity. Theory and Society 29, 1-47.

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Comaroff, John und Jean Comaroff 2009. Ethnicity, Inc. Chicago: University of Chicago Press. Costa, Sergio 2012. Freezing Differences: Politics, Law and the Invention of Cultural Diversity in Latin America. In: Kathya Araujo und Aldo Mascareno (Hg.) Legitimization in World Society. Farnham: Ashgate, 139156. Da Cunha, Manuela Carneira 1986. Antropologia do Brasil. Mito, historía, ethnicidade. São Paolo: Ed. da Universidade de São Paolo. French, Jan Hoffman 2004. Mestizaje and Law Making in Indigenous Identity Formation in Northeastern Brazil: ›After the Conflict Came the History‹. American Anthropologist 106 (4), 663-674. —— 2006. Buried Alive: Imagining Africa in the Brazilian Northeast. American Ethnologist 33 (3), 340-360. —— 2009. Legalizing Identities: Becoming Black or Indian in Brazil’s Northeast. Chapel Hill: University of North Carolina Press. Gusmão, Neusa Maria Mendes de 1996. Da Antropologia e do Direito. Impasses da Questão Negra no Campo. Palmares em Revista 1, 1-13. Hooker, Juliet 2005: Indigenous Inclusion / Black Exclusion: Race, Ethnicity and Multicultural Citizenship in Latin America. Journal of Latin American Studies 37 (2), 285-310. Kenny, Mary Lorena 2011. Making Heritage in Brazilian Quilombos. Antipod: Revista Antropologica e Archeol 12, 91-111. Kuper, Adam 2003. The Return of the Native. Current Anthropology 44 (3): 389-402. Lévi-Strauss, Claude 1978 [1955]. Traurige Tropen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Münzel, Mark 1985. Der vorläufige Sieg des indianischen Funktionärs über den indianischen Medizinmann in Lateinamerika. Anmerkungen zum europäischen Diskurs über ethnische Minderheiten in der Dritten Welt. Peripherie 20: 5-17. Ruette, Krisna 2011. The Left-turn of Multiculturalism: Indigenous and Afrodescendant Social Movements in Northwestern Venezuela. The University of Arizona. http://hdl.handle.net/10150/203000 (07.09.2017). Skidmore, Thomas E. 1993. Black into White: Race and Nationality in Brazilian thought. Durham und London: Duke. Stocks, Anthony 2005. Too Much for Too Few: Problems of Indigenous Land Rights in Latin America. Annual Review of Anthropology 34, 85-104.

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Ulrike Bieker

»Bewegung der ekstaseartigen Erregung der Seele in der Bewegung des ganz zum Jaguar Gehörens«1 Die Aché, das Erforschen von Emotionen und die Würde des Einzelfalls

Im Herbst 2016 gab Mark Münzel mir zwei von ihm neu verfasste Texte zu lesen, die in einer Zeitschrift resp. einem Sammelband erscheinen sollten.2 Sehr erfreut über die Gelegenheit, zwei brandaktuelle Texte Münzels zu lesen und vorab kommentieren zu dürfen, machte ich mich an die Lektüre. Im hereinbrechenden Semesteranfangstrubel blieb mir dann aber doch zu wenig Zeit für eine ausführliche Diskussion der Texte. Dies hoffe ich im vorliegenden Aufsatz nachzuholen und konzentriere mich dabei auf diejenigen Aspekte, die mir damals besonders aufgefallen waren und an denen ich gedanklich bis heute hängen geblieben bin: das Erforschen von Gefühlen (hier: Zorn) und die Bewertung von Einzelfällen in der Ethnologie. In beiden Texten schreibt Münzel (u. a. auch) über die Aché. Er ging, als er mir die Texte schickte, mit gutem Grund davon aus, dass mich die Aufsätze interessieren würden. Meine Magisterarbeit (deren Erstgutachter er war) hatte die Kindheit bei den Aché behandelt – allerdings nicht auf der Grundlage eines eigenen Forschungsaufenthalts in Paraguay, sondern auf der Basis der vorhandenen Literatur. Die Fallstricke der Auseinandersetzung mit Münzels Publikationen habe ich also schon früh erfahren. Bei meiner Diskussion der Texte werde ich auf weitere Arbeiten von Münzel 1

Münzel 1983: 189. Der eine der beiden Texte ist inzwischen in einem Sammelband über Kulturen des Alterns (Münzel 2016) erschienen, der andere in Band 61 der Zeitschrift ›Paideuma‹ (Münzel 2015). 2

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eingehen, um Perspektiven herauszuarbeiten oder zu kontrastieren, muss dabei aber aus Platzgründen eine Auswahl treffen und zwangsläufig andere Veröffentlichungen vernachlässigen. Außerdem kann ich die Forschungsfelder, um die es hier geht, und deren aktuellen Stand der Forschung nicht adäquat darstellen; es geht mir hier nur um Münzels Haltung dazu – besser: um meine Interpretation seiner Veröffentlichungen. Altentötung Der erste Text ›Vom Mythos der Altentötung. Verallgemeinerungen aus Südamerika‹ beruht auf einem Vortrag im Rahmen einer Tagung zum Thema ›Kulturen des Alterns‹. Hier wurde Münzel offenbar als Experte für die Altentötung bei den Aché angefragt. Die Aufsätze im Tagungsband, der den Untertitel ›Plädoyers für ein gutes Leben bis ins hohe Alter‹ trägt, sind regionalspezifisch in Kulturen Mitteleuropas einerseits und den Rest der Welt andererseits aufgeteilt. Darüber hinaus enthält der Band einen dritten Abschnitt über ›Eine Kultur humanen Alterns‹, in dem es beispielsweise um Themen wie Lebensqualität, Spiritualität im Alter oder Wohngemeinschaften geht. In diesem Kontext erscheint ein Bericht über die Tötung von Alten als kulturelle Praxis so exotistisch wie Berichte über Menschenfresserei, zügellose Sexualität oder naturverbundene Friedfertigkeit im Kontinuumkonzept. Wen wundert es daher, dass Münzel sich stärker auf literaturkritische Fragen verlegt? Gleich zu Beginn betont er die »Gefahr methodischer Leichtfertigkeit«, die darin liegt, dass nicht selbst Gesehenes ohne weitere Prüfung aus Berichten anderer übernommen wird. Münzel verweigert und demontiert den Exotismus, der die Altentötung umweht, indem er darauf verweist, dass auf einer »Übersichtskarte über Erwähnungen des Brauchs in Europa … nur die Pyrenäenhalbinsel, Finnland und Ungarn weiß« bleibt (Münzel 2016: 50). Dann bricht er das vermeintliche Vorwissen zur Altentötung wie z.B. die systematische Zuordnung zu frühen, wenig komplexen Gesellschaften oder auch die Konnotation mit religiösen Aspekten, auf und sät Zweifel am »idealisierenden, nostalgischen Rückblick« (Münzel 2016: 53) Poma de Ayalas auf den Umgang der Inka mit ihren Alten. Danach kommt Münzel endlich auf die Aché zu sprechen und wir erwarten inzwischen keineswegs mehr, nun tatsächlich Belege für die Altentötung

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bei ihnen präsentiert zu bekommen. Und wirklich werden die vermeintlichen Belege lediglich als Einzelfälle vorgestellt, die in der häufigen Wiederholung durch Dritte inzwischen mehr Narrative als Fakten sind, die entweder überinterpretiert wurden (im Fall der Quelle Cadogan) oder sowieso missverstanden wurden (im Fall von Hill und Hurtado). Es wird im Verlaufe des Aufsatzes immer deutlicher, was der Titel mit den Begriffen ›Mythos‹ und ›Verallgemeinerungen‹ schon andeutet: eine genaue und kritische Lektüre der Quellen, die ja zunächst keine schriftlichen Quellen waren, sondern mündliche Auskünfte von Gewährsleuten, muss zu dem Schluss führen, dass wir keine Belege für die Altentötung bei den Aché haben.3 Wie passt das aber dazu, dass Münzel in seiner früheren, umfassenderen Veröffentlichung über die Aché selbst die Altentötung als eine kulturelle Praxis darstellt? Er schreibt: Doch dann kommt der Augenblick, wo die Alten zur Last werden. Die Männer bringen kein Fleisch mehr, weil sie den Bogen nicht mehr kräftig spannen oder weil sie das Wild nicht mehr rasch genug verfolgen können, oder weil sie nicht mehr gut sehen. Die Frauen haben rheumatische Hände und können nicht mehr flechten, und den jüngeren oder älteren Männern werden sie uninteressant. Sie dürfen zwar alles essen, aber niemand bringt ihnen mehr regelmäßig zu essen. Der jüngere Ehemann in einer Dreier-Ehe, in welcher die Frau und der andere Ehemann alt werden, übernimmt zunehmend die Pflege der beiden Alten, bis ihm die Last zu schwer wird. Eines Tages schleppt man den alten Menschen nicht mehr mit. Man baut ihm ein Dach aus Pindó-Palmblättern über seine Feuerstelle, läßt ihm ein wärmendes Feuer und etwas Gutes zu essen, zum Beispiel einen Topf voll Honig. Dann zieht man ohne ihn weiter. Später kehrt man zurück, um nach der Leiche zu sehen (Münzel 1983: 262-263).

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Diese Argumentationsweise des kritischen Hinterfragens der Quellen und des Widerwillens gegen das Bedienen von Klischees findet sich in gleicher Weise in Texten (Vorträgen, Aufsätzen) von Münzel über das Thema ›Anthropophagie‹.

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Ergänzt wird noch, dass die Alten manchmal auch erschlagen wurden, um sie aufzuessen und im Anschluss daran werden die Methoden der sekundären Bestattung beschrieben. Diese Beschreibung steht am Ende eines Abschnittes über die Altersgruppen bei den Aché, in dem typische Merkmale eines weiblichen Lebenslaufs beschrieben werden; darauf folgt der Abschnitt über die Altersgruppen der Männer, der mit der Beschreibung von Initiationsritualen endet. Auf die Beschreibung der Altersgruppen der Frauen folgen also die Bestattungsriten, auf diejenige der Männergruppen folgen die Initiationsriten. Die damit schon rhetorisch angedeutete Parallele zwischen Bestattungs-/Tötungsriten und Initiationsriten wird im weiteren Verlauf der Beschreibung ausgeführt. Die Altersgruppen sind jeweils durch die Jagdregeln, die Nahrungstabus und die Geschlechterbeziehungen charakterisiert. Einzelfälle kommen hier nur hin und wieder zur Sprache. Wir wissen nicht, ob hinter seiner Darstellung nur ein einziger Informant steht oder in welchem Umfang die Informationen zu den Altersgruppen erhoben wurden. Die verallgemeinernde und stark deskriptive Darstellung hat sicherlich mit dem ›Genre‹ des Ausstellungsbegleitbandes, in dem kaum Platz für Quellenkritik war, zu tun. Trotzdem ist die Frage interessant, wie diese gegensätzlichen Ansichten zusammen passen. Am Ende seines Artikels über die Altentötung beantwortet Münzel die selbstgestellte Frage, ob es sie nun gab oder nicht, mit einem Schulterzucken: »Wir wissen es nicht« (Münzel 2016: 59). Dagegen stellt er die Forderung nach wissenschaftlicher Anerkennung und Berücksichtigung der Individualität der Forschungspartner und Informanten, ihr Recht auf individuelle Entscheidungen und Lebenswege, mögen sie nun der kulturellen Norm entsprechen oder nicht. Er möchte dem jungen Aché, der dem Forscher berichtet, wieso er seine viel ältere Frau im Wald zurückgelassen hatte, »mehr individuelle Würde zuerkennen als nur die eines Belegs für Theorien darüber, wie viel besser oder schlechter es früher war« (Münzel 2016: 60). Die Individuen Dabei ist es wichtig, genau zu betrachten, was Münzel unter einem Einzelfall versteht bzw. wie er damit umgehen will. Natürlich handelt es sich an und für sich um einen banalen Begriff. Ein Einzelfall weicht in einem oder mehreren Aspekten vom Standard ab. Er entspricht nicht der großen 106

Masse der Fälle. Die Masse der Master-Studierenden beispielsweise durchläuft den geregelten Studienverlauf in vielleicht 4-6 Semestern; für einen individualistischen Studenten im 12. Semester findet man Einzelfallregelungen. Was Münzel sich für die Ethnologie vorstellt ist aber nicht die Arbeit mit lauter Individualisten im 12. Semester.4 Er will nicht den Kulturbegriff verwerfen oder den Regeln des Kollektivs ihre Bedeutung für die Ethnologie absprechen. Seine Bewertung von Einzelfällen soll nicht die Ethnologie als Wissenschaft demontieren. Um zu verstehen, was unter einem Einzelfall zu verstehen ist, gehe ich nun auf einen weiteren Text von Münzel ein. In seinem Aufsatz über die performative Wende in der Ethnologie verweist er auf die verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs performance (Pferdesport, Theaterethnologie, Linguistik) und eine mögliche Differenz zwischen einer ›Leistung im Einzelfall‹ und der ›generellen Fähigkeit‹.5 Merkmal des von der Regel abweichenden Einzelfalls ist bei Münzel daher auch all das, was er mit Performanz (in der Ethnologie) verbindet: »Nicht-Schriftlichkeit, Körperlichkeit, Emotionen … und künstlerische Kreativität« (Münzel 2000: 308). Sein Aufsatz endet mit einer Aufforderung: Die performative Wende mit ihrer Betonung des NichtVerbalen, des Körperlichen und des Emotionalen stellt jene Varianten der Ethnologie in Frage, die … die Regeln ohne den Einzelfall Mensch untersuchen. Stattdessen könnte die Ethnologie von der ›performance‹ die Bedeutung des Chaos und des nicht regelbaren Einzelfalls zu lernen versuchen (Münzel 2000: 310). Der Einzelfall weicht von der Norm ab. Er ist rebellisch in dem Sinn, dass er sich einer geordneten Untersuchung von Regeln entzieht. Münzels Lob des Einzelfalls ist ein Lob der Individualität. Die Verweigerung der Bestätigung der Altentötung mit der Begründung eines Einzelfalls heißt also nicht, dass Münzel die Aché-Informanten un-

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Dies ist auch schon in seiner Kritik am Ideal der Authentizität im Forschungsprozess sehr deutlich geworden, siehe Münzel 1993 [1980]: 400. 5 Siehe Münzel 2000: 304, mit Verweis auf Noam Chomsky und seine Unterscheidung in competence und performance in Bezug auf Sprache.

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glaubwürdig fand, auch nicht, dass er das Zurücklassen und Töten von Alten möglicherweise nicht als Teil der ›Grammatik‹ der Kultur der Aché verstand. Das schulterzuckende »Wir wissen es nicht« ist ein Verweis auf Formen der Kollektivität auf die wir keinen Zugriff haben und für die wir keine wirklichen Belege bringen können, sondern eben nur performances von Einzelfällen, die von der Regel abweichen. Bevor ich auf den Aspekt des Emotionalen komme, möchte ich zunächst Münzels Idee vom Einzelfall einem neuen existenzialistischen Ansatz der Ethnologie des Individuums gegenüberstellen und gehe dabei auf ein special issue der Zeitschrift für Ethnologie ein. Unter dem Titel ›Towards an Anthropology of the Individual‹ haben Jan Patrick Heiss und Albert Piette mehrere, teils theoretische und teils ethnografische Aufsätze herausgegeben. In methodischer Hinsicht stellen sie folgende Aspekte in den Vordergrund: Es soll von einer ganzheitlichen Auffassung von Individuen ausgegangen werden.6 Kein Lebensbereich soll von vornherein außer Acht gelassen werden. Daraus folgt, dass auch die gesamte Bandbreite der anthropologischen Methoden Anwendung finden soll, wobei der Teilnehmenden Beobachtung als Dichte Teilnahme (nach Spittler) eine besondere Rolle zukommt, Fotografie und Film als hilfreich angesehen werden, weil sie es ermöglichen, Szenen und Situationen immer wieder zu sichten, während dem Interview eher keine große Bedeutung zugemessen wird. Die direkte Gesprächssituation zwischen den Forschungspartnern soll eher genutzt werden, um das Individuum bspw. mit dem visuellen Material zu konfrontieren oder sich nach der aktuellen Gemütsverfassung (»states of mind at one moment or the other«) zu erkundigen. Sie verwenden den Begriff phenomenography, um den Forschungsansatz zu beschreiben und betonen the importance of an observation method that records as many details of the field-subject’s behavior as possible. Any detail might offer a clue to what is going on inside the individual: secondary gestures, hesitations, looking in a different direction, etc. … The researcher follows his field-subject 6

Siehe Heiss und Piette (2015: 15). In einem weiteren Aufsatz desselben Heftes spricht Piette vom Volumen des Individuums und meint damit, die Gesamtheit von Aktivitäten und Gefühlen, Lebensverläufen, Gedanken und Gestiken, die einander gegenseitig beeinflussen (Piette 2015: 30).

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from situation to situation, even from moment to moment (Heiss und Piette 2015: 15). Interessant ist, dass die Artikel des special issue, Aspekte behandeln, die an Eigenarten des Münzel’schen Einzelfalls erinnern: künstlerisch-kreative Aktivitäten (hier: Musik) und Rebellion gegen starre Sozialordnungen.7 Auch die untergeordnete Rolle von in Interviews erhobenen Daten und demgegenüber die Betonung visueller Medien erinnert an die nicht-verbalen Ausdrucksformen in der performance. Gerade diese Aspekte sind es, die nach Ansicht der Autoren eine anthropology of the individual notwendig machen, weil sie die Bedeutung der Individuen in einer Gesellschaft verdeutlichen können und Defizite in der Fachgeschichte aufzeigen. Die Beobachtung, dass Individualität in der ethnologischen Forschung bisher wenig berücksichtigt wurde, ist also beiden gemeinsam. Grundverschieden sind aber die Folgerungen und die Forderungen, die daraus abgeleitet werden. Während die Vertreter der anthropology of the individual möglichst jedes Detail im Leben der Menschen erfassen und untersuchen wollen, sei es auch diesen selbst unbewusst, schreckt Münzel genau davor zurück. Der Zorn Als damalige Magistrandin war ich beeindruckt von der strikten und auch etwas spröden, aber immer respektvollen Genauigkeit Münzels bei der Übersetzung von Wörtern aus dem Aché. Wo Pierre Clastres, der bekanntlich bei den Aché kurz zuvor geforscht hatte, beispielsweise die Personennamen (Pichugi, Chachubutawachugi, Jyvukugi usw.), zumeist unübersetzt lässt steht bei Münzel ›Mensch mit heller Haut gewordenes Halsbandnabelschwein‹ oder auch ›Herr Goldhasen-Mann‹. Diese Art der Übersetzung vermittelte mir damals etwas von der Komplexität und Mehrdeutigkeit, die dem Aché eigen sein muss und die sich wohl auch in ihrer Poesie zeigt.8 So 7

Die Artikel handeln im Einzelnen von Auswirkungen von Emotionen auf religiöse Überzeugungen, Power Metal-Musikern in Madagaskar, Sängerinnen in Congo-Brazzaville, den Arbeitsbedingungen von zentralafrikanischen Migranten in Kamerun und sozialen Beziehungen unter Bedingungen von Krankheit in der Schweiz. 8 Münzels Publikationen zur Poesie der Aché weisen allerdings andernorts auch einen anderen Übersetzungsstil auf (so z.B. 1976 und 1983: 16), wo Liedgesänge der Aché freier übersetzt wurden.

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vermag ich schlecht einzuschätzen: ist es die Poesie der Aché oder die Münzels, die den (Ehescheidungs-)Begriff meiãmbama mit »das Geben ist völlig abgeschlossen« übersetzt (Münzel 1983: 259)? Für die folgende Übersetzung wurde vermutlich nicht ein einzelner Begriff aus dem Aché sondern eine Erzählung herangezogen und eine Erklärung, die von einem Aché dazu gegeben wurde: »Bewegung der ekstaseartigen Erregung der Seele in der Bewegung des ganz zum Jaguar Gehörens« (Münzel 1983: 189). Was auf den ersten Blick klingt wie die umständliche, automatisierte Übersetzung einer technischen Gebrauchsanleitung, ist die Beschreibung eines bestimmten Zustands, den Münzel an derselben Stelle auch als »Erschütterung der Seele« bezeichnet. Die Art der Übersetzung zeugt von Achtung vor der scheinbar unverstandenen, fremden Emotion, die für den Ethnologen nicht nachvollziehbar scheint. Er versucht nicht, die Umschreibung auf eigene, bekannte Gefühlswelten zu übertragen, sondern lässt das Unverstandene so stehen und bringt es in der Übersetzung zum Ausdruck. Aber auf welche Art und Weise beschreibt und analysiert Münzel Emotionen? In einem Aufsatz aus dem Jahr 2006 nennt Münzel den Zorn der Aché eine produktive Kraft und regt an, sich stärker mit Emotionen wie dieser zu beschäftigen (Münzel 2006: 137). Der Zustand hat mit den Aché-Begriffen pochy und ymachija zu tun. Die beiden Begriffe bezeichnen Aspekte des Zorns: »Letztlich dürften die zwei Begriffe nicht auf der gleichen Ebene liegen: pochy benennt den Zustand des Zorns, ymachija wohl eher seine Auswirkung, die eine religiöse Rolle spielt. Dabei ist pochy negativ konnotiert, ymachija positiv« (Münzel 2006: 139). Dieser Zustand des Zorns ist einerseits ein mystisches Erlebnis des Jägers auf der Jagd und andererseits auch ein Zustand, den man herbeiführen oder gezielt erzeugen kann, z.B. in der Vorbereitung auf ein Ritual. Der Bericht eines Aché-Jägers, der der obigen Übersetzung zugrunde liegen dürfte, lautet folgendermaßen (Auszug): Auf der Jagd erblickte ich den Jaguar. Ich schoß nicht mit dem Pfeil, mit dem Bogen schlug ich. Als ich einsam und verloren war, sprang er mich an, da schlug ich zu. Ich schrie mit meinem Bogen wie der Jaguar, um ihn in die Flucht zu schlagen. Dann bin ich geflohen. Eine Bewegung der Verbindung meiner Seele mit dem Jaguar in einer tiefen Erschütterung trieb mich in die Flucht, meine Bewegung war die der Flucht 110

zum Lagerplatz. Zu meiner Mutter bin ich geflohen. Angst, ich voller Angst vollführte die Bewegung der Flucht. Wenn ich einst beim Anblick des Jaguars nicht fliehe, dann werde ich den Jaguar töten, so wird er sterben. Wenn ich den Jaguar erblicke, wird die Zauberwaffe meiner geistigen Kraft die seelische Erschütterung des Nicht-Fliehens sein, dann werde ich zuschlagen mit dem Bogen, dann wird der Jaguar fliehen (Münzel 1983: 201). Auch hier wieder die spröde, sperrige, aber doch merkwürdig schöne Übersetzung, die verdeutlicht, dass Münzels Übersetzungen nicht automatisierte, verständnislose Übersetzungen sind, im Gegenteil. Es ist zwar eine Annäherung an Emotion über Sprache. Die Übersetzung verzichtet aber darauf, den Zustand, von dem berichtet wurde, mit uns vertrauten Begriffen und Konzepten zu belegen, sondern sie umschreibt den Zustand, indem sie ihn in fassbare Einzelteile zerlegt: Bewegung – Erregung – Seele – Jaguar. Nur ganz selten werden erklärende Kommentare zu den Übersetzungen angefügt. Das ist Münzels Annäherung an Emotionen. Ganz anders dagegen ein mittlerweile klassischer Aufsatz zur Emotionsforschung. Renato Rosaldo ist der Meinung, dass die Intensität von Gefühlen erst dann nachvollzogen werden kann, wenn die Stellung eines Individuums im sozialen Netzwerk berücksichtigt wird.9 Für ihn spielt die Perspektive eines Subjekts auf die Ursache oder den Auslöser der Emotion die wichtigste Rolle für das Verständnis. Nicht die Individualität der Person sondern ihre Perspektive auf ihr soziales Umfeld ist entscheidend. Die Trauer, Wut etc. beim Tod eines nahen Angehörigen ist in diesem Modell für alle strukturell gleichgestellten Personen auch gleich intensiv. Ehemänner fühlen gleich beim Verlust ihrer Frauen. Eltern fühlen gleich beim Verlust ihrer Kinder. Daher ist es folgerichtig, anzunehmen, dass Rosaldo die Wut des Kopfjägers bei den Ilongot nachfühlen konnte, ja, sogar dieselbe Wut empfand, als er einen strukturell gleichen Todesfall erlebte. Er versucht, das Gefühl als solches nachzuempfinden, jenseits von Sprache bzw. von Beschreibungen des Gefühls durch die Forschungspartner.

9

Siehe Rosaldo 1993: 375. Ich verwende diesen Aufsatz hier, weil Mark Münzel sich seinerseits darauf bezieht und nicht, um damit das Feld der Emotionsforschung abzustecken. Hierzu liegt inzwischen eine Vielzahl von Studien vor.

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Um sich davon deutlich abzugrenzen betont Münzel, dass es ihm nicht um die Gefühle eines Aché gehe, sondern nur um deren öffentliche Darstellung (Münzel 2006: 138). Den Zorn ymachija will Münzel aber nicht als Emotion, d.h. als einen körperlich-seelischen Zustand untersuchen, sondern als eine »produktive Kraft«. Die Emotion ist als Auslöser oder Ursache für bestimmtes Handeln oder Sprechen interessant, nicht als Forschungsthema an sich. Er will nicht der emotionalen Verfassung der Forschungspartner nachspüren; nicht die Emotionen des Gegenübers auch bei sich selbst suchen und nachempfinden oder umgekehrt. Interessant erscheint ihm die performative Äußerung und die kulturspezifische Perspektive, die darin zum Ausdruck gebracht wird – wenn auch als abweichender (rebellischer) Einzelfall. Münzel betont die Individualität der Forschungspartner und interessiert sich für deren Emotionen nur insofern sie ein bestimmtes Handeln nach sich ziehen. Die besondere Qualität von Emotionen erfordert deshalb auch keine besondere Forschungsmethode. Genau diese methodische Verweigerung, die aus der respektvollen Zurückhaltung gegenüber dem Forschungspartner resultiert, dem man nicht zu nahetreten will, lässt viele ungefragte Fragen offen. Wie fühlt sich der Zustand des Zorns rein körperlich an? Entspricht Münzels Übersetzung als ›Bewegung‹ auch dem Körpergefühl des Jägers in diesem Zustand des Zorns? Mit welchen (Körper-)Techniken kann man ihn erzeugen? Oder abmildern? In welcher Region des Körpers entsteht das Gefühl? Woher kommt es? Wie verändert sich das Körpergefühl danach, wenn der Zorn vorüber ist? Und fühlt er sich für alle gleich an? Können alle Menschen in diesen Zustand eintreten? Auch ich? Antworten auf diese mehr körperbezogenen Fragen wären z.B. dann interessant, wenn – wie Münzel berichtet – die Wut des Jägers auf die Wut des Jaguars trifft und dies als ein Gespräch verstanden wird. Spielt hier vielleicht das Körpergefühl bei der Jagd eine Rolle, indem der Jäger die Körperbewegungen des Tieres imitiert? Hat diese empathische Annäherung an den Jaguar einen Einfluss auf die Emotionen des Jägers? Ist es die »dialektische Aufhebung von Trennlinien, ein Verschmelzen von Freund und Feind« (Münzel 2006: 142, vgl. auch 1978: 234), die die Emotion hervorruft und wie genau kann das erreicht werden? Auch wenn diese körperliche Seite meist nicht gemeint ist, wenn man von Emotionen spricht, so kann doch ein mehr ganzheitliches Verständnis vom Menschen, das die kulturspezifische Trennung von Körper und Geist nicht aufrecht erhält, über das Körpergefühl die Emotion erfahrbar und 112

beschreibbar machen. Allerdings muss dies auch kulturspezifische Körperkonzeptionen beinhalten. Die Autor*innen Funk, Röttger-Rössler und Scheidecker kommen im Rahmen ihrer vergleichenden Untersuchung über den Zusammenhang von Sozialisation und der Entwicklung von Emotionen zu dem Schluss, dass darüber hinaus auch Kosmologien und sozioökonomische Verhältnisse (u.a.) berücksichtigt werden müssen. Sie schreiben: Nur wenn kulturelle Wert- und Überzeugungssysteme, unterschiedliche folk theories über Emotion, Sozialisation und kindliche Entwicklung sowie angemessenes emotionales Ausdrucksverhalten in Relation zu den jeweiligen sozioökonomischen Strukturen und kosmologischen Vorstellungen ausreichend berücksichtigt werden, lässt sich ein tieferes Verständnis kulturspezifischer Emotionscodierungen und emotionaler Kompetenzmodelle erreichen (Funk, Röttger-Rössler, Scheidecker 2012: 235). Sie schlagen vor, zwischen sozialisierenden und sozialisierten Emotionen zu unterscheiden, was das Interesse der Autor*innen an der sozialisierenden Funktion von Emotionen (»dem kulturspezifischen Einsatz emotional erregender Erziehungsmethoden«) und die Regelbarkeit von Emotionen nochmals verdeutlicht. Die Frage nach dem Umgang mit abweichendem Verhalten ist hier natürlich auch sehr relevant. Das Interesse dieser Autoren an den äußeren Erscheinungsformen von Emotionen kommt offenbar dem Münzel’schen Ansatz schon näher. Allerdings scheint mir die Bedeutung von Individualität (und Performanz), wenn nicht gar das Verständnis von Ethnologie, ein unüberwindbarer Graben zwischen beiden zu sein. Die Ethnologie Der zweite Text, den Münzel mir im Herbst 2016 zu lesen gegeben hatte, trägt den Titel ›Hinter jedem Bergrücken ein weiterer. Zwei Reisen‹ (Münzel 2015). Darin werden seine ersten beiden Forschungsaufenthalte beschrieben und rückblickend interpretiert. Der Text war zuvor schon in etwas anderer Version auf Spanisch erschienen und hat dort den Titel ›Superficies que engañan: Dos experiencias‹. Der spanische Titel beschreibt genauer, worum es in dem Aufsatz geht: unverstandene, sogar trügerische, 113

Oberflächen und die dazugehörigen persönlichen (Forschungs-)Erfahrungen und Lernprozesse des Ethnologen, während der deutsche Titel vielleicht besser erhellt, worauf es hinausläuft: es gibt in der Ethnologie keinen letzten Bergrücken und es gibt kein Licht am Ende des Tunnels. Der Text beschreibt zunächst den Forschungsaufenthalt bei den Kamayurá, bei denen der erste Bergrücken im Verständnis der fremden Tauschregeln bestand und der zweite darin, zu erkennen, dass der Ethnologe für die Kamayurá trotzdem ein Fremder blieb, nur eben in seiner Wildheit beherrschbar gemacht wurde. Die zweite Reise führte ihn zu den Makú Nadëb, bei denen der Bergrücken namens regatão die Erfahrung brachte, dass Abhängigkeit in Handelsbeziehungen und eine ›freundliche Ausbeutung‹ nicht abgelehnt, sondern gewünscht wurden, weil dahinter die Forderung nach einer persönlichen Beziehung mit Verpflichtungen stand. Während der Forschung bei den Nadëb wurde die Beziehungsebene immens wichtig. Vielleicht war auch das nächtliche, von juruparí-Flötenliedern begleitete Gespräch mit dem Jaguar teils Traum, teils Poesie, teils Bergrücken, so wie der Tanz zu den vom Tonband abgespielten Liedern der Kamayurá (der den Nadëb das Mythen-Interesse des Ethnologen verdeutlichen sollte) der Berg war, von dessen Rücken aus eine Landschaft jenseits von Worten zu sehen war.10 In der rückblickenden Interpretation und dem Vergleich der beiden Reisen spricht Münzel von zwei Modernen, die er dort jeweils verwirklicht sieht. Die Kamayurá haben sich in ihrem Traditionsbewusstsein an die Anforderungen der staatlichen Indianerpolitik einerseits und diejenigen der Ethnologen andererseits bestens angepasst. Die Nadëb dagegen weigern sich beständig, sich an bestimmte Veränderungen der Moderne anzupassen und schützen so einen wichtigen Aspekt ihrer Sozialstruktur. Er spricht deshalb von einer »rückständigen Moderne«. In seinem Rückblick schreibt Münzel vom »Muster-Indianer der Ethnologie« und »festgeklopften Lehrbuch-Klassifikationen«, in die die Kamayurá zu passen scheinen, nicht aber die Nadëb. Seine persönlichen wissenschaftlichen Lehren will er aber aus den Erfahrungen mit den Letzteren ziehen, ihre Flexibilität und Fluidität will er als Herausforderung der Ethnologie sehen. Sich immer wieder auf 10

»Una vez, creí ver un jaguar que escuchaba atento, hablar con él, y después comprender el sentido profundo de su canción entonada … y cuando me acordé en la mañana, solo recordaba que era una historia de caminos por la selva que ahora ya no comprendía« (Münzel 2014: 36).

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Neues einlassen und »das Vertrauen in einmal gefundene Systeme über den Haufen werfen« (Münzel 2015: 42). Dabei soll nicht Kultur als Konzept verworfen werden oder die Sinnhaftigkeit von Theorien und Konzepten in Frage gestellt werden. Aber die Theorien und Konzepte sollen regionalspezifische Eigenarten aufnehmen, so ähnlich wie Funktionalismus und Melanesien, Schamanismus und Sibirien (Münzel 2015: 42-43). Für Amazonien könnte die Fluidität und Variabilität zur Grundlage genommen werden. Es kann seiner Auffassung nach jedoch nicht darum gehen, »eine Fixierung von Gewißheiten [zu] betreiben, die sie dann Einzelfällen überstülpen« (Münzel 2015: 28). Das klingt nach der Ermutigung zu einer großen Erzählung, die mehr auf dem Verstehen anderer Denkweisen beruht als auf einer gewissen Zahl von Interviews. Das ›Wir wissen es nicht‹ angesichts der Frage nach der Altentötung ist deshalb gerade nicht eine Frustration angesichts (quantitativ) dünner empirischer Daten, sondern Ausdruck einer Wissenschaft, die die Verantwortung für die eigenen Standpunkte nicht anderen zuschieben will. Auch soll Individualität nicht exklusiv sein, sondern auch den Anderen, den Wilden zugestanden werden und nicht die Annahme zugrunde gelegt werden, dass jegliches Handeln und jegliche Aussage eines Forschungspartners immer ›Kultur‹ in sich verbirgt und kollektives Handeln, Sprechen etc. ist. Auch bei den Nadëb besteht wieder die Forderung nach dem Einhalten von forschungsethischen Grundsätzen, die – ganz ähnlich der respektvollen Haltung gegenüber den Aché – bei bestimmten Themen nicht weiter forschen wollen, weil die Würde des Menschen höher steht als die Forscherneugier. Am Ende habe ich anderes gefunden als ich dachte, und bei einigem habe ich bewußt nicht weiter geforscht. Ich halte es mit Nietzsches Gebot der Höflichkeit, »daß es zur feineren Menschlichkeit gehört, Ehrfurcht ›vor der Maske‹ zu haben und nicht an falscher Stelle Psychologie und Neugierde zu treiben« … Ob Masken (oder in Bastians Bild) Bergrücken, wir durchschauen oder erklimmen immer neue, doch sollten wir dabei nicht allzu forsch weiter voran vorrücken und uns im Zweifelsfall lieber mit Zurückhaltung bescheiden« (Münzel 2015: 43). Die Ethnologie Münzels will sich nicht über die Forschungspartner stellen. Emotionsforschung, die die in weiten Teilen unreflektierten emotionalen 115

Befindlichkeiten der Forschungspartner durchleuchtet und für Dritte erklärt, widerspricht dieser Forschungsethik. Auf diese Weise würde Wissen zu Herrschaftswissen, mit dem Ethnologen hinter die Fassade blicken würden und das gesprochene Wort und die Performance würden als Oberfläche an Bedeutung verlieren. Indem der rebellische Einzelfall nicht nur seine vermeintlichen kulturellen Traditionen in Frage stellt sondern die Indigenen außerdem auch die theoretischen Gebäude der Ethnologen in Frage stellen, wird eben doch am Ende aus beidem zusammen eine Dekonstruktion von Kultur. Zumindest solange die Ethnologie sich mehr mit Theorien als mit Ethnografien befasst und zumindest in Amazonien, wo der Jaguar freundlich knurrt. Die (über den sprachlichen Zugang) distanzierte und respektvolle Auseinandersetzung mit den Emotionen der Fremden und dem fremden Umgang mit Emotionen (»der produktiven Kraft«) enthüllt am Ende das Verständnis von Kultur, das zugrunde liegt. Es ist nicht Fleisch und Blut, sondern reines Denken. Den Menschen bleibt die Performance. Kultur wird deshalb nicht primär als eine Oberfläche verstanden, die eben manchmal trügerisch sein kann und die uns so dazu auffordert, wissenschaftliche (theoretische) Vorannahmen immer wieder zu reflektieren, und die die große Rolle von räumlicher und zeitlicher Distanz zum Forschungsprozess verdeutlicht. Zugleich wird angenommen, dass Menschen nach kollektiven Regeln handeln, wobei sie Ausnahmen zulassen. Das, was jenseits von Kultur passiert, hat aber keine Worte, kann nicht mit Worten erfasst werden und soll auch nicht durch neugierige Fragen in Worte gezwängt werden. Der abweichende Einzelfall bildet das dialektische Gegenstück zum Kollektiv – das eine kann ohne das andere nicht. Und der Jaguar? Mit ihm sprechen. Zuhören. Maunzen. Lauern. Flöte spielen. Kultur jenseits von Worten. Wie würde eine Ethnologie vorgehen, die die Bandbreite menschlicher Fähigkeiten auf beiden Seiten mit einbezieht und sich bestimmten Anteilen nicht verweigert? Ist die Macht (besser: Aura) eines sakralen Gegenstands nur ein Diskurs oder ist sie spürbar, verstehbar und irgendwie beschreibbar? Kann die persönliche oder materiale Ausstrahlung Gegenstand der 116

Forschung sein? Kann vielleicht die Annäherung an Tiere und die Nachahmung ihrer Verhaltensweisen eine fruchtbare Forschungsmethode sein? Würde uns das helfen, die wortlosen Anteile von Kultur besser zu verstehen? Und mit welchen Methoden würden wir dieses Verstandene beschreiben? Was würde eine Ethnologie, die mit Emotiven11 arbeitet, ausmachen? Die Behandlung von Einzelfällen in der ethnologischen Forschung oder die Emotionsforschung werfen größere methodische Fragen auf, die in diesem Aufsatz kaum angesprochen werden konnten. Ebenso wenig konnte der Stand der Forschung zu den Themen erfasst werden. Das war auch nicht meine Absicht. Vielmehr ging es mir um ein Nachdenken über einige Themen an den Rändern der Münzel-Bibliografie. Meine Interpretationen der gelesenen Texte sind nicht mehr als eben das und der Jubilar wird sich vermutlich in vielen – vielleicht allen – Teilen falsch verstanden fühlen. So hoffe ich auf viele weitere anregende Diskussionen in der Zukunft und freue mich bereits jetzt darauf.

Literatur Funk, Leberecht, Birgitt Röttger-Rössler, Gabriel Scheidecker 2012. Fühlen(d) Lernen. Zur Sozialisation und Entwicklung von Emotionen im Kulturvergleich. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 15 (1), 217-238. Heiss, Jan Patrick und Albert Piette 2015. Individuals in Anthropology. Zeitschrift für Ethnologie 140 (1), 5-17. Münzel, Mark 1978. [1972] Tortuga persigue a Tortuga: ¿Por qué los Axé (Guayakí) ›mansos‹ persiguen a sus Hermanos ›salvajes‹? In: Augusto Roa Bastos (Hg.) Las Culturas Condenadas. México, Madrid und Bogotá: Siglo Veintiuno Editores, 231-239. —— 1976. L’importance de la poésie Aché dans le contexte paraguayen. Actes du XLIIe Congrès internacional des Americanistes 9, 557-563. —— 1983. Gejagte Jäger: Aché- und Mbía-Indianer in Südamerika. Teil 1: Die Aché in Ostparaguay. Frankfurt am Main: Museum für Völkerkunde.

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Als Emotive bezeichne ich sowohl sprachliche Interjektionen, Emoticons als auch sonstige emotionale Ausdrucksmittel.

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—— 1993 [1980]. Gibt es eine postmoderne Feldforschung? Skizze einiger möglicher Fragen zum ethnologischen Umgang mit Altmodischem. In: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik und Justin Stagl (Hg.) Grundfragen der Ethnologie: Beiträge zur gegenwärtigen Theorie-Diskussion. Berlin: Reimer, 395-406. —— 2000. Performance: Braves Theater oder Ausbruch des Nicht-Meßbaren? Paideuma 46, 301-312. —— 2006. Essay über den Zorn der Tupí-Guaraní: Anregung, über eine produktive Kraft zu forschen. Münchner Beiträge zur Völkerkunde 10, 137145. —— 2014. Superficies que engañan: Dos experiencias. Éndoxa: Series Filosóficas 33, 99-117. —— 2015. Hinter jedem Bergrücken ein weiterer: Zwei Reisen. Paideuma 61, 27-46. —— 2016. Vom Mythos der Altentötung – Verallgemeinerungen aus Südamerika. In: Harm-Peer Zimmermann, Andreas Kruse und Thomas Rentsch (Hg.) Kulturen des Alterns. Plädoyer für ein gutes Leben bis ins hohe Alter. Frankfurt am Main: Campus, 49-61. Rosaldo, Renato I. 1993. Der Kummer und die Wut eines Kopfjägers: Über die kulturelle Intensität von Emotionen. In: Eberhard Berg und Martin Fuchs (Hg.) Kultur, soziale Praxis, Text: Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 375-401.

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Lioba Rossbach de Olmos

Das kubanische ifá-Orakel oder die geschriebene mündliche Tradition Als 1986 ›Quellqay – Mündliche Kultur und Schriftreligion bei Indianern Lateinamerikas‹ von Mark Münzel und Birgit Scharlau (1986) erschien, waren Fragen von Oralität und Literalität in Deutschland gerade aktuell. Es wurde eine ganze Reihe einschlägiger Titel in deutscher Sprache veröffentlicht (Goody et al. 1986, Elwert 1986, Ong 1987). Neben der Ethnologie zeigte sich auch die Literaturwissenschaft am Thema interessiert, und der pädagogische Enthusiasmus für zeitgenössische Alphabetisierungskampagnen, z.B. im sandinistischen Nicaragua, mag das Seine beigesteuert haben. Obgleich sich die Diskussionsthemen wiederholten und sich etwa um mnemotechnische Verfahren oder abstraktes Denken versus narrative Konkretheit drehten, unterschieden sich die Positionen der Darstellungen deutlich. Die meisten vertraten die Überzeugung, dass Schrift mit Fortschritt gleichzusetzen sei, abstraktes Denken fördere und generationenübergreifendes Erinnern ermögliche. Einzelne Autoren artikulierten Skepsis hinsichtlich der Nachhaltigkeit von landesweiten Alphabetisierungskampagnen, sofern diese keine institutionelle Verankerung erführen. Aus ›Quellqay‹ (Scharlau und Münzel 1986: 8) jedoch sprach eine Kombination aus Kulturpessimismus, der von der Schriftlichkeit die Gefahr eines ›Bruches‹ oder ›Angriffs‹ für die heimische orale Kultur ausgehen sah, und Zuversicht, dass von vormals schriftlosen Völkern ein origineller Umgang mit der Schrift zu erwarten sei. Die Diskussion war nicht aus dem Nichts entstanden, sondern blickte bereits auf eine lange Tradition zurück. Der Schrift wurde vormals meist unbesehen eine tragende Rolle in der Kulturentwicklung zugesprochen (vgl. Basso 1974: 425-426). Lévi-Strauss gehörte zur Minderheit der Gelehrten, die zum Fortschrittsoptimismus der Schriftlichkeit auf Distanz gingen. Er erinnerte in den ›Schreibstunden‹ daran, dass Schriften lügen und Gesetzestexte Diktaturen dienen können (1979: 288-230). Zwar hatte 119

Jan Vansina eine oral history für das ›schriftlose Afrika‹ entwickelt (Vansina 1985). Aber das jüngere ›kulturelle Gedächtnis‹ Jan Assmanns (1992) rechnete die Schriftlichkeit doch wieder in bekannter Manier der ›hochkulturlichen‹ Entwicklung zu. Noch bleibt abzuwarten, wie sich die ›digitale Wende‹ positioniert (vgl. Horst und Miller 2012, Knox und Walford 2016). Sie hat zwar nicht zwangsläufig mit der Schrift zu tun, ist aber wie diese eine Phase der ›Technologisierung des Wortes‹, wie vorher schon der Buchdruck, das Radio, das Fernsehen oder das Internet. Mittlerweile sind die empirischen Beispiele zur Erörterung von Oralität und Literalität breit gestreut, und auch für Amazonien liegen aktuelle Beiträge vor (z.B. Uzendoski 2012, Walker 2016). Dort finden sich Themen, die, wenngleich mit anderer Akzentuierung, schon bei Mark Münzels ›Quellqay‹-Teil über ›Indianische Oralkultur der Gegenwart‹ vorkommen. Aktuell erweisen sie sich gerade dann, wenn sie die great divide von Mündlichkeit und Schriftlichkeit übergehen, um auf andere, etwa bildliche und symbolische Kommunikationsformen, einzugehen, die – ganz ähnlich wie über die Napo Runa in Ecuador zu lesen – eigene Ausdrucksformen im Hinblick auf Körper, soziale Welt und Umwelt hervorbrachten (Uzendoski 2012). Erwähnt sei zudem das weiterhin aktuelle Thema vom selektiven Umgang mit Schrift. Münzel führte die Cuna an (Münzel 1989: 160). Dasselbe wird jüngst von den Urarina des peruanischen Amazonasgebietes berichtet (Walker 2016). Beide Gruppen bewahrten sich die Oralität, indem sie den Gebrauch der Schrift auf administrative Angelegenheiten beschränkten. Dadurch entsteht eine Gleichzeitigkeit von Mündlich- und Schriftlichkeit, die die vormalige Dichotomie von Oralität zur Literalität in den Hintergrund geraten lässt. Das Nebeneinander von Wort und Schrift ist auch im Folgenden das Thema. Allerdings geht es um eine Region, in der vieles anders ist: das karibische Kuba. Hier wurde die indigene Bevölkerung früh durch Krieg und Krankheit vernichtet, und ihr Kontakt mit der Schriftlichkeit blieb folgenlos. Die später als Sklaven in die Karibik verschleppten Afrikaner entstammten Kulturen ohne Schrift, und dies änderte sich zunächst auch in Kuba nicht. Nicht viel besser dürfte es bei den spanischen Einwanderern ausgesehen haben. Für die Karibik bekundeten erstmals die wissenschaftlichen Folklorestudien Interesse an der Oralität (Beckwith 2016, Cabrera 1961). In Kuba fristeten mündliche Traditionen gleichwohl ein Nischendasein, auch weil nach 1961 die Alphabetisierung des Landes als Triumpf

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der sozialistischen Regierung unter Fidel Castro keine Relativierungen duldete. Mittlerweile allerdings gibt das UNESCO-Regionalbüro für die Kultur von Lateinamerika und der Karibik die Zeitschrift ›Oralidad‹ heraus, die auch kubanischen Oraltraditionen Beachtung schenkt. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf Priester und Gefolgsleute eines Orakelsystems aus Yorubaland, das mit Sklaven nach Kuba gelangte und Elemente des hispanoamerikanischen Volkskatholizismus integrierte. Die im ganzen kolonialen Hispanoamerika übliche Bezeichnung lucumi für die Yoruba-Sklaven hat sich in Kuba als Bezeichnung für die Ritualsprache und für das Erbe der religiösen Gründerväter erhalten. Trotz der offiziellen Sprachregelung von den ›kubanischen Religionen mit afrikanischer Vorgeschichte‹ ist die Charakterisierung als ›afrokubanisch‹ akzeptabel, weil das westafrikanische Denken die europäischen Anteile überwiegt. Darüber hinaus ziehen Verweise auf Afrika nicht mehr zwangsläufig eine Diskriminierung nach sich und seit kurzem findet sogar ein konfliktreicher, dafür aber auch belebender, religiöser Austausch mit Yorubaland statt (Rossbach de Olmos 2014: 67-87, Rabaza Torres 2015). Es geht um das ifá-Orakel und den Widerstreit zwischen Wort und Schrift, in den es in Kuba geraten ist. Nun soll der experimentelle Versuch unternommen werden zu prüfen, ob einige der in ›Quellqay‹ angesprochenen Themen jenseits indianischer Oralität auch etwas zum Verständnis afrokubanischer Mündlichkeit beitragen können. Rhetorik Da das erste Thema, das auf Münzels (1986: 171-182) theoretische Überlegungen folgt, die Rhetorik ist, will ich auch das ifá-Orakel mit einem Zitat vorstellen, das die Ausdrucksstärke eines ›alten‹ Orakelpriesters veranschaulicht, welcher offenkundig noch der afrikanischen Schule angehörte. Das Zitat stammt von dem Juristen, Wissenschaftler und Soziologen Fernando Ortiz, der sich zunächst ablehnend und später wohlwollend zu den afrikanischen Anteilen der kubanischen Gesellschaft verhielt. Ortiz wird in Kuba bis heute in der gleichen unwidersprochenen Art gehuldigt, wie einst dem Orakelpriester, über den er schrieb. Er berichtet: Man erzählt, dass Fabí, ein berühmter Babalao aus Havanna, der Oluwo von ihnen allen, eines Tages beim Essen

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mit den übrigen babalao und babalocha, nach der jährlichen Zeremonie des abbó oddún (Jahresorakel) zum ifá-Orakelzeichen gefragt wurde, das gerade für das neue Jahr ermittelt worden war, das Odu mit dem Namen Odí, und dieser große afrikanische Priester begann, Gleichnisse zu erzählen, die zu diesem ›Zeichen‹ gehörten. Seine Gelehrsamkeit und Begeisterung war dergestalt, dass er den ganzen Nachmittag und die ganze Nacht sprach, bis der neue Tag dämmerte. Da er der Oluwo war, durfte niemand vom Tisch aufstehen, bis er es nicht tat. Es donnerte, regnete in Strömen, niemand konnte nach Hause zurückkehren, und alle mussten ihm zuhören, Stunde um Stunde, außer denen, die eingeschlafen waren. Derart waren die Fülle von Gleichnissen und Geschichten und die Redegewandtheit ihres Erzählers (Ortiz 1985: 557558).1 Zu dem Verfasser sei noch ergänzt, dass er der Schöpfer des Wortes ›Transkulturation‹ ist, d.h. der gegenseitigen kulturellen Durchdringung unterschiedlicher Gruppen (Ortiz 1940). Sein (soziologisches) Interesse galt der Bildung der Nation, die nach der späten Unabhängigkeit Kubas von Spanien erst vierzig Jahre alt war. Dies macht den Unterschied zur ›Akkulturation‹ eines Melville J. Herskovits (1970: 110-142) aus, der ethnologisch die Anpassung vornehmlich einer Bevölkerungsgruppe an eine Gesellschaft fokussierte (1970: 110-142). Zum babalawo Fabí bemerkte Tato Quiñones, der Schriftsteller und selbst babalawo ist: Fabí war vermutlich einer der letzten afrikanischen babalawo, die in Kuba praktizierten, und aus diesem Grund, als einer der letzten Orula geweihten Priester fähig, nacheinander die Tausende von Patakis oder Geschichten zu erinnern – Erzählungen der alten Zeiten der Orisha in Afrika – die den literarischen Korpus der Ifá-Odu bilden (Quiñones 2005: 14).

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Alle im Original spanischen Texte hat die Autorin ins Deutsche übersetzt.

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Dass Fabí ein afrikanischer babalawo war, nimmt Tato Quiñones an. In der Tat scheint es sich um einen der afrikanischen Gründerväter des ifá-Orakels in Kuba namens Francisco Villalonga zu handeln. Der von Ortiz erwähnte Name Fabí ähnelt Villalongas religiösem Namen, den jeder babalawo nach seiner Initiation erhält. Francisco Villalonga hieß ›Ifabí‹, was in der Übersetzung ›ifá gebirt‹ bedeutet, und das ifá-Orakelzeichen seiner Initiation war Ogbeate. Er war Gründer einer der fünf religiösen Abstammungslinien, auf die sich bis heute alle kubanischen babalawo zurückrechnen (Brown 2003: 76). Es ist also wahrscheinlich, dass Ifabí bzw. Francisco Villalonga der von Ortiz beschriebene/erwähnte Fabí war. Ortiz kommt nicht auf den Inhalt der ›Gleichnisse‹ zu sprechen, die in lucumi pataki heißen, sondern nur auf Fabís rhetorische Ausdauer und die bedingungslose Geduld der Zuhörerschaft. Dennoch lassen sich anhand seiner Beschreibung die Grundzüge des ifáOrakelsystems schildern und einige Kontinuitäten und Änderungen benennen, die ifá im Zuge seines Heimischwerdens im karibischen Kuba durchlief. Zunächst sei erläutert, dass ifá für das Orakel steht, zugleich aber für die dahinterstehende spirituelle Größe, die Gottheit Orula, die auch Orunmila oder Orumila heißt. Diese Namensvielfalt stellt ein Beispiel für die Mehrdeutigkeiten dar, welche die Yoruba-Religion zu bieten hat. Die Priester des ifá-Orakels, die in den Kult Orulas initiiert sind, heißen babalawo, was ›Vater der Geheimnisse‹ bedeutet. In Kuba werden sie durchgängig als oluwo angesprochen – bei Ortiz in der Schreibweise alauo – während diese Bezeichnung in Nigeria erfahrenen Orakelpriestern vorbehalten war. Die Übersetzung lautet »chief or master of secrets (olu awo)« (Bascom 1969: 83). Die babalocha sind männliche Priester verschiedener oricha2-Gottheiten. Ihre religiöse Ausdrucksform war vormals unter dem Namen ›Santería‹ bekannt. Der Name erklärt sich aus der Identifizierung einzelner oricha mit katholischen Heiligen auf der Grundlage von ästhetischen oder mythischen Analogien, die als Inbegriff des Synkretismus galt. Heute wird vorzugsweise von der regla de ocha oder O(ri)cha-Regel gesprochen. Sie ist mit dem ifá-Orakel bzw. der regla de ifá eng verwoben, hierarchisch allerdings unterhalb diesem bzw. dieser angesiedelt, was sich nicht immer konfliktfrei gestaltete. Wieder trifft man auf Hierarchie.

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Für religiöse Begriffe, für die in Yoruba divergierende Schreibweisen existieren, wird dennoch die in Kuba übliche spanische Schreibweise verwendet.

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Ortiz erwähnt das gerade ermittelte Jahresorakel. Solche Jahreslesungen sagen glückliche Umstände wie auch Gefahren für das kommende Jahr vorher. Sie ermitteln ein oricha-Paar, welches über das Jahr ›regiert‹. Es werden politische, gesundheitliche und soziale Vorhersagen getroffen und individuelle Verhaltensempfehlungen gegeben. Nach einer langen Unterbrechung infolge der kubanischen Revolution im Jahre 1959 wurde das Jahresorakel 1986 wiederbelebt. Jeweils am 31. Dezember eines Jahres nahm eine Gruppe babalawo die Prophezeiung vor. Die 1991 gegründete regierungstreue ›Kulturelle Yoruba-Vereinigung Kubas‹ begann irgendwann, eine eigene Jahreslesung durchzuführen und Rivalitäten zu schüren, bis sich 2016 die neue Generation von Orakelpriestern auf ein gemeinsames Jahresorakel einigte. Ortiz nannte als ermitteltes Orakelzeichen ›Odí‹. Seine Angaben waren unvollständig, und die Gründe bleiben im Dunkeln. ›Odí‹ ist der Name nur einer Hälfte eines ›Odu‹ oder Zeichens, das durch den Namen der zweiten Seite ergänzt werden müsste. Es sind insgesamt 44 Zeichen, also 256 Zeichen, die sich im Orakel zeigen können. Auch hier wird aufgrund der bestehenden Hierarchie jedem Zeichen eine eindeutige Position im Gesamt und ein unverwechselbarer Name zugewiesen. Zur Ausdeutung der Zeichen ziehen babalawo in Yorubaland einen umfangreichen oralen Textkorpus heran, über dessen Umfang es bestenfalls Schätzungen gibt. Man muss sich die Summe aller Geschichten vorstellen, die im Gedächtnis aller babalawo gespeichert sind und die demgemäß in Raum und Zeit oszilliert. Dass Fabí die Stunden eines Abends und einer ganzen Nacht offenkundig mit Geschichten auszufüllen verstand, wirft hierauf ein Licht. Diese zu einem Zeichen gehörenden Geschichten wurden in Afrika bei der Orakelkonsultation auswendig und wortgetreu rezitiert. Neben dem Erkennen und Benennen des ›Odu‹ und der Identifikation seiner hierarchischen Position gehörten die Rezitationen in Yorubaland zum mehrjährigen Training der ifáAnwärter. Ein begnadeter Redner konnte sich nur dann entfalten, wenn er dabei auch die Geschichten wortgetreu wiederzugeben in der Lage war. Die künstlerische Individualität hatte hier ihre Grenze. In Afrika spielten wohl weltanschauliche Gründe eine Rolle, die sich, anders als etwa im indigenen Amerika, durch die größere Bedeutung der Ahnen erklären. Die in Yoruba ęsę genannten Geschichten tragen alle Erfahrungen zusammen, die jemals zwischen Himmel und Erde (und dies ist wörtlich zu nehmen, weil es einen ständigen Austausch zwischen den Welten gibt) gemacht wurden, und zwar die der Ahnen, vergöttlichten Ahnen, 124

Schöpfergottheiten und weiterer Entitäten mit agency. Dieser Erfahrungsschatz wurde in den Orakelzeichen gespeichert. Die Geschichten, die in einem Zeichen beginnen und in einem anderen wieder aufgegriffen werden, wiederholen sich im Rhythmus der Reinkarnation der Nachfahren und können mit Hilfe des Orakels für die Lösung aktueller Probleme aktiviert werden. Doch es gibt auch Übereinstimmungen mit dem indigenen Amerika, »wo die Zeit der Mythen zwar eine vergangene, aber keine abgeschlossene Zeit« ist. Die Bedeutung der Mythen liegt auch beim ifá-Orakel »nicht so sehr in der Beantwortung der Frage nach dem Woher, sondern in der Interpretation der Gegenwart« (Münzel 1986: 199). Dies würde ein babalawo unmittelbar bestätigen. Die Geschichten waren in Versform (yoruba: ęsę) abgefasst. Wande Abimbola (1976), selbst babalawo und Yoruba, sprach von Poesie, die William R. Bascom (1978), der ein Kenner, aber kein Muttersprachler war, zunächst nicht erkannte. Es gab eine feste narrative Struktur, die teils in den kubanischen pataki weiterlebt: Es wurden der das Orakel befragende babalawo und der Klient mit seinem Problem namentlich vorgestellt. Es wurde das von Orula bestimmte Orakelzeichen erwähnt und eine Opferzeremonie empfohlen, die der Klient entweder vollzog und sein Problem löste oder sie aber unterließ und in seinem Missgeschick verharrte. Das Ende bildete stets eine Lobpreisung von ifá. Sicherlich waren hier mnemotechnische Hilfsmittel im Spiel. Reime, Versmaße und Lautmalereien unterstützten das auswendige Deklamieren. Aber es gibt noch einen weiteren Grund für die Beschränkung der individuellen Expressivität. Dieser hat mit der Wortmagie zu tun, bei der es genau zu artikulieren gilt. Denn wie Bascom (1969: 130) erklärt, »the name of an object sacrificed resembles the words expressing the result desired by the client.« Es handelt sich um komplexe Wortspiele, um nicht zu sagen ›Sprachspiele‹. Wenngleich die Unterschiede überwiegen, ähneln diese Wortspiele durchaus dem stilistischen Prinzip der Aché-Texte, das Münzel (1986: 201) »Schein-Wiederholung« nannte. Die Wortmagie kann Dinge durch gemeinsame Laute zusammenbinden, die keine andere Übereinstimmung aufweisen. Diese Wortmagie ließ sich in Kuba nicht dauerhaft erhalten. Sie war zur Abwandlung ebenso verurteilt, wie viele Aspekte der Kultur, die mit der Sprache verbunden waren. Wenngleich Fernando Ortiz nicht ausdrücklich

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darauf eingeht, ist doch zu vermuten, dass Fabí seine nächtliche Erzählstunde auf Spanisch bestritt. Er selbst hatte die Erzählungen in eine fremde Sprache zu übersetzen, was mit der Wortmagie sicher nicht möglich war. Auf lange Sicht entwickelte sich eine Mischsprache, die heute vornehmlich als Sakralsprache Verwendung findet und als lucumi bekannt ist. Weder die poetischen Verse noch die Wortmagie, die stets an die Sprache gebunden sind, erhielten sich in Kuba dauerhaft. Die afrikanischen babalawo nahmen Übersetzungen ins Spanische vor, um Ratsuchende zu betreuen, die kein Yoruba sprachen, und das taten sie in steigendem Maße. Übersetzungen waren aber keine rein technische Angelegenheit, sondern betrafen die kulturelle Idiosynkrasie. Judith Gleason (1973: 4-8), die in den 1970er Jahren mit einem babalawo ifá-Texte aufnahm und mit einem Yoruba-Lektor transkribierte und übersetzte, berichtet von den Schwierigkeiten dieses Unterfangens. Der beteiligte Lektor fühlte sich an einen Spruch der alten Yoruba erinnert, der da lautete: »No one can completely understand the intricacies of the Yoruba language« (John Olaniyi Ogundipe nach Gleason 1973: 8). Einige Anthropologen berichteten Ähnliches (Apter 1992: 117); andere wurden Opfer von Trugschlüssen (Bascom 1978). In Kuba existiert Yoruba heute nur noch in der Mischvariante des lucumi als Ritualsprache, während es noch bis in die 1940er Jahre im Alltag gesprochen worden sein soll (Bascom 1951). Für zentrale Begriffe hat sich aber bis heute noch keine spanische Entsprechung gefunden. Mythen In Kuba erfuhr ifá eine weitere Änderung, deren Tragweite schwer abzuschätzen ist. Die kreolischen, also in Kuba geborenen babalawo wurden ohne vorherige Lehrzeit in ifá initiiert. Ihr Wissen eigneten sie sich später an. Da die Gedächtnisleistungen aber nicht auf das auswendige Rezitieren unzähliger Verse, Gebete und Erzählungen ausgelegt gewesen sein dürften, finden sich bald die ersten Niederschriften von ifá-Texten, die zweifellos für den Eigenbedarf angefertigt wurden. Sie tragen die Namen bekannter ifá-Priester der Gründergeneration, wie Tata Gaitán, der als erster initiierter Kubaner überhaupt gilt, oder Ramon Febles. Ob die noch aus Afrika stammenden Orakelpriester bereit- oder unwillig beim Aufzeichnen oder Dik-

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tieren der ifá-Texte mitwirkten, ist nicht bekannt. Die alten ifá-Verschriftlichungen zeigten jedenfalls ein hohes Maß schwer verständlicher Zweisprachigkeit. Eine ähnliche Entwicklung skizzierte Argeliers León (1988) in einem knappen Überblick für die gesamten afrokubanischen Oraltraditionen. Er konnte einige so genannte libretas (Heftchen) der Ocha-Regel einsehen, deren erstes Auftauchen er in die 1920er Jahren datiert. In diesen libretas vermerkten die Priester die Details aller religiösen Aktivitäten. Während das Gros der kommenden Priestergeneration ganz nach Art der Oralität ihr Wissen durch unentwegte Teilnahme an Initiationen, Zeremonien und Orakelbefragungen erlangen musste, erhielten wenige Lieblinge die Lektüre der libretas von ihren Lehrern erlaubt. Es passt zum Ruf der alten Priester, dass sie mit ihren Kenntnissen geizten. Die libretas sind bis heute im Umlauf und galten zunächst wohl als kulturelle Glanzstücke exklusiven Gebrauchs. Mittlerweils sind sie allgemein verbreitet. In ihnen wird die religiöse Biographie eines Anhängers ab dem Zeitpunkt seiner Initiation exakt dokumentiert. Die Lektüre durch andere Personen ist weiterhin stark reglementiert. Vor allem aber markierten die libretas die beginnende Verschriftlichung von vormals oral tradierten Kenntnissen. Dass León von einer »verschriftlichte(n) mündlichen Tradition« spricht, scheint widersprüchlich, charakterisiert aber trefflich die Gleichzeitigkeit von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, die aus der ursprünglich mündlichen Tradition erwuchs. Allerdings ordnet León die ifá-Niederschriften in die libretas ein, während der Begriff heute üblicherweise der Ocha-Regel vorbehalten ist. Die frühen ifá-Niederschriften wurden auch bald nicht mehr nur handschriftlich verfasst, sondern auf Schreibmaschine getippt. Man nannte sie tratados (Traktate). Auch für diese Niederschriften gab es ein Geheimhaltungsgebot. Bis vor wenigen Jahren war Nicht-Initiierten die Lektüre verwehrt. Aber es war gerade die Verschriftlichung, welche die Untergrabung des Geheimhaltungsverbotes ermöglichte. Da es offenkundig personelle Überschneidungen von Freimaurern und ifá-Priestern gab, sollen die ifá-Traktate, die von der Bedeutung der 256 Orakelzeichen handeln, zunächst von den Freimaurerlogen kontrolliert vervielfältigt und nur an geweihte babalawo ausgegeben worden sein. Bald folgte der kommerzielle Vertrieb der Textsammlungen, vor allem des so genannten »Dice Ifá« (ifá sagt). Die Herkunft dieses Traktates ist unklar und umso undurchsichtiger, als der Herausgeber selbst kein babalawo war. Dennoch wurde das Traktat bald Pflichtlektüre für junge 127

Orakelpriester. Später wurde es hektographiert in den Läden für religiöse Paraphernalia vertrieben, dem Vernehmen nach ausschließlich an babalawo. In den 1990er Jahren sollen dortselbst zwei mehrbändige ifá-Enzyklopädien zirkuliert sein (Brown 2003: 147), wobei der Begriff Enzyklopädie dem Anspruch nach ein umfassendes Nachschlagewerk der ifá-Zeichen sein sollte. Mit mehr als 3.000 Seiten stellt der ›Tratado enciclopédico de Ifá‹ den vorläufig letzten Versuch einer schriftlichen Kompilation relevanter Texte zu den ifá-Zeichen dar, wobei vermutlich mehrere ältere Fassungen zusammengefügt wurden. Während vor zwanzig Jahren kaum ein Laie in Kuba Zugang zu dem ifá-Textkorpus erhalten hätte, ist er heute im Internet verfügbar. Im Folgenden wird zunächst ein Narrativ aus der Enzyklopädie wiedergegeben, das ich danach kommentieren möchte. Argeliers León (1988) hatte es übrigens bereits in seinen oben erwähnten Artikel aufgenommen, aber nicht weiter eingeordnet. Die hier von mir aus dem Spanischen übersetzte Version ist dem Internet entnommen. Sie trägt den Titel: Der Tiger konnte den Affen nicht fressen Der Tiger kam zur Ziege, damit diese ihn in ihrem Haus schlafen ließe. Und die Ziege sagte dem Tiger, dass er im Eingang des Hauses bleiben könne. Aber am nächsten Tag ging der Tiger in das Wohnzimmer und zu guter Letzt nahm er das ganze Haus in Besitz und verbrachte dort den ganzen Tag und betrachtete die Ziege missbilligend. Und diese dachte, dass der Tiger vielleicht versuchte, ihr Schaden zuzufügen. Angesichts ihres Argwohns ging sie sofort zum Haus Orunmilas. Dieser legte ihr nahe, ein Opfer zu vollziehen mit einer Schürze mit zwei Taschen, damit sie in eine Tasche Steine täte und in die andere gerösteten Mais. Und dass sie mit vorgebundener Schürze herumlaufen und gelegentlich Mais kauen solle. Und dass, wenn jemand sie fragte, was sie esse, ›Steine‹ sagen und zugleich diese anbieten solle. Dann geschah es, dass der Tiger in böser Absicht die Ziege zu einem Spaziergang einlud, mit der Idee sie zu verschlingen. Die Ziege nahm die Einladung an, und als sie den Wege entlang gingen, begann die Ziege Mais zu kauen. Der Tiger, der sie kauen sah, fragte, was sie äße und die Ziege antwortete: ›Ich esse Steine‹ und bot sie ihm an. Als der Tiger hörte, dass 128

sie Steine aß, dachte er, dass, wenn die Ziege Steine essen, sie ihn auch fressen könne. Deshalb bekam er Angst vor der Ziege und sprach: ›Sieh mal, Gevatterin, warte hier einen Augenblick auf mich, ich komme sofort zurück.‹ Und er verließ die Ziege und kehrte nie mehr zurück. Er blieb im Wald, ohne die Ziege fressen zu können. Hierzulande ordnete man diese Geschichte dem Genre der Tierfabel zu. Auch aus Yorubaland heißt es, dass Tierfabeln erzählt werden, um belehrende Absichten zu vermitteln (Hernandez Souza 2003: 37-38). In Kuba ist das obige pataki einem ifá-Zeichen zugeordnet, und zwar Osa Iwori. Es soll eine Lehre, im Sinne der ›Moral von der Geschichte‹, kommunizieren: Wenn dieses Orakelzeichen bei der Orakelbefragung erscheint, teilt man dem Ratsuchenden wahrscheinlich mit, dass es ihn teuer zu stehen kommen könnte, anderen zu viele Gefälligkeiten zu erweisen. Um dieser Gefahr zu entgehen, soll er List walten lassen, statt Stärke zu demonstrieren. »Mehr nützt die List als die Stärke«, lautet das entsprechende Sprichwort des Orakelzeichens. Es ist interessant zu sehen, dass das Narrativ dem Grundmuster folgt, das schon die Yoruba-Verse kennzeichnete (vgl. oben). Allerdings fallen Unstimmigkeiten auf, deren Gründe sich vielleicht nie endgültig aufklären lassen. Man beachte zunächst den Titel. Weder Affe, noch tigre – wie der Jaguar in einigen Ländern des südamerikanischen Kontinents heißt – sind in Kuba heimisch. Ein babalawo versicherte mir jedoch, dass mit den Narrativen der westafrikanischen Yoruba auch das Wissen über die großen afrikanischen Tiere von Löwe bis Elefant in die neue ›Zwangsheimat‹ Kuba gekommen sei: Sie waren zwar nicht in Kuba ansässig – oder früher bestenfalls im Zirkus anzutreffen –, aber im Land doch bekannt. Der Affe erscheint etwa mehrfach im ifá-Korpus, doch während er im Titel des obigen pataki auftaucht, kommt er in der Geschichte nicht vor, sondern scheint durch die Ziege ersetzt. Solche Änderungen sind im ifá-Textkorpus nicht selten, und selbst in Yorubaland haben Außenstehende sie für die mündlichen Überlieferungen moniert (McClelland 1982: 2). Im vorliegenden Fall stelle ich die Vermutung an, dass ein babalawo in Kuba die Ziege für die Verwandlung von geduldiger Gutgläubigkeit zu kluger List für die überzeugendere Verkörperung hielt. Gegen sie tauschte er den Affen aus, der in Yorubaland diesen Wechsel vielleicht treffender zum Ausdruck ge-

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bracht hatte. Doch die Verwicklung hatte sicher auch mit der Verschriftlichung der Geschichte zu tun. Münzel Aussage, die er im Rekurs auf Walter Wimmel formulierte, könnte auch für ifá gelten: Daß Oralkultur alte Texte abwandelt, ist an sich bekannt. In der neueren Diskussion um Vor- und Nachteile der Schrift lobt man die Fähigkeit mündlicher Tradition zur ›Tilgung des Vorausgegangenen‹ durch Vergessen – demgegenüber fehle der Schriftkultur die ›natürliche Löschung‹, jenes periodische Versinken kultureller Manifestation, das dem System der Erinnerungskultur in ausreichendem Maß eignete. Es fehlt, möchte man sagen, die Selbstreduzierung (Münzel 1986: 206). Der kubanische babalawo Antonio Aguila, den ich per Email nach den Gründen für die Unstimmigkeit von Affe und Ziege in Osa Iwori fragte, antwortete mir am 22.09.2017: Es gibt viele Fehler von jenen, die diese Dokumente transkribieren und die sowohl die Wörter auslassen wie sie auch die Zeichen ändern, und daher kommen diese Änderungen, welche die richtige Interpretation stark beeinflussen; und weit davon entfernt der Religion zu helfen, vertauschen sie Dinge und schaffen große Interpretations- und Verständnisprobleme. Er ergänzte, dass das pataki von chivo (Ziegenbock) sprach, es aber eine Ziege sein müsse. Nach kubanischer Denkart könne sich nur eine weibliche Figur eine Schürze umbinden. Darüber hinaus gibt auch er die Verschriftlichung als mögliche Quelle von Unstimmigkeiten im ifá-Textkorpus an. Ohne Schrift wäre der Austausch des Affen durch die Ziege vielleicht belanglos geblieben und als unumgängliche Anpassung an die neuen Bedingungen der Diaspora betrachtet worden. Im Übrigen herrschte auf beiden Seiten des Atlantiks Einigkeit, dass Änderungen auf Einflüsterungen von ifá-nahen Geistern zu betrachten sind. Die Schrift ist aus dem religiösen Alltagsleben der Gegenwart nicht mehr wegzudenken. In den Häusern erfahrener babalawo stapeln sich verschiedene Ausgaben des ifá-Textkorpus, die mittlerweile durch elektronische Formate und Bücher ergänzt werden. Seit kurzem existiert sogar eine ifáApplikation für Smartphones, die alle Angaben zu den 256 Orakelzeichen 130

enthält (Rossbach de Olmos 2017). Dennoch stellt sich jeder babalawo selbst ein schlechtes Zeugnis aus, der bei einer Orakelbefragung das Buch konsultieren muss. Dass das Wissen über die 256 Orakelzeichen und ihre Bedeutung in den Kopf des Orakelpriesters gehört, und die dazugehörigen Gebete und Gesänge auswendig aufzusagen oder zu singen sind, versteht sich von selbst. Außerdem gibt es weiterhin Refugien der Mündlichkeit, die sich neben der Schriftlichkeit erhalten haben. Im Aufenthaltsraum der ifáHäuser kann es zu endlosem Palaver über Details von ifá-Orakelzeichen kommen. Sie dienen dem Informationsaustausch der babalawo untereinander und der Unterweisung der Schüler. Sie scheinen zudem der (oralen) Logik der gemeinsamen Rückbestätigung von ifá-Wissensbeständen zu folgen und erinnern entfernt an den Erzählmarathon von Ifabí. Es hat den Anschein, dass Reden, wie auch im indianischen Amerika (vgl. Münzel 1986: 171-174), einen Unterhaltungswert jenseits schlichter Informationsübermittlung besitzt. Jüngst sind es die Verschriftlichungen in digitalisierter Form, die für die nachlassende Anerkennung der etablierten Hierarchie verantwortlich gemacht werden. Waren vormals ältere Orakelpriester exklusive Quellen des Wissens, haben sie heute die Konkurrenz von Websites, Blogs und sozialen Netzwerken aus jenen Ländern zu fürchten, in die jüngere ifá- und ochaPriester abgewandert sind, und sich dort, anders als im restriktiven Kuba, die digitale Welt schnell zu erschließen verstanden. Über »fehlenden Respekt« wird nun lamentiert, wenn den im Internet zirkulierenden Informationen größeres Gewicht beigemessen wird als den Unterweisungen der Älteren. Teils mag hier der übliche Generationenkonflikt im Spiel sein, zumal den Beschwerden der mayores (Ältesten) die Kritik der Jungen gegenübersteht, diese wachten eifersüchtig über ihr Wissen und gäben es nicht weiter. In oral dominierten Situationen, etwa den informellen Gesprächsrunden und den weiterhin stattfindenden Gemeinschaftsessen nach Initiationen oder Zeremonien dominiert gleichwohl das ›Senioritätsprinzip‹, das dem Ältesten das erste Wort einräumt. Jüngere warten, bis sie an die Reihe kommen, selbst wenn sie Substantielles zu sagen haben. Für Frauen gilt Entsprechendes, sofern ihre Erfahrung sie nicht ihrerseits als Älteste ausweist. In der verschriftlichen Umwelt überlebten demnach einige oral dominierte Bereiche. Aber die Schrift hatte noch eine weitere Implikation, die den Anhängern der These Recht zu geben scheint, dass sie die Vorbedingung für ein verallgemeinerndes Denken ist. Um den Preis der Vielfalt des 131

Konkreten entstand die Abstraktion. Genau dies lässt sich anhand des ifáKorpus nachverfolgen. Im Zuge seiner Verschriftlichung wurden ifá-Narrative, -Gebete, -Sprichwörter, -Preislieder usw. organisiert, strukturiert und in eine geschlossene Form gebracht. Die frühere Vielzahl der in vielen babalawo-Köpfen zum Abruf bereitstehenden Texte – was sich im allgegenwärtigen und oft wiederholten Sprichwort »das Wissen ist verteilt« artikuliert – wurde entsprechend der hierarchischen Reihenfolge der Zeichen geordnet. Gebete und Gesänge wurden zugewiesen und weitere Zusatzinformationen angefügt, so dass am Ende ein rund 3.000 DIN A4 großes Kompendium entstand, das Wissensbestände zu allen 256 Zeichen umfasst. Dies geschah nach meiner Überzeugung in Kuba früher als in Yorubaland (vgl. Rossbach de Olmos 2017). Bei diesem Prozess kam den Geschichten nicht nur ihr poetischer Charakter abhanden. Vielmehr ging ihre Bedeutung als Quelle divinatorischer Wahrheit verloren, weil nämlich ihre narrativen Konkretionen nach und nach zu Essentialismen verdichtet wurden. Diese im Zuge der Verschriftlichung erfolgte ›Abstraktion‹ ist heute dominierend. Von hier wird die Bedeutung eines Orakelzeichens ›deduktiv‹ heruntergebrochen. Die Geschichten werden mehr und mehr zu bloßen Illustrationen degradiert. Dies mag ein babalawo aus Yorubaland beklagen; für seinen Kollegen aus Kuba sind die Verschriftlichung und ihre Folgen zeitgemäß. Zeichen Für das indianische Amerika hält Münzel (1986: 222-228) Bilder, Zeichen und Symbole, die für sich betrachtet gegenstandsfern sind und dennoch auf lebensnahe Gegenstände verweisen, für ein klares Indiz, dass die vermeintlich in der Schriftlosigkeit verankerte ›Unfähigkeit zum abstrakten Denken‹ nicht existiert. Für die Dominanz des Bildlichen führt er auch das Beispiel des Candomblé an, also das afrobrasilianische Pendant zur kubanischen ocha-Regel, das wie diese den Gewitter- und Kriegsgott Xangô3 mit der Heiligen Barbara identifiziert. In beiden Fällen ist die gemeinsame rotweiße Farbgebung entscheidend. Obgleich man dieselben oricha an verschiedenen Orten der Diaspora gelegentlich mit anderen katholischen Heiligen identifizierte, spielt die gemeinsame Farbe stets eine wichtige Rolle. 3

Dies ist die brasilianische Schreibweise.

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Noch immer wird diskutiert, ob es sich tatsächlich um einen ›Synkretismus‹ handelte, um eine versteckte Huldigung der oricha unter dem Deckmantel der Heiligenverehrung oder um eine schon in der afrikanischen Herkunftsregion vorhandene Durchlässigkeit zu anderen Religionen. Wahrscheinlich sind alle drei Argumentationen zutreffend, und wir haben es hier erneut mit einer Mehrdeutigkeit zu tun, die Flexibilität erleichtert und Exaktheit erschwert. All dies gilt auch für ifá, das ein System vom Zeichen ist, die mehrdeutig sind, aber ihre Bedeutung aus dem jeweiligen Kontext beziehen. Die Orakelzeichen sind so an erster Stelle als kodierte Botschaften der Gottheit Orunmila zu verstehen, die auf Problemkonstellationen verweisen, diese benennen und Lösungen durch Opfervorschriften sowie Verhaltensempfehlungen liefern. An zweiter Stelle waren sie in mythischer Zeit menschliche oder gar gottähnliche Wesen, deren Handeln in der Welt noch in der Gegenwart Modellcharakter besitzt. In den Narrativen tauchen die Zeichen gelegentlich selbst als babalawo auf, die das Orakel befragen. Zu guter Letzt beinhalten die Zeichen eine Kraft, die man Zeichenmagie nennen könnte, d.h. sie erlauben es, die Energie zu beschwören, die in sie eingeschrieben ist. Aus diesem Grunde war es noch jüngst in Kuba untersagt, die Zeichen grundlos aufzuzeichnen, da sich so in ihnen eingeschlossene Energie aktivierte. Einer Reihe von Zeichen wohnt die Kraft inne, spezifische oricha auf die Erde herabsteigen zu lassen. Sie werden isalaye genannt. Die Gründe, warum ein Zeichen gerade einem oricha zugeordnet wurde, lassen sich nicht in Erfahrung bringen. Aber in der Regel ist die Energie dieses Zeichens insgesamt eng mit dem oricha verwoben, der auch als Hilfsinstanz (als Adressat von Opfern) für die Lösung von Problemen gilt. Die Bedeutung dieser Zeichenkraft ist nicht zu unterschätzen, da sich mit dem Zeichen just jene Gottheiten aktivieren lassen, die gebraucht werden. Die Komplexität des Bildlichen wird im ocha-Komplex noch deutlich, hat aber auch Bedeutung für das ifá-Orakel. Zunächst scheint alles recht einfach. Nicht alle, aber die meisten oricha sind in otanes (regla de Ocha-Steine) verkörpert. Dann aber wird alles vielgestaltiger: Die Art der Steine, ihre Farben, ihre Anzahl und der Fundort stehen in Übereinstimmung mit den Bedeutungs- und Wirkungsfeldern des jeweiligen oricha, der sich an den Schnittstellen eines komplexen Verweisschemas aus symbolischen, ikonographischen, metaphorischen oder mythologischen Merkmalen zeigt. Schon das Gefäß des oricha und die Substanzen, in dem dieser aufbewahrt wird, markieren solche Schnittstellen. Yemayá, um dies an einem Beispiel 133

zu verdeutlichen, ist die Meeresgottheit. Sie umfasst sieben Steine aus dem Meer; Blau und Weiß sind ihre Farben, die auch das Gefäß aufweisen sollte, in dem die Steine vorzugsweise in Meerwasser aufbewahrt werden. Einige Attribute scheinen untereinander stimmig, wie das Meer und die Farbe Blau, andere lassen hingegen (für den Außenstehenden) keine kohärente Beziehung erkennen (Bolívar 1990, Barnet 2000: 42-64). Darüber hinaus werden die meisten oricha mit geographischen Räumen identifiziert, in die sie sich ›eingeschrieben‹ haben. Auch zu diesen Räumen werden mythologische oder ikonographische Bezüge mit den jeweiligen oricha hergestellt. Dazu gehören Plätze in der Natur wie auch unterschiedslos solche, die der Mensch okkupiert, geformt oder geschaffen hat. Neben dem Gewitter und Changó sowie dem Meer als Domäne von Yemayá und Olokun entsprechen die Wildnis, der Wald und der Busch der Pflanzengottheit Osaín, dem oricha des Eisens Ogun sowie dem Jäger Ochosi. Hügel und Höhlen werden dem alten weisen Obatalá zugeordnet, die Bahnschiene Ogun, das Gefängnis Ochosi, der Friedhof der Herrin über den Wind Oyá, die Klinik dem oricha der Krankheiten Babalyú Ayé und alle Wegkreuzungen der Trickstergottheit Eleguá. Den Markt hingegen teilen sich mehrere Gottheiten, auch wenn er in erster Linie Eleguá zugeordnet wird. Es sind keine fest definierten Orte, es muss kein konkreter Markt sein, keine spezielle Höhle, kein bestimmter Berggipfel, Vulkan, Fluss oder Wald. Anhänger der afrokubanischen ifá- und ocha-Regel lesen die Landschaft, in der sie sich bewegen, in ähnlicher Weise wie Reisende eine Landkarte. Ich erkenne hierin allerdings keinen Nachweis für die Existenz abstrakten Denkens – das ich allerdings auch niemandem absprechen möchte. Mir fiel vielmehr die Detailverliebtheit auf. So wie schon der ifá-Korpus durch die immense Zahl von Geschichten Aufmerksamkeit erregte, beeindruckt nun das ›Lesen‹ und Verknüpfen einer Vielfalt unterschiedlicher Attribute rund um die oricha, von denen hier nur ein Bruchteil Erwähnung fand. Zusammenfassung Im vorliegenden Beitrag wollte ich einige Überlegungen von Mark Münzels Beitrag im Buch ›Quellqay‹ aufgreifen, um mich zu Reflexionen über Themen anregen zu lassen, über die ich selbst gerade nachdenke. Schiefe Vergleiche mag Mark Münzel mir nachsehen. Auch bin ich weiterhin unsicher, 134

ob man den Nambikwara, Aché oder Cuna wirklich den afrokubanischen ifá- und ocha-Komplex zur Seite stellen sollte. Allerdings erlernten alle diese Gruppen den Umgang mit der Schriftlichkeit auf mehr oder weniger freiwillige Weise, und jede hat ein Nebeneinander von Wort und Bild etabliert. Gleichzeitig wurde deutlich, dass Differenzen zwischen Kulturen ihre Gemeinsamkeiten nicht völlig verdecken können. Literatur Abimbola, Wande 1976. Ifá: an Exposition of Ifá Literary Corpus. Ibadan: Oxford University Press Nigeria. Aboy Domingo, Nelson 2016. Orígenes de la Santería cubana: Transculturación e identidad cultural. La Habana: Editorial de Ciencias Sociales. Akinnaso, F. Niyi 1992. Language, and Knowledge in Literate and Nonliterate Societies. Comparative Studies in Society and History 34 (1), 68-109. Allard, Olivier und Harry Walker 2016. Paper, Power, and Procedure: Reflections on Amazonian Appropriations of Bureaucracy and Documents. The Journal of Latin American and Caribbean Anthropology 21 (3), 402-413. Apter, Andrew 1992. Black Critics & Kings: the Hermeneutics of Power in Yoruba Society. Chicago und London: University of Chicago Press. Argeliers, León 1988. Un caso de tradición oral escrita. Oralidad 1 (1), 9 Seiten. Assmann, Jan 1992. Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck. Barnet, Miguel 2000. Afrokubanische Kulte: Die Regla de Ocha, die Regla de Palo Monte. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bascom, William Russell 1951. Yoruba in Cuba. Nigeria Magazine 37, 1420. —— 1978. Review: Ifá: An Exposition of Ifá Literary Corpus by Wande Abimbola. American Anthropologist 80 (3), 703-704. —— 1991. Ifa Divination: Communication between Gods and Men in West Africa. Bloomington: Indiana University Press. Basso, Keith 1974. The Ethnography of Writing: Explorations in the Ethnography. In: Richard Bauman und Joel Sherzer (Hg.) Explorations in the Ethnography of Speaking. Cambridge, New York und Melbourne: Cambridge University Press, 425-432. 135

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Schabnam Kaviany

Die Steine des Mondes Das traditionelle Telefon der Bribri-Heiler in Costa Rica Mit Freude erinnere ich mich an die Vorlesungen und Seminare Mark Münzels zurück, in denen es nie langweilig wurde. Ebenso zeugen seine Publikationen und Vorträge von einem wissenschaftlichen Stil, der bedeutsame Sachinformationen oftmals mit poetisch anmutendem Humor transportiert. Mark Münzel fordert zum Nachdenken und Reflektieren auf, eröffnet neue Blickwinkel und Perspektiven. Informativ und unterhaltsam zugleich erreicht er seine Zuhörer und Leser auf einprägsame Weise. Es ist eine seltene und wertvolle Form der Wissenschaft, die Münzels Werke verkörpern. Eine Wissenschaft, der es weniger um schablonierende und statische Theorien, als um Verstehen und um Inhalt zu gehen scheint, welcher im Gleichklang mit dem Stil seine Essenz mit Präzision auf den Punkt bringt. Die Essenz muss keine eindeutige sein – im Gegenteil: Münzel zeigt, dass der Anspruch auf Eindeutigkeit oft von Mangel an Kreativität und Reflexion zeugt. Und eine Wissenschaft, die in ihrer Charakteristik nur ein Künstler der Rhetorik betreiben kann. Hier kommt der ethnologische Geist Münzels zum Tragen, der ihn mit seinem ›Forschungsgegenstand‹ verbindet. Wie er in seinen Vorlesungen über ›Indianer, Rhetorik und Kunst‹ dozierte, hat er sich die indianische Kommunikationsform des kunstvollen Erzählens zu Eigen gemacht. Die Beiträge Mark Münzels zur Ethnologie und darüber hinaus sind beachtlich und vielfältig. In diesem Text möchte ich mich auf Aspekte seiner Mythenforschung beziehen. Seine Vorlesungen, Vorträge und Publikationen zu diesem Thema machten und machen es nicht nur möglich, sich über die Bedeutung und Logik von Mythen weiterzubilden, sondern sie mitunter in Form von Soloperformances live mitzuverfolgen oder gar ›die Mythen zu sehen‹. In seiner Auseinandersetzung mit Mythen macht er diese als Teil eines Gesamtkunstwerkes verständlich, das ebenso Form und Inhalt der 139

Oralität als auch damit verbundene Ausdrucksformen und Objekte einschließt (vgl. Münzel 1986). Hier möchte ich kulturelle ›Objekte‹ behandeln, die eng mit der Mythologie der Bribri in Costa Rica verknüpft sind. Den anspruchsvollen Kriterien der Mythenanalyse im Münzelʼschen Sinne (vgl. Münzel 1986) gerecht zu werden, kann im Rahmen dieses Textes nicht angestrebt werden. Stattdessen dienen die angeführten mythischen Inhalte der reinen veranschaulichenden Kontextualisierung roher Feldforschungsergebnisse aus den Jahren 2015-2017. In einer rezenten Veröffentlichung bezieht sich Münzel auf eine Dichotomie der Kulturwissenschaft in Form einer Tierparabel. Sie handelt vom Jaguar (dem Theoretiker), der zum Himmel emporsteigt, und dem Wildschwein (dem Feldforscher), das indessen im Schlammloch verbleibt. Er weist darauf hin, dass im Rahmen der im Strukturalismus wurzelnden Theorienschmiede die Feldforschung und deren häufig kontroverse Ergebnisse zugunsten der Abstraktion oftmals vernachlässigt werden (Münzel 2017: 7). So möchte ich in diesem Text dem Wildschwein (der Feldforschung) etwas mehr Beachtung schenken. Ich erinnere mich an eine Vorlesung, in der Münzel ein Bild von einer Kröte und eines von der NASA an die Wand projizierte, um diese zu vergleichen. Denn beide können auf dem Mond landen, beide auf völlig andere Weise. Die Kröte ist in einer indianischen Mythe ein Schamane, der zum Mond fliegt (vgl. Münzel 2016b: 122-123). Indigenen Schamanen werden häufig die Fähigkeiten zugeschrieben, sich zu verwandeln und sich mithilfe spezieller Vehikel auf Geistesreisen zu begeben. Der genannte Vergleich verdeutlicht prägnant und humorvoll wichtige kulturelle Aspekte, die im Folgenden behandelt werden. So schreibt Münzel: Die Macht des Medizinmannes beruht darauf, dass er aufgrund seiner Visionen die Illusion des Diesseits überwindet und den wahren Charakter scheinbar unbedeutender Dinge erkennt, in denen sich eine geheimnisvolle Kraft verbirgt (Münzel 1977: 210). Der hiesige Beitrag handelt von den Heilern der Bribri im Süden Costa Ricas. Auch sie reisen zum Mond, zwar nicht in Gestalt von Kröten, aber ebenso auf Geistesreisen und auf völlig andere Weise als die NASA. Ebenso handelt der Beitrag von Steinen, die uns unbedeutend erscheinen mögen, für die Bribri jedoch eine geheimnisvolle Kraft verbergen. 140

Für uns Indigene ist alles lebendig, wir wissen alles ist lebendig. Ihr denkt der Stein ist nicht lebendig – nein, der Stein ist lebendig, er hat sein Wesen, also für uns ist alles lebendig (Hernán Segura).1 Eine Mythe erzählt, dass die magischen Steine (sia‘) in besonderer Weise mit dem Mond (si‘) verbunden sind:2 sìitami ist die Herrin des Mondes3 und die Mutter von sibö, dem Gott der Bribri. Ihr Onkel sibökomo war ein großer Medizinmann und hatte einen männlichen Stein, den er zur Diagnose und Heilung verwendete. Der Stein war in Wirklichkeit sibö. Bevor er geboren wurde, war sibö sia‘, der erste Heilstein. Er gab seine Gedanken an sibökomo weiter durch den Stein. So vermittelte er ihm, sìitami zu suchen und sie mitzunehmen, um herauszufinden, wo man die Welt erschaffen könnte. Dann ging der Stein verloren und neun Monate später wurde sibö geboren (vgl. Jara und García 2011: 180-182) Der Stein ist in der Geschichte so mächtig, dass er mit dem Gott der Bribri identifiziert wird. Einerseits wird sibö von der Herrin des Mondes geboren, andererseits existierte er bereits zuvor. Frau und Mann bekommen beide eine bedeutsame Funktion zugeschrieben, die in Verbindung mit den heiligen Steinen steht. Der Mann ist dafür zuständig als Schamane die von den höheren Mächten übermittelten lebenswichtigen Entscheidungen zu treffen. Die Frau behütet den Stein nicht nur wie eine Mutter, sondern gebiert ihn sogar und macht ihn zu einem aktiven Wesen. In diesem Sinne reflektiert die Mythe essentielle kulturelle und soziale Zusammenhänge in Bezug auf die heiligen Steine, die sich im Verlauf des Textes erschließen. Die Gesellschaft der Bribri ist in Klans und in Ämter unterteilt. Die Klans sind nicht mehr von so entscheidender Bedeutung wie in der Vergangenheit, sind aber noch immer relevant. Die Ämter beziehen sich auf Spezialisierungen innerhalb einer hierarchisch organisierten Gesellschaftsstruktur. Teils wird die Besetzung der Ämter durch die Klanzugehörigkeit 1

Alle im Verlauf des Textes angegebenen Namen beziehen sich, sofern nicht anders vermerkt, auf Bribri-Freunde und -Gastgeber während der Feldforschung. Alle Indigenen-Zitate sind aus dem Spanischen (teils zuvor aus dem Bribri) übersetzt. 2 Der Mond spielt eine wichtige Rolle bei den Bribri. Er gibt den landwirtschaftlichen Zyklus vor, die Indigenen bauen alles nach Mondzeiten an. 3 In einer anderen Geschichte ist sie der Mond selbst, die Schwester der Sonne.

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beeinflusst. Ämter, die hier näher behandelt werden sind der usékar (Hohepriester), der awá (Heiler) und die siàtami (Hüterin der Steine). Auf den Spuren der usékares Während meiner Feldforschung über die Bedeutung von Pflanzen bei den Bribri stolperte ich immer wieder über die magischen Steine. Schließlich folgte ich dem Weg der Steine, um relevante Forschungsdaten zu erlangen. Auf meiner ersten Reise in das Hochland fand ich einen besonderen kristallartigen kleinen Stein auf dem Boden und hob ihn auf. Als ich kurz darauf über einen anderen großen Stein stolperte, fiel der kleine Stein aus meiner Hand in die Tiefe. Ich sah ihm nach, doch musste mich mit seinem Verschwinden arrangieren, es schien, als sollte es so sein. Später erfuhr ich unabhängig davon eine Geschichte: Einmal hat ein Mann einen Stein von oben für das Museum mitgenommen, weil sie da oben sehr schöne Steine haben. Er dachte, es merke keiner, doch dann folgte ein Erdbeben, das einen Monat anhielt, bis der Stein zurückgebracht wurde (Clotilde Mayorga). Im Hochland Talamancas gibt es einen Ort, an dem die letzte Hüterin der Steine des usékar-Klans lebt. Die Bribri nennen diesen Ort Kátsipatsipa, was so viel bedeutet wie ›grüner Wald/Berg‹, denn es heißt, dass dort alles in Hülle und Fülle gedeiht. Die usékares müssen auch ihre Felder nicht roden, denn alles ist schon vorbereitet zum Pflanzen. Kátsipatsipa ist ein heiliger und sagenumwobener Ort. Nur noch wenige Häuser befinden sich in dem abgelegenen Gebiet. Sibö, der Gott der Bribri, brachte die usékares auf die Erde an die zwei heute noch immer heiligen Orte des Rio Coén und Rio Lari, damit sie sich um die Bribri und ihre kulturell nahe verwandten Verbündeten, die Cabécar, kümmern. Am Anfang der Welt befreiten sie die Erde mit Steinen, die sibö ihnen aushändigte, von zahlreichen feindlichen und bedrohlichen Wesen, wie Jaguaren und Anakondas, um den Bribri das Leben auf der Erde zu ermöglichen (Clotilde Mayorga). Anders als die Bribri und die Cabécar entstanden die usékares nicht aus Maissamen, sondern kamen als Menschen auf die Erde aus der andern Welt. So erklärte der awá Matheo:

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Sie sind natürlich so gekommen, sie sind lebendige Wesen, aber ihre Geister sind nicht wie wir, sie sind Jaguare, sie sind eine ältere Gruppe als wir.4 Sie existieren noch, alle Dinge, die sie haben, die Steine, sie verwandeln sich in jegliches Ding. Nach ihrem Tod verwandeln sie sich in bedrohliche Jaguare. Die usékar-Schamanen waren keine Heiler,5 sie waren Oberhäupter, die den Cabécar angehörten und hatten eine immense Macht inne. Ihr Klan war mit speziellen Kräften ausgestattet und den anderen Klans überlegen. Wurden ihre Gebote und Anweisungen nicht befolgt, resultierten Unglücke oder Katastrophen. Die (herkömmlichen) Schamanen können sich nicht verwandeln, aber die usékares. Sie können sich verwandeln in Luft, sie können die Menschen zerstören, sie können alles machen, sie können sich in Regen verwandeln oder anderen Schaden anrichten, wenn man sie stört, aber wenn nicht, dann nicht. Wir Bribri respektieren sie (awá Matheo). Als unantastbare6 spirituelle Führer waren die usékar-Schamanen für kollektive spirituelle Belange zuständig, wie im Falle von Naturkatastrophen oder Kriegen. Um mit den Geistern zu verhandeln, zogen sie sich zu solchen Anlässen in Höhlen zurück und verordneten der Gesellschaft bis zu einmonatige Diäten, die zahlreiche ritualisierte Handlungsvorschriften implizierten.7 Einige Bribri berichteten, die usékares lebten noch tief im Wald, einige meinten, es gäbe nur noch eine letzte mächtige usékar, andere wiederum 4 Die

usékares hatten auch ihren eigenen Gott, boknama, der die gleiche Macht besaß wie sibö. Er war einer der Könige der Jaguare (Jara und García 2011: 28). 5 Im Zuge der Kolonialisierung starb der letzte usékar-Schamane (Palmer et al. 1991: 39) um 1930 (Bozzoli 2006: 2). 6 Usékares lebten früher alle an den zwei mythisch vorgesehenen Orten und es war verboten mit den usékar-Schamanen zu sprechen, ein erwählter Vermittler regelte die Kommunikation mit der Gesellschaft. Nach Vorschrift dürfen usékar- Klanangehörige sich nur mit Angehörigen eines speziellen Klans verheiraten (Bozzoli 2006, Palmer et al. 1991: 38-40) 7 Aufzeichnungen zeugen davon, dass die verbliebene usékar-Familie ihre Kräfte zur Abwehr von Plagen noch bis mindestens Ende des 20. Jahrhunderts aktiv rituell einsetzte (Palmer et al. 1991: 40).

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versicherten, es verbleibe nur noch der Klan, wieder andere behaupteten gar, es existierten keine usékares mehr. So zeichnete sich zunächst ein widersprüchliches und verwirrendes Bild ab. Erst im Laufe der Zeit ließen sich diese Angaben angesichts der Mehrdeutigkeit des Begriffs vereinen, denn die Bezeichnung usékares wird heute sowohl für die einstigen usékarSchamanen (Hohepriester), als auch für die übrigen Klanangehörigen, als auch teils für verwandelte Jaguare verwendet. Nachdem ich viel Kontroverses über die usékares gehört hatte, wollte ich mehr darüber erfahren und machte es mir zum Ziel den Ort, dem sie entstammen, aufzusuchen. Nicht jedem ist es möglich nach Kátsipatsipa zu reisen. Beim ersten Anlauf, das Haus der weisen Frau aufzusuchen, scheiterten wir. Mein Begleiter war nicht anerkannt genug und die Bewohner des Nachbardorfs warnten eindringlich mit schaurigen Geschichten. Einige Monate später erklärte sich eine ausgewählte Person, die schon vermehrt Kontakt mit den letzten usékares hatte, bereit, mich mitzunehmen. Die Zeichen sollten uns den Weg leiten. Sollte eine Liane oder ähnliches den Weg versperren, mussten wir umkehren. Der Himmel verdunkelte sich, wie prophezeit, auf unserem Weg nach oben. Doch sollte ein Gewitter folgen, mussten wir umkehren. Auf einem schmalen, dicht umwucherten Pfad begannen Nebelschwaden uns zu umhüllen. Hier beginne Kátsipatsipa, erklärte mein Begleiter Patrocinio, ein heiliges Terrain, ab hier sei es verboten über die usékares zu sprechen. Vom nächsten Ort im Tiefland ist Kátsipatsipa einen Tagesmarsch entfernt, doch in der Regel verteilt man die lange Strecke auf zwei Tage und pausiert in dem dazwischenliegenden Dorf. Im Hochland herrscht tiefer Respekt vor dem heiligen Ort, den Angehörigen des usékar-Klans und den Traditionen. Geschichten und Mythen werden bevorzugt geheim gehalten und nach Einbruch der Dunkelheit ist es allerorts untersagt, über die usékares zu sprechen, da sie sich verwandeln und den Menschen Schaden zufügen können. Zudem warnen die Bribri davor, diesen Ort aufzusuchen, zumal Respektlose, die sich dem Dorf oder dem Haus ohne Erlaubnis näherten, nie zurückgekehrt sind. Sie kamen auf dem Weg um, wenn die usékares sich in Raubtiere verwandelten und sie als Beute erlegten oder in einen Wind, der sie die steilen Klippen hinunter pustete. Auf dem Weg zu dem Haus in Kátsipatsipa hatten sich Trampelpfade verändert seit dem letzten Besuch meines Begleiters. Wie es üblich für die Bribri ist, wurden wir in jedem Haus, das wir passierten, gastfreundlich mit 144

einer Tasse Kakao oder Kaffee empfangen, doch den Weg wollte uns keiner weisen. Schließlich erreichten wir das usékar-Terrain. Anders als die gewöhnlichen Pfahlbauten der Bribri, die aus jüngerer Zeit stammen, fanden wir dort eine auf dem Erdboden errichtete traditionelle Rundhütte vor. Ein großes Muschelhorn schmückte einen Pfosten. Unter mehreren Überdachungen saßen Frauen und Kinder. Eine große, imposante alte Frau begrüßte uns, die Hüterin der Steine. Wir überreichten ihr ein Gastgeschenk und erhielten ein leicht alkoholisches Maisgetränk und Bananen ... Das Wissen der usékares bleibt geheim. Ob es eine Nachfolgerin der Steinhüterin geben wird, lässt sich erahnen, ist jedoch nicht sicher. Die Hüterin der Steine verwahrt die Steine des letzten Hohepriesters, die sibö, der Gott der Bribri, den usékar-Vorfahren übergab, und sie ist somit die letzte Machtträgerin des Klans. Sie hütet die Steine eingewickelt in Baumwolle in einem Korb unter ihrem Dach, wo sich der mythische Wohnort von sibö befindet.8 Sie ist, wie alle usékares es waren, die Schützerin der Bribri auf der Erde. Die Steine gelten als Haustiere der alten Frau, wilde Raubtiere, die um das Haus streichen (Clotilde Mayorga). Diesen Ort zu schützen ist wichtig für die Bribri, denn man sagt, die Steine können davonfliegen. Wenn sie verloren gehen, können sie sich in Jaguare oder Raubvögel verwandeln und sehr gefährlich für die Menschen werden (Palmer et al. 1991: 37). Dementsprechend handelt eine Mythe von den Steinen eines verstorbenen usékares. Sie wurden von seiner Schwester in einem Korb bewahrt und verwandelten sich, als sie von einem betrunkenen Freund hinuntergeworfen wurden, in Jaguare. Die Schwester musste die Jaguare zähmen und wieder in den Korb locken. Es heißt, diese Steine existieren noch immer (vgl. Bozzoli 2006: 81). Über die ehemalige Feindschaft zwischen den Bribri und ihren Nachbarn, den Teribe, erzählte mir Clotilde die Geschichte vom Brauch der Teribe, die Frauen der Bribri zu holen. Eines Tages versteckten die Bribri einen Stein im Gepäck eines Mädchens, das die Teribe verschleppten. Die junge Frau verschwand stets des Nachts, um mit dem Stein in Gestalt eines Jaguares zu sprechen. Dieser wuchs heran und tötete schließlich alle Teribe. Er war ihr Onkel und brachte sie heim. »Darum haben Frauen eine wichtige Rolle bei den Bribri, sie haben die Bribri vor den Teribe gerettet. Sie haben eine geheime Macht und daher eine wichtige Position« (Clotilde 8 Der

Gott sibö wird an der Spitze des Universums lokalisiert, das seine mikrokosmische Entsprechung im Haus hat.

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Mayorga). Die Steine sind nicht nur in besonderer Weise mit der Macht der Frauen verbunden, sondern ihre Kraft verheißt auch den Sieg über feindliche Mächte. Anders als die Heiler (awápa) nutzten die usékares nur Steine, keine Pflanzen. Ihr Beruf unterschied sich stark von dem der awápa. Soviel konnte Christóbal Tello, einer der letzten alten Weisen in Kátsipatsipa, dazu sagen. Alles Weitere wollte mein Begleiter Patrocinio mir im Tiefland erzählen, denn dafür war der Ort zu heilig. Die usékares arbeiteten mit Steinen, erfuhr ich später, aber nicht um zu heilen. Zwar kannten sie die Heilpflanzen und gaben auch ihre Kenntnisse weiter, doch die Bribri erklären, dass sibö innerhalb dieses Klans keine Heiler etablierte, da sonst die Geheilten unsterblich würden. So würde niemand mehr sterben durch Krankheit und die Erde würde überbevölkert von Menschen. Die Steine der awápa 9 Heutzutage sind bei den Bribri die Heiler die Experten der Traditionen. Im Detail sind die Traditionen von Heiler zu Heiler verschieden. Wenn es darum ging, allgemeine Schlussfolgerungen aus speziellen Phänomenen zu ziehen, holte ich stets die Meinung verschiedener Experten ein. Von Ort zu Ort waren die Resultate unterschiedlich. Eine These Münzels (1988: 33, 36) hebt die Wandelbarkeit und Individualität der Mythen schriftloser Kulturen hervor, welche einer ständigen Neuinterpretation durch Erzähler und Zuhörer unterliegen. Bei den Bribri bewegen sich Mythen und rituelle Praxis in diesem Sinne in einem Spannungsfeld von »kollektiver Ordnung«, festgeschriebenen Regeln und »individueller Freiheit« (Münzel 1988: 209). Des Weiteren, wie es Sebastiana und Hernán Segura formulierten, »unterscheidet sich (bei den Bribri) die Geschichte gemäß dem Klan, verschiedene Klans haben verschiedene Lieder, die awápa (Heiler) lernen verschiedene Lieder.« Denn Lieder sind für sie das Überlieferungsmedium der Mythen, die wortgetreu über Generationen hinweg tradiert werden, in Ritualsprache formuliert sind und nur von den Heilern dekodiert werden können, bevor sie in der Gesellschaft als Geschichten weitergegeben werden. In einem Dorf können dementsprechend Traditionen und Mythen sowohl aufgrund des individuellen Erzählers, Kontextes und Zuhörers variieren, 9

-pa ist ein Pluralsuffix im Bribri; Sg. = awá.

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als auch weil Heiler unterschiedliche klanggebundene Traditionen pflegen, die sie von ihrem jeweiligen Meister erlernten. Die Lieder sind auch essenzieller Bestandteil der Heilrituale: Jede Geschichte hat ein Lied. Hat der Patient die Tapirkrankheit, singt der Heiler die Geschichte des Tapirs. Hat der Patient die Jaguarkrankheit, singt der Heiler die Geschichte des Jaguars. Die Schamanen singen für die Heilung die Geschichten der Dinge, welche die Krankheiten verursachen ebenso wie die Lieder der Heilpflanzen (Sebastiana Segura). So teilte mir der awá Ricardo Lopez mit: »Die geheimen Lieder beziehen sich auf die Geschichte des Ursprungs der Pflanzen. Sie erklären mit dem Ursprung der Pflanzen, warum sie die Hilfe der Pflanzen beantragen.« Dazu ergänzend awá Matheo: Wir singen, jede dieser Pflanzen hat einen Namen in der direkten Sprache dieses Steines, jede hat ihr Lied … Es ist eine andere Sprache, es ist eine Sprache, die nur der Stein, der Schamane und sibö sprechen, es ist auch die Sprache der Pflanzen. Vor langer Zeit, als die Zeit noch dunkel war, brachten die Älteren diese Praxis und dieses Wissen. Daher kommt es. Es wurde nicht verändert. Der awá spricht mit den Pflanzen auch durch den Stein und der Geist der Medizinpflanzen kommuniziert mit ihm. Er kennt den Namen der Medikamente und der Stein sagt ›kommt mit mir‹. Neben den Heilpflanzen sind magische Steine die zentralen Utensilien des Schamanen für die Heilung. Sie heilen sowohl körperliche als auch seelische Krankheiten. Um zu beantworten, worum es sich bei den magischen Steinen genau handelt, wozu sie dienen und woher sie kommen, sollen im Folgenden verschiedene Experten zu Wort kommen. Der awá Ricardo führte weiterhin aus: Alles hat seinen Geist. Auf Basis dieser Kenntnis arbeiten wir in Harmonie mit der Natur. sibö schenkte uns dieses Wissen an einem Ort, der Sulayöm heißt. Dort war er mit den ersten Bribri, mit den ersten awápa, den ersten traditionellen Medizinern und gab ihnen all das Wissen über die geistige Welt der Pflanzen, bevor er das Licht in das Universum 147

brachte … Er machte eine Zeremonie und versammelte alle Geister der Pflanzen und Schamanen, zwei Gruppen, eine der Pflanzen und eine der Menschen, der awápa, um dort mitzuteilen, wie dieses Wissen zu respektieren sei. Danach konnte er das Licht in das Universum bringen. sibö leitete diesen Austausch und gab den Pflanzen und den Schamanen einen Stock und er gab ihnen einen heiligen Stein. Er sagte zu den Pflanzen: ›damit die awápa mit mir und mit euch kommunizieren können.‹ Und wenn die Bribri Hilfe zur Heilung benötigen, kontaktieren die Heiler sibö mit diesem heiligen Stein. sibö präsentierte sich dabei als Bribri, barfuß, mit einer Feder und einem Stock und er sprach in einer offiziellen Sprache, die nur die awápa kennen. Und er sagte, warum er ihnen den Stock und die Steine überließ, denn sobald er Licht in das Universum gebracht hatte, verließ er diese Welt und kam nie mehr zurück. Doch er hält immer den spirituellen Kontakt mittels der Steine. Er gab auch ein natürliches Gesetz an die traditionellen Heiler weiter, das Wissen in der Dunkelheit zu lassen, immer in der Dunkelheit. Denn er brachte das Licht in das Universum, und wenn die Nacht zurückkehrt, ist dies der Moment mit ihm zu teilen und spirituell mit ihm zu kommunizieren. Denn in der Nacht gibt es keinen Lärm … der Geist versteht nur in der Nacht, wenn kein Lärm ist wie am Tag … am Tag fehlt der Respekt. In der Nacht fragt der Schamane, um welche Krankheit es sich handelt und was die Krankheitsursache ist. Der Geist des heiligen Steines, sibö und die Pflanzengeister sagen es ihm, damit er den Patienten heilen kann … Der Schamane konsultiert auch sula‘ (der/die HerrIn der Unterwelt), weil er/sie die Samen hat, aus denen die Bribri entstanden. Zuerst wird sula‘ kontaktiert, dann die Pflanzen, dann sibö und dann noch Tiere. Dies geschieht durch heilige Lieder in der offiziellen Sprache, die sibö verwendete. »Im Ritual legt der Schamane eine Reise in die Oberwelt und in die Unterwelt hinter sich« (Franklin Morales). Der Stein ist wichtig, denn der awá nutzt ihn singend. Er hat ihn in der Hand, in der Nacht, wenn er arbeitet … Der 148

Stein ist wie ein Telefon und die Pflanzen haben auch einen Stein. Es ist ein Kommunikationsmedium. Jeder hat sein Telefon (awá Ricardo Lopez).10 Wie ein Orakel ermöglichen die Steine mit der anderen Welt in Kontakt zu treten, Krankheiten zu ermitteln und Weissagungen zu machen. Man benachrichtigt sie, um zu heilen, dann spricht man zu ihnen. Der Stein ist ein Geschenk dafür, er ist eine lebendige Person, ein menschliches Wesen. Man ruft es und es kommt und übermittelt uns, ob es gut wird oder schlecht (awá Matheo). Es erfordert ein zeitintensives Studium, den Umgang mit den Steinen zu erlernen. Der Mediziner formuliert eine Frage, legt den Stein in seine Hand und bepustet ihn. Anhand der Bewegungen des Steines lassen sich positive oder negative Antworten deuten. Bewegt er sich viel, gilt er als gut arbeitender Stein. Wenn es sich um eine heilbare Krankheit handelt, muss der awá den Stein daran erinnern, was dieser träumte, als er noch (zu) sibö gehörte. Im Falle von Rheuma erinnert der awá den Stein z.B., dass dieser mit den acht negativen Wesen träumte, welche die Herren der Krankheit sind, als er kaum Wasser war, dann, als er Masse war, dann, als er jugendlich war. Er sagt dem Stein: ›Ich sah dich, als du kaum ein wenig Wasser warst. Hilf mir, diese Krankheit dem aller Höchsten zu geben.‹ Er schimpft den Stein, damit er die Macht und das Wissen spürt. Diese Unterhaltung mit dem Stein erfolgt immer in Ritualsprache oder in Form von Liedern (Jara und García 2011: 183).11 Wie kann man sich diese magischen Steine nun vorstellen und woher erlangen sie die Mediziner? Eine Geschichte aus dem Dorf Kéköldi berichtet, dass die Steine ursprünglich eine schöne Frau waren, welche die Schwester von sibö ist. Sie wurde manifestiert auf der Erde in Form dieser »kleinen weißen runden Steine, die fliegen können«. Sie sprechen zu sibö als Schwester, welche im Auftrag der awápa vermittelt und diese erzielen die Heilung durch sie (Palmer et al. 1991: 46). Ähnlich erläuterte awá Justo Torres: 10 So 11

auch Matheo, José Acson und Dionisio Marín. Frei aus dem Spanischen übersetzt.

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Es gibt verschiedene Steine, jeder gehört zu einer bestimmten Krankheit. Es gibt verschiedene Farben, einer ist besonders wichtig, der ist weiß und rund, dieser heißt ikutá,12 dies ist die Schwester von sibö, dieser ist der wichtigste. Der letzte Schamane aus dem Nachbardorf des heiligen Ortes, in dem der usékar-Klan beheimatet ist, gilt als einer der wenigen Älteren, die noch ›sehr viel wissen‹. Er berichtete Folgendes über die Typen der magischen Steine: Bei den Heilsteinen handelt es sich immer um männliche und weibliche Steine. Sie können sich in Jaguare verwandeln. Sie können sehr verschieden sein und die Macht der awápa ist nicht durch die Quantität der Steine bedingt. Es gibt auch Tiersteine, wie von Kühen, Hühnern oder Schweinen, die jeweilige Nutztiere heilen können. Ist ein Heiler im Besitz dieser Steine, stehen ihm die jeweiligen Tiere immer im Überfluss zur Verfügung. Diese zu finden ist großes Glück für einen Heiler. Doch man kann Tausende von Schweinen im Leben erlegt haben und trotzdem keinen finden (awá José Acson). Letzteres bezieht sich vermutlich darauf, dass die Bribri männliche magische Steine kennen (sia‘ wene), die innerhalb der Tiere wohnen. Einer dieser Heilsteine von runder Form (duwàl/k), wird daher mit dem Herrn der Tiere identifiziert. Er und der weibliche, mächtigste Stein waren am mythischen Anfang ein Mediziner und ein Wasservogel. Sibö belohnte sie für ihre Fähigkeiten, indem er sie in Steine zum Heilen verwandelte (Jara und García 2011: 185, 67). Stone (1961: 137, 155) identifiziert dikúswa als den weiblichen, mächtigsten magischen Stein unter drei Hauptsteinen der Mediziner. Er ist im Hochland zu finden und kann den Tod voraussagen, indem er verschwindet oder sich teilt. Nur die mächtigsten Schamanen trauen sich ihn zu verwenden, während die Mehrheit einen anderen Stein, welcher sòrkuswa heißt, nutzt. Der Stein kús wird dem Inventar der gefährlichen Mediziner zugeschrieben, nicht nur um Krankheiten zu heilen, sondern auch um Schaden zu verursachen. Bei einem solchen (kús alàki13) handelt sich um einen weiblichen Stein, der in den Lagunen und Ufern des Meeres lebt 12

Schreibweise unbekannt. ist eine weibliche Form in Bezug auf Tiere.

13 Alaki

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und mit der Traumseele14 assoziiert wird. Es heißt auch, dass er der erste Arzt und Vermittler zwischen sibö und den Bribri war, heute jedoch durch Schadenszauber heilt (Jara und García 2011: 47, 113). Zu den unterschiedlichen Steinen macht awá Justo folgende Angaben: Verschiedene Steine sind verschiedenen Tieren und verschiedenen Pflanzen zugeordnet. So zum Beispiel hat der Kakao seinen heiligen Stein. Aber nicht überall kann man ihn finden, nur zu bestimmten Anlässen. Der Stein des Kakaos heißt tsuru‘wö. Eigentlich bedeutet dies Kakaosamen, aber wenn ein awá sagt ›ich habe einen tsuru‘wö gefunden‹, dann heißt das, er hat den Stein des Kakaos gefunden.15 Dieser ist schwarz wie eine Murmel. Je nach Fluss (Ort) sind Bezeichnungen verschieden (und es gibt) verschiedene Arten des Pustens, des Heilens. Eine Pflanze heißt kapöli (laureacea ocotea sp.). Wenn die Frau menstruiert oder gebärt, wäscht sie sich den Mund damit aus, sie purifiziert sich, davon findet man auch einen Stein, aber nicht immer, nur manchmal. Früher haben Schamanen die Steine gesucht an Orten, von denen man wusste, dass man sie dort findet oder wo sibö sie für sie hinterließ. Heute werden sie oft vererbt, aber wir wissen, wo man sie finden kann (awá Ortiliano). Einigen Medizinern wird nachgesagt, sie legen in der Nacht Maiskörner in die Felsen eines speziellen Ortes in Talamanca und finden diese am folgenden Tag verwandelt in die heiligen Steine vor (Stone 1961: 137). Welche Steine sich für schamanische Zwecke eignen, kann nur der Schamane selbst erkennen. Auch nur er allein darf die Steine zu Gesicht bekommen. Von ihren tatsächlichen Erscheinungsformen berichten, wie deutlich wurde, unterschiedliche Beschreibungen. Sie können aussehen wie herkömmliche Kieselsteine, unscheinbar oder auffallend besonders. Als ›wunderschön‹ beschrieb Seba die Steine ihres verstorbenen Schwiegergroßvaters Don 14 Diese

reist des Nachts in der anderen Welt umher und übermittelt in den Träumen Informationen von dort. 15 In der Ritualsprache werden Dinge bei ihrem mythischen Namen benannt entsprechend ihrer Erscheinungsform in der anderen Welt.

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Francisco, der ein Heiler von außergewöhnlicher Macht war.16 Dies verdankte er mitunter seinen mächtigen Steinen. Da Sebas Mutter Hüterin der Steine und ihr Vater Totengräber17 war und Seba eine gute Beziehung zu Don Francisco unterhielt, bekam sie eines Tages auch seine Steine zu Gesicht. Häufig erzählte er ihr am Herdfeuer Geschichten und sie diskutierten über die Traditionen. Während Seba von einem Klan stammt, der als Träger und Hüter der Tradition gilt, ist es ihrem Ehemann nicht gestattet, das Amt eines Schamanen zu übernehmen. Er hat entsprechend des matrilinearen Systems der Bribri die Klanzugehörigkeit seiner Mutter geerbt, deren Klan die Heilertätigkeit untersagt ist. So war es ihm auch nicht möglich, den Erzählungen Don Franciscos zu lauschen, wenn er Seba in schamanische Geheimnisse einweihte. Seinen mächtigsten Stein beschrieb sie mir als murmelartigen, runden, kristallklaren Stein, der, wenn man ihn in die Sonne hielt, ein Gebilde in Erscheinung eines kleinen Korbs in seinem Inneren zutage treten ließ. Er hatte sechs Steine. Sie waren von weißer Farbe, außer einem transparenten Stein, der kleiner war als die anderen fünf. Einer der fünf war größer als die anderen. Diesen verwendete er zur Herstellung von Heilwasser, das jedem Kranken durch den Heiler verabreicht wird. Der Stein wird in frisches Quellwasser gelegt, welches dem mythischen Ursprungsort der Bribri, Sulàyöm entstammt, und vor der Aushändigung des Wassers an den Patienten wieder daraus entnommen (Sebastiana Segura). Das Getränk gilt als Energielieferant und soll den Patient am Leben erhalten (García und Jaen 1996: 26). Der awá José Acson bereitet bei jeder Krankheit ein Steinwasser für den Patienten. awá Justo gibt zu dieser Medizin an: »Sie wird gegen viele Krankheiten verwendet, gegen den bösen Blick und wenn man böse Träume hat, trinkt man sie. Dafür wird ein bestimmter Stein verwendet, drlidio vuñoie18.« In einigen Fällen raspelt man auch bestimmte Steine, um daraus ein medizinisches Wasser herzustellen (awá Ortiliano).

16 Generell

gelten die Heiler vom Rio Coén als diejenigen, die ›mehr Kenntnisse‹ haben. 17 Wichtiges Amt von hohem Rang bei den Bribri, erlernt spezielle spirituelle Fähigkeiten. 18 Das ist der Name der Medizin, für den Stein gibt er die Bezeichnung drlidio an (Schreibweise unbekannt). n

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Don Francisco teilte Sebastiana mit, der Stein weiß ein Jahr zuvor Bescheid, wenn der Schamane sterben wird und einen Tag vorher verschwindet er; ›der Beste geht‹. So verschwand auch der transparente Stein Don Franciscos einen Tag vor seinem Tod (Sebastiana Segura). Seba offenbarte mir, dass ihre Mutter die restlichen Steine Franciscos vor einiger Zeit an einen anderen awá aus dem Nachbardorf verkauft hatte. Dieser hat auch einen sehr guten Ruf. In der darauffolgenden Woche hielt ich mich in dem entsprechenden Dorf auf. Dort schloss sich der Kreis, als ich erfuhr, dass nun Theresa, bei der ich bereits in den ersten Wochen meiner Feldforschung gewohnt hatte, die Steine dieses Heilers behütet. Dessen Vater war als sehr weiser Schamane bekannt, der, als ich ihn einige Monate zuvor aufsuchen wollte, schwer krank war und schließlich verstarb. Erneut suchte ich nun das Haus auf, um dem Weg der Steine zu folgen. In dieser Nacht war es mir möglich, an dem Heilritual des awá Dionisio Marín teilzunehmen und den magischen Gesängen zuzuhören, während der awá mit den Steinen kommunizierte. Die Hüterin der Steine Die Beauftragte der Steine (siàtami) ist einerseits dafür zuständig, die Heilsteine des Schamanen zu bewahren. Andererseits ist sie als Ritualhelferin tätig, um neue Steine zu präparieren, die der Schamane einweihen möchte. Sie macht eine Schamanenlehre in Begleitung einer Meisterin, absolviert das gleiche Studium wie die awápa. Dabei lernt sie die Ritualsprache sowie ›die Sprache der Natur‹, unterzieht sich Diäten und durchläuft diverse Purifikationszeremonien – Trinkrituale (diö yök – ›Flüssigkeit trinken‹), bei denen Kakao und Maisbier ausgetauscht werden (Jara und García 2008: 2325, 55, 59). Die Präparation oder Heilung der Steine ist ein Ritual, für das diese gereinigt und mit Kraft aufgeladen werden. Nur die siàtami hat die Macht, die Steine mit Kraft aufzuladen, andernfalls sind sie nicht für die Heilung geeignet. Um sich selbst zu reinigen und durch die Steine verursachten Krankheiten vorzubeugen, hält die siàtami in Verbindung mit dem Ritual eine eintägige Diät ein (Sebastiana Segura). Für die Zeremonie macht die siàtami eine Diät, davor und danach, damit die Steine keinen Schaden davontragen und

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nicht die Kraft verlieren und damit die Frau keine Krankheiten bekommt (awá Dionisio Marín). Während der Zeremonie werden die Steine auf einer kleinen Holzbank auf Baumwolle ausgebreitet und mit purifiziertem Quellwasser besprenkelt, das vorher präpariert wurde. Nachdem die Steine gereinigt und trocken sind, verstaut sie der awá in seinem dafür vorgesehenen Täschchen. Im Anschluss werden Gäste eingeladen und es findet eine Kakaozeremonie statt (Sebastiana Segura). Franklin Morales erläuterte die Rolle der Hüterin der Steine wie folgt: Kein anderer außer der siàtami und dem awá darf die magischen Steine sehen. Theresa (siàtami) darf sie sehen, aber nicht während der Arbeit des Schamanen. Wenn der Schamane Steine mit dieser Wirkung haben möchte, ruft er sie und beide machen eine Zeremonie in der Nacht, alles in der Nacht … Sie darf kein Salz essen und sie muss Kochbananen essen, aber ohne Salz und sie muss sich mit Zitrone baden am Morgen und am Abend vor Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang. Der awá nimmt die Steine einzeln und erklärt der siàtami die Funktion, die jeder einzelne dieser Steine haben wird. Sie bearbeitet die Steine, damit der Schamane Krankheiten heilen kann. Wenn man diese Zeremonie nicht macht, können die Steine nicht heilen. Sie werden in das Zentrum eines Schamanenschemels gelegt. Die siàtami wäscht die Steine und behandelt sie mit Kakao-Öl. Kakao-Öl füllt die Steine mit Wissen und Macht auf. Diese Schritte müssen erfüllt werden für einen guten Stein. Die awápa haben Steine von Tieren, der Luft, dem Fluss. Ohne die Zeremonien haben diese keine Funktion. Die awápa besorgen sich Steine, kaufen sie oder tauschen sie, dann rufen sie die siàtami, damit diese sich um die Zeremonie kümmert. Die siàtami macht die Zeremonie nur zur Einweihung der Steine, danach kann der Schamane sie ohne Zeremonie verwenden. Sie hat eine Kraft, mit der sie die Steine auflädt. Wenn sie acht Mal mit einer anderen älteren siàtami zusammen die Steine aufgeladen hat, kann sie jeder Schamane rufen, um die Zeremonien durchzuführen. Dann hat sie schon fast alle Steine passiert, die ein Schamane hat, und sie hat das 154

Wissen und die Macht, die Zeremonien zu leiten. Die siàtami sind Frauen, weil die größte Macht eines Schamanen ein weiblicher Stein ist. Nach dem Tod eines Heilers heißt es, dass seine Steine verwitwen, denn sie sind mit dem Schamanen verheiratet.19 Die siàtami muss sie abholen, sie aufbewahren und sich darum kümmern, denn andernfalls können sie mit ihrer Macht Schaden verursachen. Sie verwahrt die Steine an einem speziellen Ort des Hauses, »dort bleiben sie geschützt für immer« (Jara und García 2011: 182). Awá José Acson erläuterte darüber hinaus, dass die Steine auch an die Schüler des Schamanen vererbt werden können. Sollte keine der beiden Möglichkeiten bestehen, gehen sie in den Besitz der Familie über. Die Steine des Mondes im Wandel der Zeit Wie der Mond leuchten die Steine dem Heiler den Weg auf seiner Reise in der Dunkelheit. Die Geschichten über die magischen Steine und die nächtlichen Rituale haben ihren Referenzpunkt in den Mythen von der Urzeit, als noch Dunkelheit im Universum herrschte. Diese Zeit spiegelt sich in der geistigen Welt, welche die awápa in den Ritualen bereisen. Die kultischen Handlungen stellen sich dar wie eine Form der »Anpassung« oder »Einfügung in die mythisch begründete Ordnung«, die unterschiedlichste gesellschaftliche Bereiche verbindet und »dem Willen mythischer Mächte aus der Zeit, als die Welt geordnet wurde« dient. So beschreibt Münzel (1988: 40-42) Rituale als »kultische Wiederholung eines Urzeitgeschehens mit dem Ziel, das damals errichtete System zu erneuern.« Eine weitere Komponente der Zeit der Dunkelheit lässt sich mit einem Zitat Münzels beschreiben, welcher den »Schamanismus als Religion des Traumes«20 versteht. Die Bribri-Schamanen bereisen die Traumzeit, um dort mithilfe der Steine Erkenntnisse hinter dem Schleier der Wirklichkeit zu erlangen. Was heute als Teil abstrakter Theorien einer sogenannten ontologischen Wende bekannt ist, scheint für Münzel schon vor dreißig Jahren selbstver-

19

Ist der Schamane männlich, handelt es sich um einen weiblichen Stein, bei weiblichen Schamaninnen um einen männlichen (Jara und García 2008: 24). 20 Zur Arbeit der awápa zählt auch die Traumdeutung.

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ständlich gewesen zu sein und lässt sich auf die Bribri Talamancas übertragen: Münzel betont den Wert von emischen Realitäten jenseits der etischen Schablonen und fordert dazu auf, nicht die eigene Weltsicht als Referenzpunkt zu nehmen, um andere Gesellschaften zu verstehen (Münzel 1988). Er charakterisiert die Umweltkonzeptionen der Amazonasindiander als dialektisch und findet dort keine klare Trennung zwischen Natur und Gesellschaft vor, sondern »ineinander verwobene und sich verschiebende, unterschiedliche Realitäten – ein Ding ist nicht immer das gleiche Ding, sondern nimmt unterschiedliche Erscheinungsformen an, je nachdem, wer es betrachtet«. Das Verständnis von Natur beschreibt er als »Bewegung ständiger Verwandlungen und Verkleidungen« (Münzel 1988: 209). Auch die Bribri verstehen sich als integralen Teil ihrer Umwelt. Für sie existieren verschiedene, von Verwandlungen gekennzeichnete Realitäten, die abhängig sind von der Perspektive. So verfügen sie über ein differenziertes Ordnungssystem der Erscheinungsformen von Wesen und Dingen in der Welt der Menschen respektive der Zeit des Lichtes gegenüber der mythischen, geistigen Welt respektive der Zeit der Dunkelheit. Während Steine und Pflanzen als menschliche Wesen in der anderen Welt präsent sind, sind die Bribri Reflexionen von Maissamen. Allen Wesen und Dingen wird Geist und Leben zugeschrieben. Erst mit Beginn der heutigen Zeit wurden sie in ihre aktuellen vorübergehenden Formen verwandelt. Münzel geht noch darüber hinaus: Gleichzeitig stellt er sich der vermeintlichen ›Unordnung‹, die sich in der Vielschichtigkeit indigener Umweltkonzeptionen sowie künstlerischer Ausdrucksformen manifestiert und nicht immer in die Schubladen der westlichen Wissenschaft passt. Er entlarvt »die Furcht vor dem schwer Definierbaren, nicht Eingrenzbaren« sowie »die Begrenzung auf Themen (in der Wissenschaft), die sich leicht aufspießen und ins klassifikatorische Album kleben lassen«. Eine Erkenntnis, die sich in der binären Gegenüberstellung von Mythos und Logos spiegelt (Münzel 1988: 22-23, 38, 209, 29, 195). Dementsprechend ist auch bei den Bribri das Universum als Verkettung von diversen symbolischen Zusammenhängen wie etwa mikro- und makrokosmischer Aspekte konzipiert. Münzel bezieht sich auf die Mythologie als zentrale Ressource des indigenen Glaubens. Religiöse Lehren sind in Geschichten eingeflochten und je nach Anlass und Inspiration sind sie veränderbar. Verschiedene Bedeutungen existieren gleichzeitig und alte Überlieferungen lassen sich flexibel auf aktuelle Themen und Probleme übertragen (Münzel 2016a: 40-41). Die Mediziner der Bribri beklagen sich heute darüber, dass die jungen Bribri 156

kaum noch Schamanenlehren absolvieren und moderne Medien, wie Mobiltelefone, zunehmend ihr Interesse dominieren. Doch nun haben ebenso die magischen Steine in ihrer Bedeutung diese Veränderungen durchlaufen und wurden ›modernisiert‹. Vielleicht wenden sich auch die jungen Generationen bald wieder dem traditionellen Telefon der Bribri-Heiler zu, um den Stimmen der Geister zu folgen. Mark Münzel hat sich die Form des kunstvollen Erzählens im weitesten Sinne zu eigen gemacht, denn obwohl er oder gerade weil er seinem Zeitgeist des kritischen Hinterfragens treu geblieben ist (vgl. Münzel 1989), sind auch seine Beiträge zeitlos und lassen sich stets auf aktuelle Themen übertragen. Literatur Bozzoli, María Eugenia 2006. Oí decir el usékar. San José: EUNED. García Segura, Alí und Alejandro Jaen 1996. Ies Sa‘ Yilite: Los ojos del alma. San José: Centro Cultural Español, Agencia Española de Cooperación Internacional. Jara Murillo, Carla Victoria und Alí García Segura 2008. Cargos Tradicionales del Pueblo Bribri: Sĩõ‘tãmĩ – Óköm – awá. San José: ICE. —— 2011. Diccionario de mitología bribri. San José: Editorial Universidad de Costa Rica. Münzel, Mark 2017. Jaguar und Wildschwein, eine Fabel für Menschen. Oder: Der Aufstieg des Jaguars zum Himmel, ein Karriereleitfaden für Wissenschaftler. GISCA Occasional Papers, No. 9. —— 2016a. Common Traits of Brazilian Indigenous Religions. In: Bettina E. Schmidt und Steven Engler (Hg.) Handbook of Contemporary Religions in Brazil. Leiden und Boston: Brill, 33-46. —— 2016b. Listige Kröten: Zur Frage des Witzes in Schamanismus und Wissenschaft. Paideuma 62, 113-136. —— 1989. Über den Tellerrand schauen: Ein Gespräch mit Mark Münzel. Trickster 17, 46-57. —— (Hg.) 1988. Die Mythen sehen: Bilder und Zeichen vom Amazonas. Frankfurt am Main: Museum für Völkerkunde. —— 1986. Indianische Oralkultur der Gegenwart. In: Birgit Scharlau und Mark Münzel Qellqay: Mündliche Kultur und Schriftkultur bei Indianern Lateinamerikas. Frankfurt am Main: Campus, 155-258. 157

—— 1977. Schrumpfkopf-Macher? Jíbaro-Indianer in Südamerika. Frankfurt am Main: Museum für Völkerkunde. —— 1971. Erzählungen der Kamayurá, Alto Xingú – Brasilien. Wiesbaden: Steiner. Palmer, Paula, Juanita Sanchez und Gloria Mayorga 1991. Taking care of Sibo‘s Gifts: an Environmental Treatise from Costa Rica‘s Kekoldi Indigenous Reserve. San José: Asociación de Desarrollo Integral de la Reserva Indígena Cocles Kekoldi. Stone, Doris 1961. Las tribus talamanqueñas de Costa Rica. San José: Museo Nacional de Costa Rica.

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Ulrike Prinz

Abtauchen Virtuelle Realität im Videospiel und im amazonischen Ritual Immersion. Das Abtauchen in eine andere Welt: Virtuelle Realität ist zwar nicht mehr das allerneueste große Ding im westlichen Diskurs. Aber nach wie vor stellt sich die Frage, was dies eigentlich bedeutet. Wie wird abgetaucht und wohin und was heißt das für unseren Wirklichkeitsbegriff? Um diesen Fragen näher zu kommen, möchte ich die Erfahrungen nutzen, die man im amazonischen Tiefland mit dem Abtauchen in andere Wirklichkeiten hat, wo dies zur ganz normalen gesellschaftlichen Praxis gehört. Dazu werde ich die unterschiedlichen Arten des Eintauchens in die virtuelle Realität (VR) des Videospiels mit denen in die mythologische Welt der Indianer des amazonischen Tieflands vergleichen. Es geht mir hier weniger darum, auf mehr oder weniger plumpe Weise Gesellschaftskritik zu betreiben, sondern vielmehr darum, zu einem weiteren Verständnis dessen zu gelangen, was es mit dem Ein- und Abtauchen in andere Wirklichkeiten auf sich hat, und zu erkunden, in welchem Verhältnis die unterschiedlichen Realitätsebenen zueinander stehen. Der Vergleich mit den Verwandlungskünsten des amazonischen Tieflands dient zur gegenseitigen Bespiegelung und Erhellung der unterschiedlichen Wirklichkeitskonzepte bzw. zu einem besseren Verständnis des Phänomens der Immersion. Wir EthnologInnen beschäftigen uns gerne mit der Untersuchung alternativer Wirklichkeitsebenen und nennen es Mythologie. Während wir viel Erfahrung über die Vermittlung von Mythos und Lebenswelt oder von Ritual und Spiel gesammelt haben, wird auf der anderen Seite gefragt, inwiefern es die ›Dinge‹, auf die sich diese Wirklichkeitskonzepte beziehen, denn wirklich gibt. Nach Bruno Latour bewegen wir uns in einer Hybridwelt, »die gleichzeitig aus Göttern, Menschen, Sternen, Elektronen, Atomkraftwerken und Märkten besteht« (Latour zitiert in Kottmann 2002).

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Diese Hybridwelt wird deutlich, wenn man den Begriff der Immersion in der Welt der Computerspiele mit der mythologischen Welt Amazoniens vergleicht. Es zeigt sich vor allem, dass man zwar in andere Welten abtaucht, sich aber in unserer von naturwissenschaftlichen Prämissen geprägten Welt dennoch mit deren möglichen Implikationen und Wechselwirkungen nicht weiter auseinandersetzt oder eben davon ausgeht, dass es sich um abgrenzbare Bereiche handelt, die man als ›real‹ oder ›virtuell‹ bezeichnen kann. Nach Wikipedia1 stammt der Begriff der ›virtuellen Realität‹ (VR) aus einem Science-Fiction-Roman von 1982: ›The Judas Mandala‹ von Damien Broderick. Erst fünf Jahre später erschien der Begriff als theoretisches Konzept im Oxford English Dictionary. Demnach wird unter VR die Darstellung und gleichzeitige Wahrnehmung der Wirklichkeit und ihrer physikalischen Eigenschaften in einer in Echtzeit computergenerierten, interaktiven Umgebung verstanden. Wirklichkeit wiederum sei alles das, was keine Illusion ist und was nicht von den Wünschen oder Überzeugungen des Einzelnen abhängt, so nachzulesen in einem weiteren Wikipedia-Eintrag.2 Emotionsmaschinen Die Faszination an Spielen erklärt die Games-Designerin Katharine Neil mit der Tatsache, dass sie instinktiv und emotional berühren. Wenn man ein Game spielt, können sich körperliche Empfindungen auf eine Art und Weise einstellen, die mich an das Erleben von Musik erinnern. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum es diese Kontroverse über Gewalt in Videospielen gibt. Weil sie eben genau diese Macht haben können, körperliche Reaktionen und angenehme Empfindungen hervorzurufen. Das ist etwas anderes als eine rein intellektuelle Erfahrung. Es ist vielmehr eine starke physische Erfahrung, sich in ein Spiel hineinversetzt zu fühlen, so ähnlich, wie wenn man einen Beat hört. Es gibt außerdem das Element der Geschwindigkeit, das in einem Videospiel sehr machtvoll sein kann (Neil 2016: 59). 1 2

Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Virtuelle_Realität (29.10.2017). Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Realität (29.10.2017).

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Was sind das für ›instinktive‹ und emotionale Erfahrungen und körperliche Reaktionen, die in der VR erlebt werden und von denen die Games-Szene spricht? Schriftsteller wie Leser haben immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass gute Literatur den Leser ›abtauchen‹ lässt. Fiktionen haben die Funktion einer Emotionsmaschine, sagt der mexikanische Autor Jorge Volpi: In einen Film, eine Fernsehserie, eine Seifenoper, ein Theaterstück oder eine Geschichte einzutauchen ist eine Achterbahn der Emotionen: Wir springen von einer Figur zur anderen, und mit jeder einzelnen leiden, lieben, genießen wir, erheben wir uns, erstarren oder brechen wir zusammen – manchmal auch gegen unseren Willen. Es gibt Gemüter, die einen solchen Wahnsinn nicht aushalten. Die Fiktion macht uns plötzlich zu multiplen Persönlichkeiten (Volpi 2012: 4). Der Einfluss dieser emotionalen Identifikation mit den fiktiven Figuren auf die Alltagswirklichkeit ist auch in der Literatur nicht von der Hand zu weisen: Das Erscheinen von Goethes ›Leiden des jungen Werthers‹ löste um 1774 eine Suizidwelle aus, was als der ›Werther-Effekt‹ in die Geschichte eingegangen ist. Virtuelle Realitäten Im Computerspiel geschieht aber noch etwas anderes. Das Abtauchen selbst ist von anderer Qualität als in der Literatur oder im Kino, wie Katharine Neil (2016) betont. Die Technik macht es möglich: Mit dem Simulatorheadset, das einer Taucherbrille ähnelt, kann eine VR erschaffen werden, die von unserem Gehirn als ›real‹ erlebt wird. Man bewegt sich live in einer anderen Welt. Die Brille ist interaktiv mit dem Computer verbunden, der die Kopfbewegungen misst und das Sichtfeld des Trägers direkt an die Bewegung anpasst. So entsteht die Verbindung von erlebter, körperlicher Bewegung und gesehener Welt. An der Verschmelzung dieser ›realen‹ mit der ›virtuellen‹ Welt arbeiten die Hersteller von Games, Brillen und Zubehör. Die Brille des von Facebook übernommenen amerikanischen Konzerns ›Oculus Rift‹ zum Beispiel trägt das Programm im Namen: Rift – das ist die Kluft oder der Riss zwischen der Cyberworld und unserer ›echten‹ Welt. Sie erlaubt einen 360161

Grad-Rundumblick. Mithilfe von Controllern kann der Spieler mit Gegenständen interagieren, sie anfassen oder hochheben. Einige Bewegungen sind sogar schon mit der Hand möglich, wie eine Faust ballen oder den Daumen hoch zeigen. Gesucht wird das besondere Erlebnis: Wellenreiten oder Motorradrennen fahren, ebenso wie das Fliegen ohne Pilotenschein. Das deutsche StartUp-Unternehmen ›Icaros‹ arbeitet seit 2012 an der Entwicklung eines Sportgeräts, bei dem der Spieler bäuchlings auf einem Gerät liegt, das sich durch Gewichtsverlagerung und mit zwei Halterungen steuern lässt, die zugleich Joysticks sind. Während er durchs Universum schwebt und dabei Feinde abballert, wird gleichzeitig seine Rücken- und Bauchmuskulatur trainiert. Im Unterschied zur Literatur erlaubt es die perfektionierte Illusionsmaschinerie, den Grad der Immersion zu steigern, so dass auch Personen mit weniger ausgeprägtem Hang zum empathischen Erleben oder mit weniger Spiegelneuronen andere Perspektiven einnehmen und erleben können. Doch so ganz können sich unsere Körper nicht auf die virtuelle Wirklichkeit einlassen. Noch hat die Technik einen Haken: Wenn die vom Spieler empfundene und die in der VR generierte Geschwindigkeit nicht übereinstimmen, wird ihm schwindelig. Man spricht von Simulator oder MotionSickness, eine Art Seekrankheit im Ozean der neuen Möglichkeiten. Immersion auf Amazonisch Im Amazonasgebiet braucht man zur Immersion anstelle einer Brille und eines Rechners ein Tierkleid. Wer das Jaguarfell (coro da onça) besitzt, der kann sich innerhalb von kürzester Zeit von einem zum anderen Ort bewegen. In einer Unterhaltung, die ich im Jahr 2000 führte und notierte, erklärte mir der Trumai-Künstler Amatiwana eine schamanistische Technik, die im Oberen Xingu angewendet wird und die im gesamten amazonischen Tiefland verbreitet ist: die Fortbewegung im Tierkleid. Amatiwana hatte einen Kamayurá-Schamanen befragt, wie es sich anfühlt, im coro da onça zu reisen und ob diese Art zu reisen sehr anstrengend sei. Der KamayuráSchamane hatte erklärt, dass er nichts fühle, während der Jaguar gehe – er bringe einen weit weg. Der Schamane schlüpfe hinein – wie das genau passiert, wisse man nicht – und dann fange das Fell zu gehen an. »Es sieht aus wie ein normaler Jaguar, aber geht nur nachts und wandert weit damit in 162

jedes Dorf. Am Tag kehrt das Jaguarfell wieder in sein Dorf zurück«. Das Reisen mache nicht müde, man sei auf einmal woanders, fügte der Schamane hinzu.

Abb. 1: Apaiyupe Waurá mit der Brille der virtuellen Realität während der Filmaufnahmen ›Fogo na floresta‹ im Waurá-Dorf (Foto: © Tadeu Jungle). Die Bekleidung des Jaguars zu benutzen, bedeutet seinen Zustand zu verändern. Man wechselt nicht nur den Ort, sondern verfügt vor allem über Fähigkeiten, die dem Menschen nicht zu eigen sind. Das bestätigt Peter Rivières (1995) Beobachtung bei den Tiriyó. Er berichtet von einem Jäger, der mit seinem Schamanen-Kollegen einen Affen erlegt hatte. Der aber war in den Zweigen des Baumes hängen geblieben. Der Jäger musste den Blick abwenden, da verwandelte sich der Schamane in einen Jaguar und holte den Affen vom Baum. Auf die Frage, ob es sich um einen Jaguar oder einen Menschen handelte, antworteten die Tiriyó: »Es war ein Mensch, der die Bekleidung des Jaguar benutzt hat« (Rivière 1995: 193). Diese schamanistische Verwandlungstechnik entspricht im Videospiel der 163

Technik des ›Teleportierens‹, nur hat der Schamane den Vorteil, dass er den Affen ›wirklich‹ vom Baum holen kann, während die Spielertrophäen innerhalb des Bildschirms, also ›virtuell‹, bleiben. Ermächtigungsmaschine Videogames können eine so machtvolle Erfahrung sein, wie die eingangs erwähnte Katharine Neil (2016) beschreibt, weil sie körperliche Reaktionen hervorrufen. Die Spieler fühlen sich präsent, weil sie die Veränderungen im Bild als Folge ihrer Handlungen verstehen. Sie versenken sich in eine andere Wirklichkeit und erleben sich in neuer Selbstwirksamkeit. Obwohl den Handlungsabfolgen der Videospiele durch die Programmierung enge Grenzen gesetzt sind, funktionieren sie nicht nur als eine Emotions- sondern auch als eine Art Ermächtigungsmaschine. Doch auch das hat seinen Preis: Das Herumgeistern in der VR ist anstrengend. Ein Proband, der 24 Stunden mit einer Brille auf der Couch lag und spielte, war erschöpft wie nach einem Langstreckenflug. Und nach dem Flash an Selbstermächtigung, als Superman oder Superwoman mit exorbitanten Kräften und Fähigkeiten durch die Welt geschwebt zu sein, kann es hart und ernüchternd sein, wieder im emotional und sozial verarmten Realleben zu landen. Hinter der Spielebranche steckt aber auch ein mächtiger Geschäftszweig. 34,3 Millionen Deutsche treiben sich auf virtuellen Spielwiesen herum; 29,1 Millionen davon tauchen regelmäßig mehrmals im Monat in die virtuellen Welten ab. Damit ist sie fast auf die Größe der Musik- und Filmbranche angewachsen. Bis zum Jahr 2020 verspricht die VR-Computertechnologie allein in Deutschland eine Versechsfachung der Umsätze. In der Virtual Reality spielt man nicht, man macht ›Erfahrungen‹. Denn »das Besondere und völlig Neue« am Abtauchen in die Spielerfahrung besteht nach Timo Feldhaus darin, »dass die User die VR-Erfahrung nicht als etwas in Erinnerung behalten, was sie gesehen, sondern als etwas, das sie erlebt haben. Das Gehirn speichert die Erfahrung als ›real‹ ab, das ist die eigentliche Revolution« (Feldhaus 2017: 74). So weiß der Kopf zwar, dass das Gesehene vorgespielt ist, der Körper aber reagiert wie bei echter Gefahr.

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Gesehen – Erlebt Amazonasindianer verlassen sich selten auf das, was sie sehen. Aus Erfahrung wissen sie, dass ihr Sehsinn sie viel zu oft täuscht. Im Wald gibt es gefährliche Wesen, die aussehen wie Menschen, die aber in Wirklichkeit Totengeister sind. Und ob mir im Wald ein Liebhaber begegnet oder ein Geist, der die Bekleidung eines geliebten Menschen benutzt, das kann ein ›normaler‹ Mensch mit seinem Auge nicht erkennen. Nur der Schamane sieht, was sich hinter den Erscheinungen verbirgt. In beiden Fällen vermischen sich die Realitätsebenen von ›gespielt‹ und ›real‹ sowie die Konzeptionen von Tierkleid (mythische Realität) und Schamane (Alltagswirklichkeit). Wobei die Unterscheidung von alltäglicher und mythischer Realität nichts weiter ist als eine ethnologische Hilfskonstruktion, die für indianische Ontologien selbst nicht unbedingt zutreffend sein muss. Der Punkt ist, dass es hier keine streng voneinander getrennten Realitätskonzepte gibt und damit nie klar ist, was man sieht und was ›dahinter‹ steckt. Trotz der Unsicherheit existiert diese Unterscheidung hinter der gleichen Erscheinung von Jaguar und Schamane. Mensch und Tier unterscheiden sich in den amazonischen Ontologien im Grunde nur phänomenologisch, also der Erscheinung nach. Was gleichzeitig bedeutet, dass der Schamane zumindest als Möglichkeit halb Jaguar ist. Es ist aber nicht die Frage, ob die eine oder andere Erscheinung ›real‹ ist oder ›virtuell‹, sondern vielmehr, in welchem Zustand sich der Jaguar oder der Schamane befinden. Für den Schamanen ist die Reise im Tierfell so real, dass sie ein tragisches Ende nehmen kann, etwa wenn das Tierkleid, in dem der Schamane herumschleicht, erlegt wird, dann stirbt auch sein Besitzer. Für die Mehinako am Oberen Xingu ist ohnehin jeder Jaguar potentiell ein feindlicher Schamane, der getötet werden muss. Ob man diesen oder einen ›echten‹ Jaguar getötet hat, kann der Sehsinn nicht klären. Dafür gibt es den Geruchssinn: Während der Jaguar tierisch muffelt, duftet ein Schamane nach Früchten. Während die Unterscheidung der Welten bestehen bleibt, geht es um die Auswirkungen, die ein solcher Zustands- bzw. Perspektivenwechsel nach sich zieht. Für Viveiros de Castro und die Theoretiker des Perspektivismus sind Tierkleider keine Verkleidungen, sondern Instrumente: Sie ähneln Taucherausrüstungen oder Raumanzügen und aktivieren die Affekte und

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Fähigkeiten des jeweiligen Tieres. Sie sind selbst mit Macht begabt und aktiv. Das könnte man auch für die Immersion in die VR behaupten. Auch wenn das Gehirn das Erlebte als ›real‹, also im Grunde genommen als ›erlebt‹ abspeichert, so weiß es in der Regel doch, dass es sich in der VR, also in einem besonderen Zustand befindet. Trotzdem hat dieser ›Erlebnis-Modus‹ in der VR Auswirkungen auf die Körper und Emotionen des Spielers. Schlüpft man in den virtuellen Körper, wird man zum Jaguar, der einen Affen vom Baum holen kann, oder zum SuperMario, der in verpixelten Landschaften herumhüpft, zu einem Raumfahrer, einer Hausangestellten oder zum Ego-Shooter. Eine Bekleidung kann man an- und ausziehen. Doch ihre Verwendung hinterlässt Spuren. Wie ein Avatar aktiviert sie selbst Fähigkeiten. Steckt man in ihr, verwandelt man sich. Körper- wie Perspektiventausch verändert psychologisch und biologisch. Im amazonischen Tiefland ist das längst bekannt und diese Transformationen werden bewusst eingesetzt. Rituelles Eintauchen Der Schamane des amazonischen Tieflands ist keineswegs der einzige Verwandlungskünstler, er ist höchstens der anerkannte Spezialist und das Tierfell ist eine ganz besondere Fähigkeit, über die bei weitem nicht jeder Schamane verfügt. Verwandlung und das Spielen mit den verschiedenen Wirklichkeitsebenen hingegen ist kein ungewöhnliches Ereignis. Es gehört im amazonischen Tiefland fast zum Alltag. Jedes Ritual besitzt transformatorisches Potential, denn es vermittelt zwischen den Wirklichkeitsebenen von Mythos und sogenannter Alltagsrealität. Es überbrückt, wie Eliade (1990: 63) sagt, den Bruch zwischen heiliger und profaner Zeit und führt beide zusammen. Während die ohnehin eher durchlässigen Grenzen dieser beiden Realitätsebenen in dieser liminalen Phase aufgehoben werden, kann eine Transformation erfolgen. Ellen Basso (1985) hebt in ihrer Analyse des Yamaricumã-Fests hervor, wie die Kalapalo des Oberen Xingu während des rituellen Prozesses Geister repräsentieren. Sie zeigt, wie der Körper der Ritualteilnehmer zu einem wichtigen musikalischen Instrument wird, das dazu beiträgt, »ein Gefühl dafür zu entwickeln, sich in ein mächtiges Wesen verwandeln zu können«

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(Basso 1985: 311). Das transformatorische Ereignis ermächtigt und verwandelt den Körper des Darstellers, wie Köpping und Rao in ihrer Aufsatzsammlung ›Im Rausch des Rituals‹ (2000) darlegen. Das In-Szene-Setzen mythischer Ereignisse ermöglicht die Immersion in eine andere, rituell gerahmte Wirklichkeit. Es bietet den Rahmen dazu. Die Erfahrung ist emotional und körperlich, gleichzeitig ›echt‹ und ›gespielt‹. Wie stark die Immersion jedes einzelnen Teilnehmers ist, wie weit sie sich mit dem anderen Körper oder der anderen Realität identifiziert und sich ›verwandelt‹, ist hier, wie auch beim Eintauchen in die VR, schwer einzuschätzen. Denn sie spielt sich in der einzelnen Person, in deren Körper und Gehirn ab. Körperliche Transformation Initiationsrituale haben ganz gezielte Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung und den Körper der Teilnehmer. Das Pühükã, das Ohrstechfest und Initiationsritual der Mehinako-Indianer am Oberen Xingu inszeniert eine ›Reise ins Dorf der Vögel‹. Die mythische Erzählung würde eine gute Vorlage für ein Jump’n’Run-Videogame abgeben: Auf seiner Jagd nach einem Pintado-Fisch steigt der Action-Adventure-Held Iakipieko die Milchstraße hinauf in den Himmel. Dort trifft er auf seinen Sohn, der ihm plötzlich in Vogelgestalt erscheint. Iakipieko wird Zeuge, wie seinem Sohn die Ohren durchstochen werden. Der Held begegnet einem Geistwesen mit menschlichem Aussehen, von dem er sich nicht sicher ist, ob es ihn töten will. Der Rückweg ist ihm durch eine große Schlange versperrt. Schließlich erreicht er das ›Dorf der Vögel‹, wo fröhlich gefeiert wird und er schöne Frauen tanzen sieht. Iakipieko ›kopiert‹ sich dort ihre Musik und landet nach verschiedenen Abenteuern auf einem Geier fliegend wieder heil auf der Erde. Das Storyboard der Reise in die andere Wirklichkeit ergibt die Vorlage für die unterschiedlichen Sequenzen des Rituals, das im Dorf der Mehinako nachgespielt wird. Dabei müssen die Initianden mehrere Levels durchlaufen. Techniken der Immersion und der gleichzeitigen Verwandlung der Körper sind die gemeinsamen Tänze, Gesänge und die Anwendung verschiedener Wurzelsäfte. Wie im Videospiel lauern auch hier ständig Gefahren durch die Anwesenheit von Geistern, aber auch ganz konkret durch den Gebrauch der Wurzelsäfte, die zur Stärkung und Verwandlung der

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Körper der Initianden beitragen sollen, die aber zu gefährlichen Lähmungserscheinungen führen können. Über einen Zeitraum von circa zehn Tagen bewegen sich die Teilnehmer des Pühükãs in einer anderen Welt. Genauer gesagt, sie tauchen in diese ein und wieder auf. Die nächtlichen Tänze und Gesänge, während derer die Tänzer und Initianden als Vögel auftreten, dauern jeweils nur 3-4 Minuten. Das Ohrstechfest durchläuft verschiedene Phasen, in denen die Initianden bald mit Federn geschmückt auftreten, bald vollkommen nackt den Ereignissen ausgeliefert sind. Ähnlich wie der Schamane, der zwischen den Welten hin und her spaziert, geht es auch hier um eine zeitlich begrenzte VR-Erfahrung. Am Ende werden den Initianden die Haare geschnitten und die Ohrläppchen durchstochen. Danach entzieht man sie vollständig den Blicken der Dorfgemeinschaft. Sie verschwinden hinter einen abgegrenzten Verschlag innerhalb des Hauses des Dorfchefs in Seklusion. Eine Woche müssen sie dort Diät halten und dürfen ihren Körper nicht den Sonnenstrahlen aussetzen. Das Ritual schließt mit der feierlichen Verkündung des neuen Namens eines jeden Teilnehmers, denn jeder einzelne von ihnen ist zu einer anderen Person geworden. Doppelbödigkeit des Spiels Während Initiationsrituale ganz gezielt den Körper formen und verwandeln sollen, vollzieht sich im Videospiel keine körperliche Transformation. Hier geht es vielmehr um eine subtilere Veränderung in der Selbstwahrnehmung, die möglicherweise beim Durchlaufen der verschiedenen Levels des Spiels eintreten kann, oder auch durch das Übernehmen von anderen Körperbildern und Identitäten. Eine weitere Art rituell in andere Welten einzutauchen, bieten die sogenannten Umkehrrituale oder ›geheime Flötenkulte‹. Sie lassen die Teilnehmer in fremde Welten eintauchen und machen Alterität erfahrbar. Gleichzeitig geben sie die Gelegenheit, gefährliche Emotionen, wie Wut und Angst, auszuagieren und in produktive Bahnen zu lenken. Eine echte Verwandlung, wie sie in den Initiationsritualen stattfindet, sollen sie jedoch verhindern. Es geht vielmehr um eine Erweiterung der Erfahrung in einer Übernahme fremder Körperbilder.

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In einer Gesellschaft, in der die Geschlechterrollen streng getrennt sind und Frauen wie Männer aus bestimmten Lebensbereichen des jeweils anderen Geschlechts ausgeschlossen sind, bieten Umkehrrituale die Möglichkeit, diese spielerisch zu unterlaufen. Während des Yamarikumã-Rituals zum Beispiel tauchen die Frauen für begrenzte Zeit in die Männerwelt ein und ›übernehmen die Herrschaft‹. Nebenbei bewegen sie sich ganz konkret in der Wirklichkeit des anderen Geschlechts. Umgekehrt passiert dasselbe, wenn die Männer die ›heiligen Flöten‹ spielen. Sie erfahren dabei weibliche Macht. Männer wie Frauen spielen in den Umkehrriten mit der agency (Handlungsmacht) des jeweils anderen Geschlechts. Musik, Tanz und Körperbemalung sind die Techniken dieser Verwandlung: Sie »aktivieren die Mächte eines anderen Körpers« (Viveiros de Castro 1997: 110) und lösen transformative Mächte aus. Das stimmt allerdings nur teilweise, da eine ›echte‹Verwandlung während der Reaktivierung der VR (oder mythischen Urzeit) sehr gefürchtet ist. Gerade während der Umkehrrituale wird sehr viel Energie darauf verwendet, sich nicht zu verwandeln. So hebt Aurore MonodBecquelin (1988: 557) die gefährliche Seite der Transformation und die damit verbundenen rituellen Restriktionen hervor. Und auch die MehinakoFrauen betonten mir gegenüber Abweichung von der männlichen rituellen Praxis gibt, um eine echte Verwandlung zu vermeiden. Dennoch bieten Rituale die Möglichkeit, in einen anderen Zustand einzutauchen und sich dabei auf Erfahrungen einzulassen, wie sie in der Alltagsrealität nicht möglich wären. Sie erlauben eine zeitlich begrenzte Identifikation mit dem Anderen und helfen dabei zu verstehen, wie es sich anfühlt, ein Mann, eine Frau oder gar ein mächtiges Wesen zu sein. Die Rituale erfüllen nebenbei noch weitere Funktionen. So ist das Maniokfest für die Frauen und Männer der Mehinako zum Beispiel die Gelegenheit, ganz konkreten Ärger und Wut auf ihre Ehepartner und Liebhaber loszuwerden. Im ›Geist-Modus‹ von kukuhë, der ›Herrin‹ des Manioks, tanzen Männer und Frauen aufeinander zu und beschimpfen sich heftig. Sie werfen sich sexuelles Ungenügen oder Geiz vor. Die rituelle Praxis erlaubt ihnen, ihre extremen Gefühle auszuagieren, was im Alltag streng verboten ist. Diese Vorwürfe sind ›nur gesungen‹, weshalb auch keiner beleidigt sein darf. So können sich während des Festes die negativen Emotionen entladen und nebenbei wird der Geist der Maniokpflanze besänftigt. Das Interessante an den rituellen Aufführungen ist gerade diese Doppelbödigkeit.

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Die Unterseite des Mythos ist die Angst vor der Auflösung gesellschaftlicher Konventionen. Amazonische Rituale spielen mit dieser Alterität, um die Alltagswirklichkeit von negativen Emotionen zu befreien und sie gestärkt erneut ins Werk zu setzen, damit Initianden nicht zu Vögeln, Frauen nicht zu ›Amazonen‹ und die Männer nicht zu Wildschweinen werden. Der rituelle Ausnahmezustand führt also zu einer kathartischen Reinigung von Emotionen und wird anschließend wieder in die festeren gesellschaftlichen Strukturen überführt. Gefahren und Nebenwirkungen Dieselbe Angst vor der Auflösung gesellschaftlicher Übereinkünfte, dem Verlust ordentlich abgegrenzter Wirklichkeiten und vor Bewusstseinsveränderungen bestimmt letztendlich auch den Diskurs über Videogames. Das Problem ist, so der Philosoph Tobias Holischka, dass die Realität nicht an der Oberfläche des Bildschirms endet. Es ist ein Fehler, nur materielle Dinge mit Masse und räumlicher Ausdehnung für wirklich zu halten. Vielmehr sollte man unter ›Wirklichkeit‹ all das verstehen, was eine Wirkung hat. Und das hat eben auch das Virtuelle. Virtuelle Orte sind in Computerspielen teilweise so detailliert erzeugt, dass sie als »illusionäre Parallelwelten in Verruf geraten sind«, betont Holischka. Während sich die Orte der Alltagswelt angesichts der neuen Medien einer Relativierung, möglicherweise sogar einer Neubestimmung hinsichtlich ihrer lebensweltlichen Bedeutung ausgesetzt sehen, tritt in den virtuellen Welten eine neue Art von Orten zutage, deren Einordnung zwischen Illusion, Fiktion und Wirklichkeit noch nicht eindeutig geklärt ist (Holischka 2016: 13). Während die einen – vorzüglich die Game-Entwickler – behaupten, das Spielen und das vollständige Abtauchen in andere Welten hätte keinerlei Einfluss auf die ›User‹, ein Spiel sei nur ein Spiel, warnen die anderen sehr eindringlich vor psychischen und biologischen Nebenwirkungen der Immersionserfahrung. Auch das Abtauchen in unproblematische Inhalte verändere das Bewusstsein.

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Der Bewusstseinsphilosoph Thomas Metzinger von der Universität Mainz warnt, dass ein starkes Abtauchen in die VR einen Menschen tatsächlich psychisch verändern kann. Gefährlich schätzt er die Langzeit-Immersion vor allem für die jüngeren User ein, die psychologisch und neurophysisch noch nicht vollständig entwickelt sind. Ihre Körpererfahrung sei noch nicht zu hundert Prozent stabil. Dazu kommen die immer realistischeren und dadurch schockierenden Gewaltdarstellungen und das Konsumieren verbotener Handlungen wie Kinder- oder Gewaltpornografie. Wenn VR Phobien lindern kann, wie es zum Beispiel die Hochschulambulanz für Psychotherapie durch die Nutzung virtueller Welten gezeigt hat, dann kann sie ebenso die Hemmungen abbauen, andere Menschen anzugreifen. Noch ist nicht klar, wie lange Aufenthalte im virtuellen Raum den Geist beeinträchtigen. Die Studien der Gruppe um Metzinger schließen jedenfalls nicht aus, dass längere Immersion in VR nicht nur zu Veränderungen auf psychologischer Ebene führen, sondern auch auf biologischer. Virtuelle Welten und ›Alltagswirklichkeit‹ sind keine Parallelwelten. Längst schon sind sie Teil unserer Lebenswelt. Sie stehen in Beziehung zueinander, durchdringen sich und kommunizieren miteinander. Als ›unwirklich‹ oder ›Illusion‹ kann man sie nicht abtun. In den amazonischen Gesellschaften ist man sich über die Folgen und Nebenwirkungen der rituellen Immersion im Klaren. Sie wird kontrolliert eingesetzt, um Übergänge zu begleiten und gesellschaftliche Konflikte zu entschärfen. Doch auch hier weiß man zu unterscheiden zwischen jenen ›subtilen‹ Verwandlungen und den ›radikalen‹ Grenzauflösungen, wie sie möglich und gefürchtet sind. Erweiterung der Wirklichkeit Mel Slater leitet das Experimental Virtual Environments Lab für Neurowissenschaft und Technologie (EVENT) in Barcelona. Sein Interesse gilt der Frage, wie radikal sich die Grenzen von VR ausdehnen lassen. Dabei betrachtet er die illusionäre Veränderung von digital generierten sozialen Szenarien und untersucht die Illusion von body ownership, also genauer gesagt die Frage, inwiefern das Eintauchen in die VR die Wahrnehmung und die Körperidentität beeinflusst. Seine Arbeit konzentriert sich nicht nur darauf, wie die Körper an andere Orte transportiert werden, sondern wie sie sich selbst durch die VR verändern. 171

Beim virtuellen ›Körpertausch‹ schlüpft die Person in die Haut eines anderen und das hat Einfluss auf die Einstellungen, auf das Verhalten und auf das Denken einer Person. Es verändert unmerklich aber nachweislich, wie Mel Slater und andere Wissenschaftler inzwischen mehrfach zeigen konnten. So überschätzten zum Beispiel Erwachsene, die im Avatar eines Kindes gesteckt hatten, anschließend die Größe von Gegenständen und hatten einen kindlicheren Sprachgebrauch (Tajadura-Jiménez et al. o.J.). Wer als Superheld einem kleinen Kind das Leben gerettet hatte, zeigte sich auch im ›wirklichen Leben‹ danach hilfsbereiter. Und eine ›illusionäre‹, also mittels Avatar-Körper durchgeführte, ›Out of Body-Experience‹ kann die Einstellung der betreffenden Personen zum Tod verändern. Das zeigte eine Versuchsanordnung für ein medizinisches Experiment im Januar 2017 an der Universität Barcelona. Für das im Medical Express (Bourdin et al. 2017) beschriebene Experiment wurden die Versuchspersonen zum tieferen Eintauchen in das virtuelle Umfeld gebracht, indem sie virtuelle Bälle der VR nicht nur fallen sahen, sondern auch spüren konnten. Das wurde über Vorrichtungen an ihren Ellenbogen und Fesseln erreicht, die sie immer, wenn ein virtueller Ball auf einem Körperteil landete, eine leichte Vibration spüren ließen. Nach einigen Momenten des Eintauchens in die VR veränderten die Forscher die visuelle Perspektive der Versuchspersonen. Diese löste sich vom virtuellen Körper ab und die Versuchsperson konnte sich selbst von hinten sehen, während die Kamera weiter nach oben zur Decke der gegenüberliegenden Wand fuhr. Die Versuchsperson fühlte sich, als hätte sie (der Perspektive der Kamera folgend) ihren Körper verlassen. Nach ein paar Minuten in dieser ›Out of Body-Phase‹ des Experiments konnten sie das Headset absetzen und den Fragebogen ausfüllen, der dann offenbarte, dass sie anschließend deutlich weniger Angst vor dem Tod hatten. Die Alteritätserfahrung reduziert sich nicht nur auf den Moment des Erlebens der VR, in dem der Spieler als Superheld durch die Galaxis schwebt, sondern sie wirkt im Gehirn nach. Das legt auch die Studie einer anderen Forschergruppe an der Universität Barcelona um Bernhard Spanlang and Béatrice S. Hasler (Hasler et al. 2017) nahe, die den Einfluss von Immersion auf rassistische Sichtweisen untersuchte. Dabei stellten die Forscher fest, dass weiße Personen, die eine Weile in einem Avatar mit dunkler Hautfarbe verbracht hatten, danach nachweislich weniger rassistisch dachten (Hasler et al. 2017). Das Eintauchen in die VR hatte ihre Sichtweise

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geändert. Den Forschern zufolge bietet die Immersion ein vielversprechendes Werkzeug, um gegen den alltäglichen Rassismus vorzugehen. Alternative Welten unter Kontrolle Zeigen diese Experimente, dass wir immer noch nach magischen Gesetzen funktionieren und dass Bruno Latour Recht hatte, wenn er behauptete, dass wir nie modern gewesen sind? Ist der Avatar in Wirklichkeit ein atavistisches oder gar magisches Verwandlungskleid, das uns die Möglichkeit gibt, in beliebiger Weise jemand anderes zu werden? Oder ist diese Veränderung durch die VR nichts weiter als Nachhilfe in Empathie in einer Gesellschaft, die immer mehr über Technologien und immer weniger von Angesicht zu Angesicht kommuniziert? Unabhängig von diesen schwer zu beantwortenden Fragen steht eins fest: Unsere starre Übereinkunft darüber, was ›wirklich‹ und was ›virtuell‹ (unwirklich, illusionär) ist, gerät durch die immersiven Videospiele ins Wanken. Diese erreichen, was ethnographischen Berichten von alternativen Wirklichkeitskonzeptionen in sogenannten vorindustriellen Gesellschaften nicht gelang: Sie machen die eigenen Wirklichkeitskonzeptionen mit ihrer strengen Trennung von Kultur und Natur, Nicht-Menschlichem und Menschlichem ungewiss und ziehen die ›User‹ so stark in andere Welten, dass diese anschließend verändert wieder herauskommen. Die virtuelle Welt ist realer als gedacht. Sie hat messbare Auswirkungen auf den Körper und auf das Bewusstsein. Wir können uns also getrost verabschieden von der strengen Trennung der Welten. Anstatt aber die Welten abstrakt und künstlich auseinander zu halten, sollte man lieber untersuchen, wie sie sich vermischen. VR ist nicht die erste und auch nicht die letzte technische Revolution, die unsere Wahrnehmung verändert. Genannt sei hier nur die Auswirkung des Kinos auf unser Bewusstsein. Der US-amerikanische Wissenschaftler Eric Schwitzgebel kam bei der Auswertung von Traumberichten aus allen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu dem Ergebnis, dass mit dem Aufkommen des Kinos in den 50er Jahren die Träume vieler Menschen schwarzweiß wurden. In der Zeit, in denen Schwarz-Weiß-Filme am weitesten verbreitet waren, war auch die Zahl der Schwarz-Weiß-Träumer am höchsten. Wir verändern uns über unsere Wahrnehmung und sie verändert sich mit uns. 173

Heute gibt uns VR die Möglichkeit, unseren Zustand und die Perspektive zu verändern, in andere Körper zu schlüpfen. Gemessen am ›Echtheitserlebnis‹ unterscheidet sich die Technik des Schamanen, sich mit der Bekleidung des Jaguars fortzubewegen, gar nicht so stark von den Immersionserfahrungen eines Spielers. Beide Gehirne speichern es als ›echtes‹ Erlebnis ab. Mit dem Unterschied, dass der Schamane während dieser Reise getötet werden kann, der VR-Spieler mit einem Schrecken davon kommt. Indianische Gesellschaften sind geübt darin, ihre Mitglieder in Welten eintauchen zu lassen, durch mythische Erzählungen und durch Rituale zu schicken. In der anderen Wirklichkeit müssen sie Gefahren überstehen und Levels durchwandern. Im amazonischen Tiefland wird diese typische Doppelbödigkeit des Spiels oder Rituals für ein friedliches Zusammenleben produktiv gemacht. Seine Regeln leiten sich aus der mythischen Zeit ab, in die auch eingetaucht wird. Der entscheidende Unterschied zur VRImmersion ist jedoch: Diese Ausflüge in die mythischen Welten sind sehr gut dosiert und kontrolliert. Das punktuelle und kontrollierte Eintauchen in den ›Mythos‹, in das kollektive Bewusstsein, ist pädagogischer Art. Warum? Weil auch hier die Angst vor dem Einbruch dieser anderen, mythischen Realität besteht. Klar ist auch, dass sich nicht nur unser Begriff der Wirklichkeit verändert, sondern wir mit ihm. Längst schon sind wir Teil der technischen Welt, die sich paradoxerweise wiederum so wunderlich an jene mythischen Wirklichkeiten angleicht. In den JumpʼnʼRun-Spielen, aber auch in anderen virtuellen Welten, wie sie in der Literatur und dem Kino erscheinen. So sind die blauen ›Navi‹ aus James Camerons Film ›Avatar – Aufbruch nach Pandora‹ sehr gut als die Zukunftsversion eines ›Naturvolks‹ zu verstehen. Ob diese Affinität von mythischen und virtuellen Welten nun in neurophysiologischen Ähnlichkeiten des menschlichen Gehirns begründet liegt oder im Träumen an sich, lässt sich schwer sagen. Während in Amazonien ein tendenziell geschlossenes Glaubenssystem hinter der Immersion steht, das sich mit der ›natürlichen‹ Umgebung in Einklang befindet, die wiederum in der Geisterwelt repräsentiert ist, sind es in unserer Gesellschaft die Programmierer und ihre Quellcodes. Während die Ritualleiter das Eintauchen in Geisterrepräsentationen und Transformationen kollektiv ›kuratieren‹ und begleiten, regelt sich die VRImmersion durch Angebot und Nachfrage. Es bleibt bei der Eintauchbewegung – ein Auftauchen und die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung ist nicht Teil des Spiels. 174

Die Programmierer können die Grenzen des ›guten Geschmacks‹ oder des ›Ertragbaren‹ transzendieren und dem Spieler neue ungeahnte Emotionen und Erfahrungen bescheren. Eine große Faszination üben nach wie vor die Kriegs- und Horrorspiele aus, auch wenn auf dem wachsenden Indie-Gamer-Markt politisch korrekte und intelligente Spiele erscheinen. Doch wie mag dem Spieler nach dem Eintauchen in angstauslösende Szenarien anschließend die ›Alltagsrealität‹ erscheinen? Genießen sie die Sicherheit? Langweilen sie sich in ihr, weil sie keine extremen Emotionen auf Klick bereithält? Auch darüber kann man nur spekulieren. Suchtpotential haben die Videospiele auf jeden Fall, es wird vermutlich über die in den Spielen eingebauten Belohnungssysteme getriggert. Die programmierte VR bedient sich zwar an (kollektiven) Fantasien, da sie ja eine möglichst große Zielgruppen ins Visier nimmt, doch stehen hinter den ungeahnten Möglichkeiten und Freiheiten der Darstellung VR rigide Quellcodes. Sie erlauben den Spielern in den seltensten Fällen eine Veränderung der Perspektive innerhalb des Spiels. Die Immersionserfahrungen des Video-Gamers geraten für die Gesellschaft außer Kontrolle (diese beschränkt sich auf Altersfreigaben) und gleichzeitig unter einen anderen, viel strengeren Zwang. Codes und Algorithmen sind unhinterfragbar und diktatorisch. Während kollektive Träume innerhalb des gesellschaftlichen Rahmens veränderbar und frei erscheinen, wird die VR-Brille zur perfekten Metapher für eine Welt, in der wir uns freiwillig in fremdgesteuerte Wirklichkeiten zurückziehen. Literatur Basso, Ellen B. 1985. A Musical View of the Universe: Kalapalo Myth and Ritual Performances. Philadelphia: Pennsylvania Publications. Bourdin, Pierre, Itxaso Barberia, Ramon Oliva und Mel Slater 2017. A Virtual Out-of-Body Experience Reduces Fear of Death. PLOS ONE 12 (1), e0169343. Dundes, Alan (Hg.) 1984. Sacred Narrative: Readings in the Theory of Myth. Berkeley: University of California Press. Eliade, Mircea 1984. Cosmogonic Myth and ›Sacred Narrative‹. In: Alan Dundes (Hg.) Sacred Narrative: Readings in the Theory of Myth. Berkeley: University of California Press, 137-151.

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—— 1990. Das Heilige und das Profane: Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Feldhaus, Timo 2017. Auf dem Trip. MONOPOL (Januar), 72-80. Hasler, Béatrice S., Bernhard Spanlang und Mel Slater 2017. Virtual Race Transformation Reverses Racial in-group Bias. PLOS ONE 12 (4), e0174965. Holischka, Tobias 2016. CyberPlaces – Philosophische Annäherungen an den virtuellen Ort. Bielefeld: transcript. Kohl, Karl-Heinz (Hg.) 1992. Mythen im Kontext: Ethnologische Perspektiven. Frankfurt am Main: Campus. Köpping, Klaus Peter und Ursula Rao (Hg.) 2000. Im Rausch des Rituals: Gestaltung und Transformation der Wirklichkeit in körperlicher Praxis. Münster: Lit. Kottmann, Sina Lucia 2002. Der Blick des Ethnologen Bruno Latour in die Büchse der Pandora oder die Hoffnung der Wissenschaften. Anthropos 97 (1), 220-223. Madary Michael und Thomas K. Metzinger 2016. Real Virtuality: a Code of Ethical Conduct: Recommendations for Good Scientific Practice and the Consumers of VR-Technology. Frontiers in Robotics and AI, https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/frobt.2016.00003/full. Monod Becquelin, Aurore 1988. Der dekorierte Mensch. Körpermalerei bei den Trumai des Alto Xingu (Zentral-Brasilien). In: Mark Münzel (Hg.) Die Mythen Sehen. Frankurt am Main: Museum für Völkerkunde, 533-579. Münzel, Mark (1992) Die Kreativität einer Guaraní-Mythe. In: KarlHeinz Kohl (Hg.) Mythen im Kontext: Ethnologische Perspektiven. Frankfurt am Main: Campus, 79-105. Neil, Katherine (2016) Ein Gespräch mit Katharine Neil. In: Jeannette Neustadt und Stephan Schwingeler (Hg.) Games and Politics. Ausstellungskatalog. München: Goethe-Institut, 59. Neustadt, Jeannette und Stephan Schwingeler (Hg.) 2016. Games and Politics. Ausstellungskatalog. München: Goethe-Institut. Prinz, Ulrike 2004. Das gefährliche Spiel mit dem Anderen: Verwandlung und Travestie der Geschlechter im amazonischen Tiefland. Journal Ethnologie, http://www.journal-ethnologie.de/Deutsch/ Schwerpunktthemen/ Schwerpunktthemen_2004/Ethnologische_Geschlechterforschung/Das_gefaehrliche_Spiel_mit_dem_Anderen/index.phtml

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―― 2004. Un viaje al pueblo de los pájaros. Escenificación y persoificación en el Alto-Xingu. In: Maria Susana Cipolletti (Hg.) Los mundos de abajo y los mundos de arriba : individuo y sociedad en las tierras bajas, en los Andes y ma s alla : tomo en homenaje a Gerhard Baer en su 70 cumplean os. Quito: Abya-Yala. ―― 2012. Spirits, Ritual Staging and the Transformative Power of Music in the Upper Xingu Region. In: Jonathan Hill und Jean-Pierre Chaumiel (Hg.) Burst of Breath Indigenous Ritual Wind Instruments in Lowland South America. Lincoln and London: Nebraska Press, 221-242 Rivière, Peter 1995. AAE na Amazonia. Revista de Anthropologia 38 (1), 191-203. Schulze von Glaßer, Michael 2017. Politische Pixel- Virtuelles Säbelrasseln und das Thema der ›Flucht‹ in digitalen Spielen. In: Jeannette Neustadt und Stephan Schwingeler (Hg.) Games and Politics. Ausstellungskatalog. München: Goethe-Institut, 80-96. Schwingeler, Stephan 2016. Der Ernst der Spiele: Digitale Spiele als politische Bedeutungsträger. In: Jeannette Neustadt und Stephan Schwingeler (Hg.) Games and Politics. Ausstellungskatalog. München: Goethe-Institut, 48-57. Schwitzgebel, Eric 2002. Why Did We Think We Dreamed in Black and White? Studies in History and Philosophy of Science 33, 649-660. Tajadura-Jiménez, Ana, Domna Banakou, Nadia Bianchi-Berthouze und Mel Slater 2017. Embodiment in a Child-Like Talking Virtual Body Influences Object Size Perception, Self-Identification, and Subsequent Real Speaking. Science Reports 7 (1), 9637. Villas Boas, Orlando und Claudio Villas Boas 1973 [1970] Xingu: Los Indios, Sus Mitos. Rom und Quito: Abya Yala. Viveiros de Castro, Eduardo 1997. Die kosmologischen Pronomina und der indianische Perspektivismus. Bulletin (Schweizerische Amerikanisten-Gesellschaft) 61, 99-114. Volpi, Jorge 2012. Die Emotionsmaschine. Humboldt 158, 4.

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Andrea Lauser

Lên đồng – Kult, Kulturerbe, Spektakel Ein vietnamesisches Ritual: Von der kontrollierten Besessenheit zur Bühnenperformance Unterwegs ins Feld … Als ich im Oktober 2006 mit dem Vorhaben einer ethnographischen Forschung über Pilgerwesen und Ahnenverehrung in Hanoi eintraf, wurde ich auf geradezu konspirative Art und Weise zu einem ›Trance-Ritual‹ eingeladen. So erlebte ich, kaum angekommen, mein erstes lên đông in einem privaten Tempel Hanois. Das Ritual wurde hauptsächlich von einer nach Hanoi ›heimkehrenden‹ Việt Kiều (Vietnamesin im Ausland) gesponsert, die belastende persönliche Probleme durch wirkungsvolle Rituale behandeln lassen wollte.1 Im Laufe meiner Forschung 2006-2007 pilgerten wir stundenlang in Minivans eingezwängt über kurvenreiche Straßen zu zahlreichen Tempeln in entlegenen (Berg-) Regionen Nord-Vietnams. Schnell realisierten wir dort, dass wir nicht die einzigen waren, sondern viele andere mehr oder weniger wohlhabende ›Pilger‹ aus Hanoi oder aus dem Ausland auf der Suche nach ihren ländlichen und kulturellen Wurzeln Pilgerreisen in Bussen und Minivans zu den Tempeln finanzierten, die in der Regel mit kunstvollen und ausgearbeiteten lên đông-Zeremonien verbunden waren (siehe auch Lauser 2015, 2016). Es waren dies Besessenheitsrituale, bei denen die Anhänger mittels eines Mediums die Göttinnen der vier Paläste (Tứ Phủ ) – des Himmels (Thiên Phủ), der Erde (Đi ̣a Phủ ), des Wassers (Thủ y Phủ ) und der Berge und Wälder (Nhạc Phủ ) – und ihren breit gefächerten Pantheon von Geisthelfern verehren und darum bitten, sie für erfolgreiche (und gewinnbringende) Vorhaben und Unternehmungen zu segnen. 1

Zur aktuellen Diskussion von vietnamesischen indigenen Religionen in der Diaspora siehe Hoskins 2017, 2015, 2014.

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Boomendes lên đồng – lên đồng im Aufschwung Lên đồng-Rituale (auch hâu bong genannt) nehmen einen zentralen Platz ein innerhalb eines komplexen Glaubenssystems (hệ thống tín ngưỡng), das als Religion der Vier Paläste (Ðạo Tứ Phủ ) oder Religion der Muttergottheit (Ðạo Mẫu) bezeichnet wird. Ðạo Mẫu, was wörtlich als ›Weg der Muttergottheiten‹ übersetzt werden kann, wird als althergebrachte religiöse Tradition Vietnams beschrieben, durchsetzt mit taoistischen Elementen (Ngô Đức Thịnh 1996, 2006). In den zentralen Besessenheitsritualen wird ein Medium von einer Reihe verschiedener Geister, Gottheiten und einer hierarchischen Abfolge von göttlichen ›Geist-Helfern‹ besetzt, tanzt zur Musik, châu văn genannt, spricht manchmal Botschaften, verteilt gesegnete Gaben – lộc – (und Geld) und bietet Rat und Heilung an. Das Pantheon der Götter und Geister bildet quasi das ›Gerüst‹ des religiösen Weltbildes. In einer Art nostalgischer Reminiszenz an die große imperiale Vergangenheit treffen in hierarchischer Rangfolge Geister, Kulturund Ahnen-Heroen wie beispielsweise General Trần Hưng Đạo (und einiger seiner Familienmitglieder) zusammen. Jeder Gottheit (Mẫu) der Paläste des Universums ist ein Helferstab von Mandarinen (Quan), Hofdamen (Chầu), Prinzen (Ông Hoàng), Prinzessinnen (Cô) und jungen Prinzen (Cậu Bé) zugeordnet, die sich im Laufe eines mehrstündigen Rituals im Medium verkörpern, und durch prachtvolle farbige Kleidung und Paraphernalien entsprechend der Zuordnung zu den vier Palästen zu erkennen sind – so symbolisiert die rote Farbe den Palast des Himmels, gelb die Erde, weiß steht für den Palast des Wassers und grün und blau für die Berge und Wälder. Praktizierende des lên đồng sind mit einem mehr oder weniger standardisierten Pantheon vertraut, ebenso wie sie die wichtigsten Tempel, Ritualund Festangelegenheiten kennen.2 Es gibt allerdings keine kodifizierte Zusammenstellung religiöser Texte, und es fehlt (bis heute noch) eine übergreifende institutionalisierte Organisation, die über die religiöse Praxis und Lehre Entscheidungen fällt. Diese lockere Struktur erlaubt eine große Flexibilität unter den Praktizierenden hinsichtlich Liturgie und Auslegung sowie der Meinungsverschiedenheiten darüber. Im Laufe eines bis zu acht Stunden dauernden lên đồng verkörpert ein Medium mehrere Dutzend Geister. Wenn ein Geist das Medium ›besteigt‹, Zu Pantheon und Topographie siehe Fjelstad und Nguyễn Thi Hiên 2011, Norton ̣ 2009.

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werfen die immer anwesenden und unentbehrlichen Assistenten (hâu dâng) ein rotes Tuch über den Kopf des Mediums und kleiden es anschließend mit speziellen, den Geistern zugeordneten Roben ein. Medien sagen, wenn ihnen das rote Tuch übergeworfen wird, würden sie mehr oder weniger die Kontrolle über ihren Körper loslassen und dem Geist die Besetzung bzw. den ›Aufritt‹ erlauben. Sowohl männliche als auch weibliche Medien verkörpern kokette, ausgelassene, ja vorlaute ebenso wie mitfühlende, fürsorgliche und sehr feminine Prinzessinnen, die tanzend Blumen, Geld und andere zuvor geopferte Dinge umverteilen (phát lộc), aber auch grimmige, Waffen schwingende Generäle oder nachdenkliche, die Kunst und Poesie liebende Mandarine und Prinzen. Üblicherweise folgen den Generälen die Mandarine (Quan Lớn) und Prinzen (Ông Hoàng), dann treten eine Reihe von Hofdamen (Chầu Bà) und Prinzessinnen (Cô) auf und das Ritual endet meist mit leichten fröhlichen Tänzen der jüngeren Prinzessinnen des Palastes der Berge und Wälder und der jungen kindlichen Prinzengeister (Cậu). Châu văn-Musiker, bestehend aus Mondlauten-Spielern, Perkussionisten, Zither- und Bambusflötenspielern, begleiten kontinuierlich das lên đông-Ritual mit ihren lebendigen und einprägsamen Rhythmen, Melodien und Gesängen und stellen so für jeden Geist eine spezifische Klang- und Liedlandschaft her (Norton 2009). Aus meiner teilnehmenden Beobachtung sind mir besonders beliebte und auch mich faszinierende Besessenheiten bzw. Verkörperungen erinnerlich. So trat beispielsweise der Zehnte Prinz (Ông Hoàng Mười) in gelber Robe, getragenen Schrittes im Habitus eines bedeutungsvollen Gelehrten auf, beschrieb nach langer Überlegung seinen Fächer und offerierte bündelweise Räucherwerk am Altar. Der Legende nach diente er als äußerst gelehrter und kriegerischer General unter der Lê-Dynastie und wurde im lên đông besonders wegen seiner intellektuellen und kämpferischen Talente vor allem vor Examina, Studienabschlüssen und Prüfungen verehrt. Ganz anders die Performanz des nicht weniger beliebten und verehrten Ông Hoàng Bảy Bả o Ha, des Siebten Prinzen von Bảo Hà aus der Lào Cai-Provinz, der als legendärer Mandarin die nördliche Region Vietnams vor chinesischen Übergriffen verteidigte. Der Legende nach liebte er die Dichtkunst und schönen Seiten des Lebens, wie Opium, grünen Tee und das Glücksspiel. Die châu văn-Musik untermalte sehr viel nachdenklicher seine eher melancholische Performanz. Farblich passend zu seiner blauen Robe verteilte er als lộc (gesegnete Opfergaben) blaue Pepsi Cola-Dosen, was neben ästhetischen farblichen Gesichtspunkten auch seinen ›Appetit‹ auf 181

moderne Konsumgüter veranschaulichen mag. Reizbare, sensible und daher stressanfällige Personen sehen eine schicksalhafte Verbundenheit zum Siebten Prinzen und erbitten von ihm als spirituell hochstehender Instanz Unterstützung gegen Abhängigkeiten, Verlangen und Fixierung, aber auch Glück im Spiel. Auch die Dritte Prinzessin in Weiß (Cô Bơ Thoải Cung), assoziiert mit dem Palast des Wassers, ruderte zu gefühlvoller und melancholischer Musik reinen Herzens, aber traurig über die Mühsal der Umstände über das aufgewühlte Wasser. Sie wird wegen ihrer Schönheit und ihres Mitgefühls besonders in entbehrungsreichen beschwerlichen Zeiten (Bootsfluchten) fern der Heimat verehrt, ebenso wie ihr Heilungsfähigkeiten zugesprochen werden. Eine ganz andere Stimmung und Identifikation hingegen vermittelt die jüngste Prinzessin aus dem Bereich der Berge und Wälder (Cô Bé Thượng Ngàn), die zu mitreißender Musik ausgelassen tanzt und großzügig lộc wie grüne Früchte, Betelnüsse, Gurken, Bonbons und bündelweise Geld in die Ritualgemeinde wirft, ganz im Sinne der in den Liedversen besungenen Losung, wonach sich gutes und frisches lộc aus den Bergen durch Großzügigkeit vermehrt: ›gib neun und bekomme zehn zurück, verkaufe frisch und du wirst reich – cô cho đi chín về mười buôn may bán đắt ở trên đời mọi sự an khang‹. Lên đông-Aufführungen stellen somit ein vielfältiges und affektives Repertoire an Optionen der Identifikation zur Verfügung, sei es unter gender- oder altersspezifischen Gesichtspunkten oder in Reflexion allgemeiner Erfahrungen und Emotionen wie Wut, Frustration und Depression (Norton 2013). Im Gegensatz zu heute (2017) war zur Zeit meines Forschungsjahres 2006-2007 lên đông zwar sehr beliebt, aber öffentlich längst nicht anerkannt. Mit Ausnahme einiger weniger Publikationen vietnamesischer Folkloristen (wie Ngô Đức Thịnh 1992, 1996, 2006, Nguyễn Thi ̣Hiên 2002) gab es bis dahin wenige Veröffentlichungen zum Thema. Und obwohl lên đông-Rituale seit den späten 1980er Jahre zunehmend öffentlich und nicht mehr nur ›konspirativ‹ durchgeführt wurden, begleitete sowohl in den Medien als auch in offiziellen Kontexten ein beharrlicher Anti-AberglaubenDiskurs diesen Aufschwung, der die Trance-Medien als betrügende Quacksalber und die Glaubenspraxis als Aberglaube (mê tín) stigmatisierte. Wie Lambek 1989 generell feststellte, unterlaufen Besessenheitsrituale ›moderne‹, ›aufgeklärte‹ ›Komfortzonen‹, und dies gilt erst recht in einem Land wie Vietnam mit einer jahrzehntelangen restriktiven kommunistischen Kultur- und Religionspolitik (Lauser 2008, Melarney 2002, 2003). 182

Abb. 1: Ðạo Mẫu-Altar imTempel Phủ Tây Hồ (Hanoi 2011, Foto: Lauser). Schaut man von außen auf die rituelle Praxis, so präsentiert sich lên đông auf bemerkenswerte und spektakuläre Weise und nicht nur an Orten, wo es zur Aufführung gelangt. Heute (2017) kann zweifelsohne von einem regelrechten lên đông-Boom gesprochen werden, der von einer Vitalität zeugt, die nicht nur die Ritualanhänger und die spezifische Ritualpraxis umfasst. Vielmehr taucht lên đông in einer großen Bandbreite von Praktiken und Diskursen bezüglich kultureller Identität, Kulturerbe und Kulturpolitik auf und kommt prominent in den Medien, im Touristensektor ebenso wie in einer Reihe neuerer akademischer Publikationen vor (Dror 2007, Norton 2009, Phương 2009, Endres 2011, Fielstad und Nguyễn Thi ̣ Hiên 2011). Eine Dauerausstellung ›Worshipping Mother Goddess: Pure Heart – Beauty – Joy‹ (Trưng bày Tín ngưỡng thờ Mẫu: Tâm-Đẹp-Vui) im Vietnamese Women’s Museum – Bảo tàng Phụ nữ Việt Nam in Hanoi markiert seit 2011 die öffentlich anerkannte Rolle im vietnamesischen Sozial- und Kulturleben, und im weltweiten Internet erreicht eine Google-Suche zu lên

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Abb. 2: Altar im Women’s Museum (Hanoi 2011, Foto: Lauser) đông oder hâu bong Ergebnisse im sechsstelligen Bereich sowohl auf offiziellen vietnamesischen Nachrichtenseiten als auch auf YouTube und auf Touristenseiten ebenso wie auf individuellen Blogs und in den sozialen Medien.

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Lên đông und seine soziale Positionierung haben sich seit der đổ i mớiReformpolitik Schritt für Schritt rapide und tiefgreifend verändert. In der Tat war es ein bemerkenswerter Weg der Transformation von der Ächtung der Besessenheitsrituale der Vier Paläste als verschwenderische, abergläubische Praxis über die Folklorisierung als Kunstform für das Volk zum Boom in der Populärkultur bis zur Glorifizierung und Wertschätzung als ›lebendiges Museum vietnamesischer Kultur‹ – Bảo tàng sống của văn hóa Việt. Von hier war der Schritt zur Reifizierung als Teil des nationalen Kulturerbes nicht mehr allzu weit und führte schließlich Ende 2016 zur Nominierung und Einschreibung in die UNESCO Liste für Immaterielles Kulturerbe, was in der vietnamesischen Öffentlichkeit mit großer Medienpräsenz und einer spektakulären offiziellen Feier zelebriert wurde. Damit scheint nun den ›vietnamesischen Glaubenspraktiken in die Muttergottheiten‹ – tín ngưỡng thờ Mẫu tam phủ của người Việt ein dauerhafter Platz in der globalisierten Welt des Spektakels, der öffentlichen Medien und des Tourismus gewährt zu werden. Und es ist davon auszugehen, dass diese heritagization die religiösen und heilenden Komponenten in den Hintergrund treten lässt bzw. die Betonung nun mehr auf heritage denn auf religion liegt, oder wie es Oscar Salemink jüngst (2017) auf einer Konferenz formulierte, die heritagization der Geistbesessenheit als eine säkulare Sakralisierung der Nation umgedeutet wird. Dieser Weg der Neuausrichtung des lên đông verlief nicht einstimmig oder geradlinig, sondern ganz im Gegenteil vielstimmig, kontrovers und mit komplexen historischen Bezügen. Mit Jean und John Comaroff (1993) gilt es, diese Reise als soziale und diskursive Artikulationsräume nachzuvollziehen, in welchen die Beziehungen zwischen ›Tradition‹ und ›Moderne‹ sowie zwischen lokalen kulturellen Orientierungen und globaler politischer Ökonomie verhandelt werden:

The work of ritual – of the building and contesting of social realities by way of formally stylized, communicative action – is unceasing. Which is all the more reason to regard it as a pervasive aspect of ongoing activity, to perceive the ritual in all politics, and the politics in [all] rituals, to dispense with the old Eurocentric dichotomy between the sacred and the profane (1993: xviii).

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Abb. 3: Im Foyer des Opernhauses (Hanoi 2013, Foto: Lauser).

Abb. 4: Aufführung auf der Opernbühne (Hanoi 2013, Foto: Lauser).

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Und sie betonen, dass rites are not formulaic restatements of the mystical, sacred truth. Nor are they mechanistic invocations of conventional values that serve merely to regulate recalcitrant realities. Intricately situated performances with complex historical potential, they intensify and enrich meaningful communication among human beings by calling upon what has termed the ›metaforces‹ of poetic form: the positioning, contrast, redundancy and tropic play of images (1993: xxi). Das Ritual, das ehemals als nationale ›Schande‹ galt, steigt zu nationalem ›Ruhm‹ auf. Was macht nun lên đông so allgegenwärtig und seinen Statuswandel unübersehbar? Bevor ich drei unterschiedliche lên đông-Aufführungen – vom Kult zur Kultur zum Spektakel – als drei Etappen dieses Weges beschreiben und diskutieren werde, sollen einige historische und soziale Bezüge als notwendige Kontextualisierungen für dessen Flexibilität und Vielschichtigkeit skizziert werden. Denn, in Barley Nortons Worten formuliert: »One of its strengths is its capacity to accommodate the diverse concerns and aspirations of its followers and its popularity relies on appealing to a broad spectrum of the populace« (2009: 200). Historische und soziale Kontextualisierung des lên đồ ng (als Teil der Gegenwart) Auffallend ist zunächst eine beachtliche Verbreitung und Vielfalt von Kontexten und Formen: Als Tempel-Ritual wird lên đông sowohl in privaten als auch in öffentlichen Tempeln aufgeführt, von denen einige als wichtige Pilgerdestinationen aufgesucht werden, und/oder Teil beliebter (buddhistischer) Pilgerrouten sind; überdies werden lên đông-Rituale sowohl privat gesponsert, als auch in aufwendigen öffentlichen Tempel-Festivals zur Aufführung gebracht. Beliebte lên đông-Inkarnationen (wie die Dritte Prinzessin, der Siebte Prinz und die Zweite Prinzessin der Berge und Wälder) wurden im vietnamesischen Musikvolkstheater – Hát Chèo – ebenso wie im Puppentheater unter dem Label ›Ba Giá Hầu Đồng – Drei Trance-Inkarnationen‹ in folkloristische Vorführungen integriert und erreichten über die châu văn-Musik auch über nationale Grenzen hinweg ein vielfältiges 187

Publikum (Do 2013). Alles in allem haben lên đồng-Aufführungen über rituelle, religiöse Kontexte hinaus das klassische Volkstheater, die Oper, experimentelle Kunstspektakel o. ä. inspiriert und bedienen inzwischen besonders auch touristische Kontexte. Deutlich wird, dass der lên đồng-Boom nicht nur quantitativ zu messen ist, sondern dass an ihm ein weiteres Mal vietnamesische Religions- und Kulturpolitik der letzten dreißig Jahre nachgezeichnet werden kann. Nicht zum ersten Mal werden zuvor illegitime abergläubische Praktiken über eine Kulturalisierung als nationale Kultur und authentische vietnamesische Identität schließlich als ›profane‹ nationale Religion legitimiert und zugleich ›domestiziert‹ und kontrolliert (vgl. Lauser 2008a, 2008b, Roszko 2012). Auch wenn Begriffe wie Kulturerbe bzw. heritagization (di sả n văn hoa) relativ neue Begriffe im Kontext Vietnams sind, so schaut die damit verbundene Agenda auf eine sehr viel längere Genealogie der Umdeutung vom Aberglauben (mê tín di ̣ đoan) zu ›schönen nationalen Bräuchen‹ – thuân phong mỹ tục oder truyên thông tôt đe ̣p củ a dân tộc zurück (Endres 2002). Die Transformation des lên đồng vom Symbol einer irrationalen feudalen Vergangenheit zu einem legitimen, ja besonders schützenswerten Aspekt vietnamesischer Spiritualität und kultureller Identität umfasst eine heterogene Bandbreite von Akteursgruppen: Neben den Akteuren des rituellen Feldes, wie rituelle Experten,3 Anhänger, Tempelwächter sind die Akteure des ökonomischen Feldes nicht (mehr) wegzudenken, welche die rituellen Objekte, Opfergaben und Paraphernalien produzieren und vertreiben, die Logistik für Pilgerfahrten und Transport ebenso wie das Vermarkten des lên đồng als touristisches Spektakel organisieren. Als weitere wichtige Akteursgruppe sind Wissenschaftler und Kulturmanager von Forschungsinstitutionen und Ministerien zu nennen, die mit ihren Untersuchungen die historischen, kulturellen und spirituellen Bezüge herstellen und mit akademischer Stimme am Prozess sowohl der heritagization als auch der ›Religionalisierung‹ des lên đồng mitbeteiligt sind. Lokale und/oder politische Funktionsträger und zentrale Regierungsautoritäten schließlich verwalten religiöse Praktiken und religiöse Orte als Angelegenheiten des öffentlichen Interesses. Im jahrelangen Bewerbungsprozess zur Anerkennung als UNESCO-Weltkulturerbe wurde und wird auf allen Regierungsebenen von der ministerialen bis zur lokalen Ebene der Volkskommittees agiert. 3

Neben den Medien sind noch thầy cúng als ›Zeremonien-Meister‹ zu nennen, die Texte und Gebete in sino-vietnamesischer Schrift beherrschen (Sorrentino 2010).

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Und schließlich sind Künstler zu nennen, die lên đồng als Kunstform ausprobiert und etabliert haben (s.o.). Diese Vieldimensionalität, welche spirituelle, soziale, politische, ökonomische, kulturelle und ästhetische Dimensionen miteinander verbindet, macht lên đồng zu einem ›totalen sozialen Phänomen‹ (im Sinne von Marcel Mauss). Spirituelle Dimension Bezüglich der spirituellen Dimension sind wenigstens fünf charakteristische Merkmale zu nennen, die zugleich lên đồng im Rahmen einer Heilsökonomie verorten: Erstens nimmt lên đồng als spirituelle Praxis Bezug auf alltägliche Bedürfnisse und Probleme; denn Gesundheit und Wohlstand sind die prominentesten Motivationen bzw. Ziele der rituellen Aktivitäten und Opfergaben. Zweitens werden die Muttergottheiten mit Großzügigkeit assoziiert, was auf Seiten der Anhänger tiefe Dankbarkeit evoziert. Allerdings können (drittens) die Geister des Pantheons durchaus auch Fehlverhalten bestrafen. Weiterhin (viertens) betonen Anhänger des lên đồng, dass eine spirituelle Prädisposition căn – lokal übersetzt als Schicksal und Verwicklungen aus früheren Leben – zu aktivem Engagement im lên đồng verpflichten; es sei weniger eine freie Entscheidung denn eine spirituelle Bestimmung. Und schließlich (fünftens) werden das Pantheon und die rituelle Praxis trotz einiger taoistischer Elemente und Konzeptionen als etwas ›authentisch‹ Vietnamesisches vorgestellt. Die Charaktere, die in den Liedern besungenen und erzählten Geschichten der Götter, Geister und Heldenahnen nehmen Bezug auf vietnamesische spirituelle und historische Welten (Dror 2007). Reich ornamentierte Roben, Kostüme und Attribute repräsentieren die Geister, die in jeder lên đồng-Aufführung über Tanz, Musik und Gesang auf ästhetische und sinnliche Weise historische Vergangenheit und kulturelle Logiken vergegenwärtigen. ›Vietnam tanzt in und durch die Medien‹ heißt es. Es seien die großen Geister der Vergangenheit, die die Körper der Medien mit Geschick, Anmut und Können bewegen, energetisieren und ermächtigen.

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Ästhetische Dimension Die ästhetische Dimension – als sinnliche Erfahrung – entfaltet das lên đồng-Ritual auf multisensorische (ebenso wie multisemiotische) Weise im ›religiösen Spiel‹. Farbenprächtige Kostüme, ergreifende Musik, überladene bunt dekorierte Altäre, wilde Rhythmen, wohlriechendes Räucherwerk und Parfum ebenso wie köstliches Essen sprechen alle Sinne an. Ein reines Herz, Schönheit und Freude – tâm, đẹp, vui – werden als charakteristische Kriterien einer gelungenen lên đồng-Athmosphäre genannt. Dabei steht Schönheit (đẹp) für sehr viel mehr als eine oberflächliche Qualität, sie ist vielmehr Voraussetzung für die Wirksamkeit des Rituals. Nur wenn das Medium einen ›schönen‹ Ausdruck hat und nur wenn die Aufführung ›schön‹ ist und den Göttern und Geistern gefällt, kann das Ritual erfolgreich sein und können Wohlwollen und Gunst der Geister gewonnen werden (siehe unten und Endres 2008). Ebenso wird der emotionalen Atmosphäre eine besondere Bedeutung zugesprochen. Kommentare wie «nach jedem Ritual fühle ich mich glücklich und spirituell erfrischt und auf eine Art zufrieden, wie ich es kaum in Worte fassen kann« oder »nach einem lên đồng fühle ich mich leicht, heiter, friedlich, fröhlich und glücklich« sind typisch, auch nach stundenlanger Teilnahme in wenig bequemer Haltung. Mit anderen Worten, eine lên đồng-Dramaturgie macht den Ritualraum zum Schauraum, zum akustischen Raum, zum Duftraum, zum Geschmacksraum, zu einem Raum, der erfühlbar ist. Poesie, Kunst und Religion lassen sich nicht trennen. Es geht um eine ›Erkenntnis‹ durch die Sinne. Sehen, hören, genießen, berührt, erschüttert werden usw. ebenso wie das ›Um-Verteilen‹ von Nahrung, Waren und Geld zwischen Medium, Geistern/Göttern und Ritualgemeinde entfalten eine komplexe Kommunikationsdynamik. Soziale Dimension Dies führt uns zu den sozialen, politischen und ökonomischen Dimensionen. Unter sozialen Gesichtspunkten ist bemerkenswert, dass besonders Frauen und Transgendermenschen Medien sind und werden. Sie nutzen den Ritualraum als Artikulationsraum, um Geschlechterrollen, etablierte Gender-Stereotype ebenso wie Vorstellungen von Macht, Autorität, und

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(nationaler) Wehrhaftigkeit performativ zu verhandeln. Ebenfalls bemerkenswert ist die sozio-ökonomische Zusammensetzung der Anhängerschaft, die eng verwoben ist mit dem von Frauen dominierten Kleinhandel und einer prosperierenden Mittelschicht (Leshkowich 2014, Endres 2015). Ökonomische Wachstumsraten scheinen mit den Wachstumsraten des religiösen Marktes in Vietnam und besonders mit der wachsenden Popularität der Mutter-Gottheiten-Religion seit den 1990er Jahren zu korrelieren. Ökonomische Dimension Die ökonomische Dimension verweist auf einen Zusammenhang von boomender Spiritualität / Religion zur marktwirtschaftlichen Realität / Rationalität. Zum einen ist für die Anhänger der wirtschaftliche Erfolg ein wichtiges Ziel und damit Begründung für das Ritual. Sie legen den Geistern ihre Bedürfnisse und Wünsche dar und hoffen auf spirituelle Unterstützung in all ihren ökonomischen Unternehmungen, die sich in materiellem Erfolg offenbaren soll und/oder sie danken für bereits erhaltene Zuwendung und Hilfe, die sich wiederum in sichtbarem (materiellem) Erfolg niedergeschlagen hat. Zum anderen ist die rituelle Praxis des lên đồng auf vielfältige Weise ökonomischen Logiken unterworfen. Gaben, Opfergaben, Räucherwerk, rituelle Gegenstände und Kostüme müssen besorgt und zur Verfügung gestellt werden, Ritualexperten, Assistenten und Musiker müssen bezahlt werden, die Tempel müssen gebaut, eingerichtet und gepflegt werden, außerdem müssen die Pilgerreisen der Anhänger (mit Bussen) zu den in ganz Vietnam verteilten Tempeln organisiert werden. Dies alles bedeutet in einer monetarisierten Marktwirtschaft, wie sie sich in Vietnam seit der Reformpolitik der 1980er Jahre entwickelt hat, dass die Ritualpraxis (ebenfalls) monetär strukturiert ist und ihre Teilnehmer den Logiken eines freien Marktes folgen. Mit anderen Worten, die Anhänger müssen über ausreichendes Kapital verfügen, um Rituale ausrichten zu können, und die Ritual-Experten konkurrieren Unternehmern ähnlich auf einem äußerst kompetitiven Markt für spirituelle Dienstleistungen; d.h. auch ihre finanziellen Ressourcen müssen reichlich vorhanden sein, um Anhänger anziehen und überzeugen zu können.4 4 Đạo Mẫu mit dem Trancetanz lên đông weist viele charakteristische Ähnlichkeiten mit anderen prosperity religions Asiens und Südostasiens auf (siehe u.a. Jackson 1999, Kendall 2009, Kitiarsa 1999, 2008, Morris 2000, Yang 2008).

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Politische Kulturgeschichte vietnamesischer Geistbesessenheit in Stichworten Und schließlich ließe sich der Aufschwung des lên đồng nicht ohne Betrachtung der politischen Dimension verstehen. In der Bemühung des postrevolutionären Regimes, eine neue sozialistische Gesellschaft aufzubauen, spielte die Religions- und Kultur-Politik eine maßgebliche Rolle. Bestimmte religiöse Überzeugungen und rituelle Praktiken wie lên đồng galten als abergläubisch und feudal und damit als Hindernis für die Entwicklung einer neuen Gesellschaft (xã hội mới) basierend auf neuen sozialistischen Personen. Verurteilt von französischen Autoritäten in der Kolonialära und verboten von der Kommunistischen Partei Vietnams in den späten 1950er Jahren, wurden die Rituale in den Untergrund gezwungen und durchliefen einen Wandlungs- und Modernisierungsprozess (Norton 2009). Anti-Aberglauben-Kampagne als staatliche Säkularisierung Die bereits erwähnte Verurteilung von lên đồng als Aberglaube war eine von mehreren Kampagnen der Kommunistischen Partei Vietnams auf dem Reformweg von »backward customs and habits« zur »cultural and ideological revolution« (Vietnam Government 1962 zitiert nach Norton 2009: 28). Die Anti-Aberglauben-Kampagne konnotierte mit ihrer zentralen Unterscheidung zwischen Aberglauben (mê tín dị đoan) und legitimem Religionsglauben (tín ngưỡng) mit Prestige und Legitimität, wohingegen mê tín dị đoan Stigma implizierte (Malarney 2002: 106). Auch wenn die Kampagne die Ritualpraxis lên đồng nicht völlig aus der Welt schaffen konnte – denn wie ältere Medien berichten, wurde sie dennoch an entlegenen Orten und spät in der Nacht kleinformatig im Geheimen abgehalten (hầu vụng) – so wurde sie doch stark geschwächt und reduziert. Tradition, Kulturerbe, Nation Trotz aller kolonialen und sozialistischen Bemühungen, Geistbesessenheit im Namen der Moderne hinwegzufegen, erfuhr sie seit den 1990er Jahren

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ein starkes Wiederaufleben und gewann zunehmend ein Maß an Legitimität, indem sie, wie oben schon erwähnt, mit der Konstruktion vietnamesischer kultureller Identität und dem Projekt des nation building verbunden wurde. In Zeiten, wo Globalisierung und rapider Wandel als Bedrohung kultureller Identität und sozialen Zusammenhaltes erschien, erfuhren Schritt für Schritt auch als abergläubisch erachtete kulturelle Traditionen eine Aufwertung, indem ›Aberglaube‹ (mê tín dị đoan) zur ›Volkskultur‹ (văn hóa dân gian) umgedeutet wurde. Nicht mehr antithetisch zur Moderne wird ›Tradition‹ (truyền thông) nun eine Ressource zur Stärkung nationaler Identität (bản sắc dân tộc). Städtische Intellektuelle, Folkloristen, Anthropologen und Wissenschaftler aus dem Umfeld des ›Institute of Folklore‹ (seit 2004 umbenannt in ›Institute for Cultural Studies‹) begannen unter der Federführung von Ngô Đức Thịnh die Gesänge und Tänze des sogenannten ›Kultes der Vier Paläste‹ zu dokumentieren (z. B. Ngô Đức Thịnh 1996, Nguyễn Thi Hiên 2002, Pha ̣m Quynh Phương 2009). Indem sie diese Praktiken ̣ in einen akademischen Diskussionszusammenhang über Schamanismus in anderen Gesellschaften stellten, vermochten sie die Mutter-Gottheiten-Religion – Đạo Mẫu – als indigene, uralte Volksreligion (Đạo) (Ngô Đức Thịnh 2004) und als ein ›lebendes Museum‹ vietnamesischer Kultur (bảo tàng sống của văn hóa Việt) und schließlich als Religion des Patriotismus und Nationalismus (lên đồng và tinh thần hòa hợp dân tộc) zu beschreiben. In der Alltagspraxis jedoch nennen weder Geistmedien noch Anhänger ihre Religionspraxis Ðạo Mẫu (Mutter-Gottheiten-Religion), sondern eben lên đông (›das Medium besteigen‹) oder hâu bong (›den Geistern oder Schatten dienen‹). Die Menschen verehren die Geister, weil sie von ihnen Segnungen erwarten (und sie haben eine klare Vorstellung von wirkmächtigen Segnungen), allerdings war den meisten – zumindest in den Zeiten meiner Forschung – nicht bewusst, dass diese Geister zu einem Pantheon einer Muttergottheiten-Religion gehörten. In der Tat wurde der Terminus Ðạo Mẫu – Mutter-Religion – von Ngô Đức Thịnh mit der Intention eingeführt und etabliert, den Kult der ›Vier Paläste‹ auf den Status einer ›Religion‹ (đạo) – ebenbürtig zu Buddhismus, Konfuzianismus und Taoismus (đạo Phật, đạo Nho, đạo Lã o) – zu heben und zu vergleichbarer Akzeptanz und Legitimität zu verhelfen (Ngô Đức Thịnh 1996, 2004, Pha ̣m Quynh Phương 2009, vgl. Endres 2011). Eingebettet in Diskurse zu kulturellem Nationalismus und (marxistischen) Evolutionstheorien indigener Glaubenssysteme, werden die weiblichen Gottheiten als Trägerinnen (›ursprünglicher‹) nationaler Traditionen und kultureller Integrität porträtiert – ein Prozess, den Philip 193

Taylor als mothering the nation bezeichnet (Taylor 2004: 50). Die romantische Würdigung ländlicher Traditionen als Überbleibsel (survival) indigener Kultur verleiht dem Aufruf der Folkloristen Gewicht, traditionelle Kultur zu bewahren und zu revitalisieren angesichts der Bedrohung von Globalisierung (Norton 2009: 62). Der engagierte Einsatz von Professor Ngô Đức Thịnh führte 2008 unter seiner Schirmherrschaft zur Gründung eines ›Zentrums zum Studium und Erhalt der vietnamesischen Glaubenskultur‹ – Trung tâm nghiên cứu và bảo tồn văn hóa tín ngưỡng Việt Nam – ebenso wie zu mehreren Vereinen zur Erhaltung der Kultur der Muttergottheitenreligion und der chầu văn-Musik. Außerdem etablierten sich in einigen Provinzen und Städten chầu vănund lên đồng-Vereine als eine Art Berufsverband für Geist-Medien und chầu văn-Musiker. Damit war der Weg geebnet, lên đồng-Aufführungen nicht nur im Namen nationaler Identität, sondern auch als Kulturerbe in folkloristischen Formaten auf die nationale und internationale Bühne zu bringen (Endres 2011: 171, Fjelstad und Nguyễn Thi Hiên 2011, Hoskins 2014). ̣ Der Weg vom ›abergläubischen lên đồng‹ zum ›nicht-abergläubischen, ja

Abb. 5-8 Lên đông in einem privaten Tempel (Hanoi 2007, Fotos: Lauser). 194

rationalen lên đồng‹ als Teil des Kulturerbes wurde über vielfältige Regierungs-Verordnungen geregelt und legitimiert. An dieser Stelle seien nur einige Schritte erwähnt, die allerdings Auslegungsspielräume ermöglichen. ―― Im September 2010 sollte die Verabschiedung des Erlasses 75/2010 /NĐ-CP das Verbot aller abergläubischen Formen des lên đồng regeln. Praktizierende eines abergläubischen lên đồng könnten mit einer Strafe von 1.000.000-3.000.000 VND belangt werden. ―― Eine Konkretisierung dessen, was nun abergläubisch und was nicht abergläubisch sei, klärt ein Rundschreiben No 15/2015/TT-BVHTTDL vom 22. Dezember 2015, wonach die Anrufung (Invokation) von Geistern in den lên đồng-Ritualen und anderen Praktiken wie Divination, Werfen von Divinationsstäben, Wahrsagerei und Prophezeiungen, Amulette, Exorzismen und Beschwörungen als abergläubische Praktiken zu ahnden seien. ―― Der Erlass 92/2012/NĐ-CP von 2012 regelt die Umsetzung der Verordnung zu Glauben und Religion, demzufolge die lên đồng-Ritualpraxis schützens- und unterstützungswert sei. In gewisser Weise wird damit das eben genannte Rundschreiben insofern neutralisiert, da in der Tat im Alltag der lên

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đồng-Praxis nicht nur ein schöner Tanz getanzt wird, sondern (auch) Geister

adressiert werden. ―― Das Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus setze die chầu văn-Musik (Decision No. 5079/QĐ-BVHTTDL, 27.12.2012) und das Phủ Dầy-Festival (Decision No. 3084/QĐ-BVHTTDL, 09.09.2013) auf die nationale Liste des ›Immateriellen Kulturerbes‹. Zwischen religion und heritage können nun zwei Wege zur offiziellen staatlichen Anerkennung von lên đồng führen, allerdings mittels diametral entgegen gesetzter Vorstellungen und Strategien. Während eine ›säkulare‹ Strategie über die Anerkennung als Kulturerbe läuft, suchen die anderen die offizielle Anerkennung als Religion, was im vietnamesischen kommunistischen Kontext notwendigerweise eine uniformalisierende Institutionalisierung und Hierarchisierung von Liturgie und Organisation nach dem Modell einer ›Weltreligion‹ zur Folge haben würde (Salemink 2015). Der Spannungsbogen zwischen ritueller Performanz (und Religionsfreiheit) und kunstvollem Spektakel (und heritagization) bleibt dynamisch, wobei der Staat 196

Abb. 9-10 Lên đông in einem privaten Tempel (Hanoi 2007, Fotos: Lauser). zwar als Manager und Schirmherr des Rituals auftritt, die religiösen Inhalte jedoch weniger bewahrt denn bereinigt (Salemink 2017). Inwieweit eine religiöse, folkloristische oder künstlerische Aufführung als spirituell oder säkular charakterisiert werden mag, hängt also vom politischen Kontext, von der Intention der Aufführenden, den ›Aufführungsregeln‹ und dem Wissen und Hintergrund des Adressatenkreises ab (Hagedorn 2001, Norton 2009: 212). Folgende drei lên đông-Aufführungsbeispiele mögen illustrative Unterschiede beschreiben. Rituelle Wirksamkeit und theatralische Wirkung Wirksamkeit und Unterhaltung ebenso wie Authentizität und Tradition sind nicht leicht zu bestimmende Begriffe, werden aber bei der Bewertung, ob eine lên đồng-Aufführung ›gut‹ oder ›schlecht‹ war, leidenschaftlich verhandelt. Turner (1987) und Schechner (2003, 1974) argumentieren für eine detaillierte prozess- und akteurfokussierte Kontextualisierung, in der vor 197

allem die drei Dimensionen von, erstens, Wirksamkeit und Unterhaltung, führenden zu beleuchten seien, zweitens, der Rolle des Adressatenkreises und, drittens, der Rolle der Aufführenden zu beleuchten seien: • • •

• •

Wie ist das Zusammenspiel von rituellen Verhaltensregeln und folkloristischer Imitation? Wie verhält es sich mit der Intention der Aufführenden und der Interpretation der Zuschauenden? Nehmen die Zuschauenden teil oder schauen sie zu? Sind sie aktiv oder passiv? Ist Kritik erlaubt oder unerwünscht? Glauben sie oder schauen sie (nur)? Wie wird das Verhältnis zwischen Zuschauenden und Darstellenden umgesetzt, dargestellt, ausgehandelt? Tanzen die Darstellenden in Trance oder tun sie so, als ob sie in Trance tanzen? Ritual als Aufführung des Göttlichen

Lên đông-Rituale sind vielstimmig, symphonisch und sprechen alle Sinne

an: Prächtig geschmückte Tempel, intensive Gerüche von Räucherwerk und Blumen, prunkvolle Roben und ausdrucksstarke, die heldenhaften Taten der Götter lobpreisende Musik formen eine komplexe Choreographie von Tanz, Musik, Text und Gabentausch (lộc) und machen die Virtuosität eines Rituals aus. Gute, effektive und überzeugende Rituale werden über ihre Wahrhaftigkeit (thật tâm), Aufrichtigkeit (thật đông) und ganz besonders – wie bereits erwähnt – über ihre Schönheit bewertet: »Du musst schön für die Geister aufführen (hầu đẹp), andernfalls wirst du nie göttliche Gunst (lộc) erhalten und die Geister werden dir keine Aufmerksamkeit schenken (thánh không để tâm)«. Lên đông-Medien betonen, dass nur ein kontrolliertes Medium (tỉnh or tỉnh táo) von Geistern besetzt wird (đông tỉnh la đông thanh), wohingegen unkontrollierte Besessenheit ein Zeichen von gespenstischer Obsession sei (đông mê la đông vong). Während eines lên đông nehmen die Medien ihre Umgebung wahr, auch wenn sie nicht all ihre Handlungen kontrollieren können, da die Geister von ihren Körpern Besitz ergriffen hätten. Die Gegenwart der Geister beschreiben die Medien als physisch und emotional 198

Abb. 11 Verteilung gesegneter (Geld-)Gaben (Hanoi 2007, Foto: Lauser) wahrnehmbar, Attribute wie ›schwer‹, ›heiß‹ (nong), ›traurig‹, ›aus dem Gleichgewicht‹ (mất cân bằng) werden genannt (Norton 2009, Endres 2011). Generell wird der Bewusstseinszustand von den Medien als luzid und wach (tỉnh, đông tỉnh) umschrieben, ja es ist von einer dialektischen Beziehung zwischen Herz und spirituellen Kräften die Rede (siehe auch Gammeltoft 1999: 211). Medien haben ein Herz für die Geister (có tâm), sie widmen sich mit ganzem Herzen (nhât tâm) der Verehrung und im Gegenzug beleben die Geister die Herzen (chứng tâm) der Anhänger (Norton 2009: 77). Und schließlich beherrscht ein erfahrenes Meister-Medium die Kunst, gesegnete Gaben zu verteilen (nghê ̣ thuật phat lộc) (Endres 2011: 117). Ritual als Theater – Ritual als Folklore Während Theatralität als notwendige Voraussetzung für die Wirksamkeit eines Rituals gesehen werden muss, gilt übernatürliche Wirksamkeit nicht 199

Abb. 12: Folkloristische Bühnenaufführung (Women’s Museum 2011), Foto: Lauser als Kriterium für eine gute Theaterproduktion (Köpping 2004). Mit Richard Schechner lässt sich argumentieren, dass die Frage, ob eine bestimmte Aufführung ›Theater‹ oder ›Ritual‹ genannt wird, weitestgehend davon abhängt, »where it is performed, by whom, and under what circumstances« (2003: 130). In der Tat sieht Schechner eine grundsätzliche Polarität nicht zwischen Ritual und Theater, sondern vielmehr zwischen Wirksamkeit (efficacy) und Unterhaltung (entertainment). Mit Bezug auf Turner misst er die Wirksamkeit eines Rituals an seiner Fähigkeit Verwandlungen herbeizuführen, wohingegen eine Theater-Aufführung ›nur‹ unterhalten soll – auch wenn er zugleich zugibt, dass keine Aufführung ›nur‹ reine Unterhaltung oder reine Effektivität transportiert (siehe auch Beattie 1977 and Bourguignon 1976: 52).

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Abb. 13: Body Art (Hanoi 2009, Foto: Bùi Quang Thắng). Mag eine Unterscheidung zwischen Ritual und Theater für einen Vergleich der verschiedenen Aufführungen hilfreich sein, so ist die Bezeichnung von lên đồng als ein Fest(ival) (lễ hội) selbst ein Ausdruck eines nationalen Diskurses über ›nationale Kultur‹ und ›Tradition‹. Die signifikantesten Unterschiede zwischen theatralischer Bühnenaufführung und lên đồng-Ritual sind wohl am Kontext und der ›Choreographie‹ festzumachen. Während die rituellen Handlungen der Medien sich in Richtung des Tempelaltars orientieren, wird dieser auf einer cheo (Theater-)Bühne nur symbolisch angedeutet oder fehlt völlig und die Mediendarsteller wenden sich mit ihren Aufführungen direkt an das Publikum. Auch das Wechselspiel zwischen Medien und Anhängern unterscheidet sich sehr deutlich zwischen lên đồng und Bühnenaufführung. Während im lên đồng die Teilnehmenden durch Dialoge, Interaktionen und Gabentausch integriert werden, wird das Theaterpublikum ziemlich passiv gehalten und nicht zum verbalen oder materiellen Austausch angeregt. Die Darsteller selbst übernehmen die interaktiven Momente, indem beispielsweise den Assistenten eine laute und prominente Rolle (als Anhänger oder Animateur) zugeschrieben wird. In einer (›echten‹) lên

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Abb. 14: Lên đông für Touristen (Hanoi 2013, Foto: Lauser) đồng-Zeremonie helfen die Assistenten dem Medium so diskret und unauffäl-

lig wie möglich bei der Ausübung der rituellen Aufführung und assistieren zurückhaltend bei der Interaktion zwischen Medium und Anhängern, wohingegen die Rolle der Assistenten bei der Theateraufführung auf übertriebene Gesten und Handlungen angelegt ist. Um der Aufführung für das Publikum mehr ›Intensität‹ zu verleihen, ist ihr Tanz besonders exaltiert, ebenso wie sie ›Stimmung‹ durch lautes Rufen und Klatschen evozieren (sollen). Kunst-Spektakel und Liminalität – ›Impromtu of Hầu Đồng‹ Lên đồng-Aufführungen vom Ritual bis zum Spektakel zielen auf verschiedene, ja gegensätzliche, Funktionen ab. Entsprechend bleibt die Frage, was eine gute, ›authentische‹, wirkungsvolle oder unterhaltende Aufführung ist

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– weiterhin Gegenstand heftiger Debatten unter den lên đông-Praktizierenden selbst (Endres 2011, Fjelstadt und Hiên 2011) wie auch zwischen den verschiedenen politischen, akademischen und künstlerischen Akteuren, die in Anlehnung an Knauft‘s Konzept eines »articulatory space of alternative modernity« (2002) um einen ›Artikulationsraum spiritueller Moderne‹ ringen. Mein drittes Beispiel eines popular-ritual-turned-modern-arts-performance spectacle ist in einem Dokumentarfilm von Bùi Quang Thắng festgehalten – ›Impromtu of Hầu Đồng‹5 und führte zu einer leidenschaftlichen – auch in den öffentlichen Medien ausgetragenen – Debatte. Die Neu-Interpretation der Künstler, die zu Popmusik mit ihrem bemalten nackten Körper tanzten und über ihre Bewegungen eher die Assoziation an eine ›wilde‹ Transgender-Disco nahelegten, stand in geradezu polemischem Widerspruch zu der parallel laufenden offiziellen Agenda, lên đông mit vereinten Kräften auf die ›UNESCO Representative List of Intangible Cultural Heritage of Humanity‹ zu bringen. Schlussbemerkung Klaus-Peter Köpping (2004) und andere sprechen häufig von Transgressionen, die im Rahmen von Ritualen vollzogen werden können. Und Mark Münzel (1998: 394) betont, dass Spielfreude und gleichzeitige Ernsthaftigkeit keineswegs Gegensätze sind. Transgressionen müssen auch Ethnologinnen leisten, die sich mit lên đồng befassen. Überschritten werden müssen die abgezirkelten Begrifflichkeiten von Theater und Ritual, von Spiel, Ernst und Unterhaltung und von Religion und Kultur. All diese Grenzziehungen sind unverzichtbar für eine Ethnologie der Performance, und gleichzeitig doch auch sehr hinderlich. Wie bringen wir die Kategorien zum Tanzen? Mein Streifzug durch die Artikulationsräume des lên đồng auf dem Weg from national shame to national fame mag davon eine Idee gegeben haben.

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Siehe http://www.youtube.com/watch?v=UmI3UZrxGGQ (29.09.2017).

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Godula Kosack

Die Methode des Palavers oder: Wie ich zur Ethnologie fand Mein Einstieg in die Ethnologie war die Feldforschung.1 Ich habe das Pferd am Schwanz aufgezäumt. Statt – wie im Lehrbuch vorgesehen – die Feldforschung als die Krönung der Ethnologie an ein gründliches Theoriestudium anzuschließen und gut ausgearbeitete Thesen zu untersuchen, zu belegen oder auch zu falsifizieren, fuhr ich ›ins Feld‹ und forschte. Das Ergebnis wurde meine Habilitationsschrift ›Die Mafa im Spiegel ihrer oralen Literatur – eine Monographie aus der Sicht der Frauen‹ (Kosack 2001, siehe 1997a, 1997b), die Mark Münzel als solche akzeptierte. So konnte ich im Jahre 1997 vor über zwanzig Jahren das ordnungsgemäße Habilitationsverfahren an der Philipps-Universität Marburg erfolgreich beenden. Dafür bin ich Mark Münzel dankbar, und deshalb schreibe ich gern einen Beitrag für eine Festschrift, die seine akademischen Leistungen würdigt. Mark Münzels Wertschätzung meiner Arbeit war in der akademischen Welt der 1990er Jahre keine Selbstverständlichkeit. Da ich in Leipzig wohnte und auch Lehraufträge am dortigen Institut für Ethnologie innehatte, lag es nahe, eine Habilitation an der Universität Leipzig anzustreben. Auf einen guten Rat hin zog ich dort allerdings meinen Antrag auf ein Habilitationsverfahren zurück. Denn die Ratsmitglieder der für das Verfahren zuständigen Fakultät für Geschichte, Kunst und Orientwissenschaften hatten mein Vorhaben analog zu dem bewertet, was Hans Fischer im Jahre 1985 in seiner Einführung in Probleme und Methoden der Feldforschung geschrieben hatte: »Feldforschung … galt lange eher als Kunst, die man nicht lehren kann und nicht zu lernen braucht, und weniger als Methode. Der Ruch des Abenteuerlichen umgab sie« (1985: 7). Meine Voraussetzung für die Habilitation war eine Promotion in Soziologie und zwei Jahrzehnte Lehre an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Dann war ich den ›Königsweg‹ der Ethnologie gegangen, ohne das, was Fischer für notwendig 1

Teile dieses Textes erschienen bereits in Kosack 2004.

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und gegeben erachtete: »Auf die Entscheidung für ein Forschungsvorhaben folgt eine lange Zeit sehr intensiver Arbeit. Und lange Zeit heißt gewöhnlich nicht nur ein Jahr (bei bereits vorhandenen Grundlagenkenntnissen)« (1985: 8). Den Anforderungen der Universität Leipzig entsprechend fasste ich meine Forschungsergebnisse in Thesen zusammen. Auf der Grundlage dieser Thesen wurde – ohne Berücksichtigung meiner Methode, meiner theoretischen Verortung oder meiner ethnographischen Datengewinnung– meine wissenschaftliche Leistung in Frage gestellt. In Marburg fand ich dann eine akademische Heimat. Was wusste ich im Vorfeld über die Mafa? Im Jahre 1944 hatte der französische Kolonialbeamte Georges Lavergne die Mafa-Gesellschaft beschrieben und lieferte damit einen ersten Eindruck über das Land, die sozialen Strukturen und die Bräuche. Der französische Missionar Jean Boisseau veröffentlichte zusammen mit Monique Soula, einer Mafa-Frau, im Jahr 1974 eine hektographierte Arbeit mit dem vielversprechenden Titel ›La femme dans sa communauté territoriale: Clef du cosmos Mafa‹ (1974). Allerdings ist darin kaum etwas über die Lebenswelt der Frauen zu finden, sondern dort werden vielmehr die Struktur und Funktionen der aus einer Anzahl von aneinander geketteten Rundhäusern bestehenden Gehöfte erläutert. Vierzig Jahre nach Lavergne, nämlich 1984, veröffentlichte Paul Hinderling (1984) seine lediglich etwas mehr als 100 Seiten umfassende Monographie über die Mafa. Hinderling galt nach drei kürzeren Feldforschungsreisen nach Nordkamerun als der einzige deutschsprachige Mafa-Kenner. Seine Monographie gab ein paar Einblicke in die sozialen und familiären Strukturen sowie über die kosmischen Vorstellungen der Mafa. Der Schweizer Schriftsteller René Gardi hatte mehrere Reisebeschreibungen über Nordkamerun verfasst, in die immer wieder ethnographische Daten einflossen, allerdings mehr impressionistisch als systematisch. Hinderling hielt die Mafa damit Anfang der 1980er Jahre für ausreichend erforscht und konnte sich lediglich vorstellen, dass die Stellung der Frauen noch weiter untersucht werden könnte. Das sollte mein Anliegen werden. Mir war also bekannt, dass die Mafa mit (heute) schätzungsweise 500.000 Personen die größte ethnische Gruppe im nördlichen Mandara-Gebirge sind, dass die Gesellschaft streng patriarchalisch organisiert ist, dass die 210

Erde und alles, was aus ihr hervorgeht, den Männern gehört – auch die Kinder, die im Scheidungsfall oder wenn eine Witwe einen anderen Mann heiratet – bei dem Vater oder bei dessen Verwandten zurück bleiben müssen, dass die Töchter in der Regel im Alter von 15 Jahren von ihren Vätern verheiratet werden, wofür der Bräutigam einen Brautpreis von Ziegen oder Geld aufzubringen hat. Diese Bruchstücke wollte ich zu einem Bild ergänzen. Was war mein Anliegen? Ich bereiste das Mafa-Land in Nordkamerun anfangs als mitreisende Ehefrau. Mein damaliger Mann sammelte Material für seine Magisterarbeit in Ethnologie (Müller-Kosack 1987). Als ehemaliger Metallarbeiter interessierte er sich für die Mafa, weil dort das Eisenhandwerk – Verhüttung und Schmiede – mit rituellen Funktionen wie die Totenbestattung und Orakelsprechen einhergeht. Unsere erste Reise galt der Orientierung. Könnten wir uns einen längeren Feldaufenthalt bei den Mafa vorstellen? Wie sollten wir dabei vorgehen? Wir begannen unsere erste Expedition im September 1981. Sie sollte vier Monate dauern. Unsere Jüngste war damals drei Monate alt, die anderen beiden Kinder wurden während der Reise drei und fünf Jahre alt. Ein Forschungsfreisemester, das mir als Professorin an der Fachhochschule zustand, und ein Bankkredit boten uns die zeitlichen und finanziellen Möglichkeiten. Mit einem Lada-Niva wagten wir die Wüstendurchquerung von Tunis aus über Algerien (Gardaia, El Golea, Tamanrasset, In Guezzam), weiter nach Niger (Agadez, Niamey) und schließlich über den Norden Nigerias (Kano, Maiduguri) bei Banki nach Kamerun. Das war gewiss etwas abenteuerlich, aber ohne eine uns fördernde Institution war das die einzige Möglichkeit. Die Rücksitze des Lada hatten wir herausgenommen und eine Spielfläche für die Kinder eingerichtet. Unser sämtliches Gepäck (drei große Blechkisten voll mit Kleidung, Haushalt etc. und der Zeltausrüstung sowie den Sandblechen oben drauf) transportierten wir auf einem Dachgepäckträger Marke Eigenbau. Wir verbrachten sehr viel Zeit unterwegs, auch später noch in Kamerun. Einen Monat hatten wir uns in einem Haus der Basler Mission in Soulede eingemietet, einen weiteren bei der katholischen Mission in Mokolo. Von dort aus unternahmen wir Orientierungsfahrten. 211

Bei dieser ersten Fahrt konnte ich keine wissenschaftlichen Ergebnisse liefern. Ich beobachtete viel, hatte aber mit dem ›Haushalt‹ für eine fünfköpfige Familie und der Kinderversorgung – die Jüngste konnte ich durchweg stillen, was sie im Unterschied zu den anderen Kindern vor Durchfallerkrankungen schützte – genügend andere Aufgaben. Ich kam nicht einmal dazu, Tagebuch zu schreiben. Unsere zweite Expedition im Jahre 1985 konnten wir schon gezielter angehen. Wir wurden von dem langjährig ortsansässigen Missionarsehepaar der Basler Mission, Gertrud und Hans Eichenberger, unterstützt, die uns den Kontakt zu Jean Gonondo herstellten, damals noch Schuldirektor der Elementarschule Guzda, seit 1988 Abgeordneter im Nationalparlament. Im Bergdorf Guzda, am Fuße des Mandara-Gebirges, schlugen wir unsere Zelte auf. Heute habe ich dort ein Domizil. Wir hatten mehr oder weniger wieder auf demselben Weg die Wüste durchquert, dieses Mal in einem Toyota Hiace, der uns mehr Platz bot. In zwei Zelten verwahrten wir unsere Ausrüstung und in einem Dachzelt auf dem Auto schliefen wir. Uns tagsüber in den Zelten aufzuhalten war gegen Ende der Trockenzeit wegen der Hitze unmöglich. Gekocht wurde unter einem zwei Quadratmeter kleinen Sonnendach, bis nach ein paar Wochen endlich ein Hangar aus Holzstangen mit einem Hirsestängeldach errichtet wurde. Unser Leben war ganz und gar öffentlich. Alle Welt konnte jede unserer Bewegungen verfolgen, ja, mir quasi in den Kochtopf gucken. An ZuschauerInnen – vor allem Kindern – mangelte es nie. Nachdem wir uns nun an einem Platz eingerichtet und mit jeweils einem Sack Weizenmehl, Reis, Nudeln, Zucker und Salz die Grundlebensmittel vorrätig hatten – auf Obst und Gemüse mussten wir fast gänzlich verzichten – blieb es nicht aus, dass auch in mir der Forscherinnendrang erwachte. Mein Mann hatte ein Konzept ausgearbeitet, um die Siedlungs- und Sozialstruktur der Mafa zu untersuchen. Ich verbrachte den Vormittag damit, die Kinder zu unterrichten und zu kochen, nachmittags stand mir der Sinn danach, das soziale Leben der Mafa zu erkunden und mit Frauen Gespräche zu führen. In Jeanne, der Ehefrau unseres Gewährsmannes und der einzigen Französisch sprechenden Frau, hatte ich eine wertvolle Übersetzerin nicht nur der Mafa-Sprache, sondern auch der Bräuche und des Anstands. Einer anderen Kultur entstammend und ohne Kenntnis der Gepflogenheiten meiner gastgebenden Gesellschaft suchte ich anfänglich nach Gemeinsamkeiten zwischen mir und den mir völlig unbekannten Menschen. 212

Der Kontakt zu anderen Müttern stellte sich am spontansten her. Die jüngeren Frauen mit Säuglingen auf dem Rücken zeigten mir, als ich selber noch ein Baby hatte, wie ich das Tuch binden musste, um mit dem Kind auf dem Rücken die Arme frei bewegen zu können. Die älteren Frauen sahen in mir die Tochter, die ihren Beistand suchte. Mein erstes Anliegen an die Frauen war, mich unter ihnen sicher fühlen zu können. Mit drei kleinen Kindern wollte ich keinen Argwohn erdulden müssen. Die Mafa-Frauen gaben mir von Anfang an das Gefühl des Willkommenseins. Sie teilten mir gerne etwas mit, sie teilten gern mit mir. Immer mehr Frauen luden mich zu Ereignissen ihres Lebens ein. Ich war neugierig. Ich wollte möglichst tief in ihr häusliches Leben hineinschauen. Ich wollte die Frauen kennenlernen, die ihre Kinder auf Steinen gebären und freundschaftlich mit der anderen Ehefrau ihres Mannes zusammenleben. Ihre Erwartungen an mich drückten die Frauen aus, indem sie ihre kranken Kinder zu mir brachten und um Medizin baten. Im Laufe meiner zahlreichen Feldaufenthalte – insgesamt fünfzehn – nahm ich 248 Lebensgeschichten auf. Mit einigen Frauen sprach ich nur ein einziges Mal, andere berichten mir bei jedem neuen Besuch über ihr Ergehen und Befinden. Als Soziologin war ich mit europäischen Um- und Abfragetechniken vertraut, die sich aber bei den Mafa-Frauen schnell als wertlos erwiesen. Ich hatte einen Interviewleitfaden entwickelt. Aber schon auf die Frage »Wie alt sind Sie?« erhielt ich die mit den über dem Kopf zusammengeschlagenen Händen unterstützte Antwort: »Wie kann ich das noch zählen?« Eine andere Frau, deren jüngster Sohn bereits Großvater war, gab mir ihr Alter mit vierzig Jahren an. Ich warf meinen Fragenkatalog in den Papierkorb. Fortan begann ich meine Interviews mit irgendeiner Frage, so wie sie mir gerade einfiel, zum Beispiel nach den Rechten oder Pflichten von Frauen und Männern. Dann konnte ich die Frage anschließen: »Und verhältst du dich oder dein Mann danach?« So erfuhr ich erstmals über Divergenzen zwischen dem Anspruch und der Wirklichkeit des Mafa-›Sittenkodexes‹. Einmal fiel mir ein: »Erzähl mir eine Geschichte!« Ndukoyè überraschte mich mit einem eindrucksvollen Märchen, das das erste meiner Sammlung von insgesamt 157 Geschichten (Märchen, Fabeln, ätiologischen Erzählungen) werden sollte. Die meisten Geschichten wurden entweder als Ganzes oder in Auszügen in meiner Habilitationsschrift präsentiert (Kosack 2001).

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Der Quell der Geschichten Die Geschichten wurden fortan mein Interviewleitfaden: Ich ließ mich durch die Narration der Frauen leiten, statt selbst Fragen vorzugeben. Ich nahm die orale Literatur auf Tonkassetten auf und ließ sie von einem schriftkundigen Mafa transkribieren und interlinear übersetzen. Daraufhin stellte ich den ErzählerInnen – die meisten von ihnen waren Frauen – Verständnisfragen. Ich fragte nach allem, was mir einer Erläuterung bedurfte. So erhielt ich Auskunft über das Denken und über den Alltag der Mafa. Die Mafa halten ihre Geschichten für Geschehnisse, die sich so oder so ähnlich in der Vergangenheit ereignet haben. Sie behandeln alle Bereiche des Lebens: Geburt, Kindheit, Brautzeit, Ehe, Mutterschaft, Arbeit, menschliche Beziehungen, Glaubensvorstellungen, Altern, Sterben, Jenseits. In den Geschichten ist der gesamte soziale Kosmos enthalten. Auch ihre eigenen Erlebnisse kleiden die Frauen in die Form von Geschichten: »Folgendes hat sich ereignet …« So wird das Kompendium der oralen Literatur stets erweitert. Dennoch gibt es auch alt überlieferte Märchen und Trickster-Geschichten, über deren ›richtige‹ Version sich Zuhörende und Erzählende bisweilen streiten. Auch die ›Zaubermärchen‹ werden für wahr gehalten. Das Magische, das für das westliche rationale Denken als Fantasie oder Aberglaube gilt, wirkt bei den Mafa real. Der Alltagserfahrung der Mafa entspricht es, dass Menschen willentlich oder auch unfreiwillig auf das Befinden anderer Menschen oder auch der Tiere Einfluss nehmen können, indem sie deren Vitalkraft verzehren, Fruchtbarkeit und Sterilität verursachen und Gedeihen oder Verderb der Feldfrüchte bewirken können. Wenn es möglich ist, dass der Wille eines Lebenden den Zustand eines anderen Menschen verändert – die danach Ausschauenden finden tausendfach Bestätigung im Alltag –, dann gilt dies erst recht für den Willen eines Verstorbenen und all jener Geister, die durch Opfergaben ernährt werden müssen und deren wirkendes Wesen dadurch günstig gestimmt werden muss. Die Märchen der Mafa sind weniger symbolhaltig und unmittelbarer in ihrer Aussage als die europäischen. Die Mafa benutzen kaum Bilder als Schlüssel zur Beschaffenheit ihrer Seele, sondern sie drücken ihre Empfindungen unmittelbar aus. Es ist weder schändlich, wenn ein Mann in großer Not weint, noch wenn eine Frau ihre Kränkungen öffentlich beklagt. Die anderen können an mancher Gemütsverfassung teilnehmen, die in Europa 214

aus Scham verborgen gehalten wird. Seelenzustände müssen nicht erst verschlüsselt werden, um mitteilbar zu werden. Die Geschichten handeln von Konfliktsituationen, in denen die Helden oder Antihelden von den jeweils geltenden gesellschaftlichen Normen abweichen. Die thematisierten Lösungsmöglichkeiten geben nicht nur Aufschluss über die herrschende Moral, sondern auch über die Toleranz gegenüber abweichendem Verhalten. Die Trickster-Geschichten – sie machen etwa ein Drittel der Oralliteratur der Mafa aus – können als Lehrstücke verstanden werden. Sie gelten bisweilen als Warnung gegen die Ränkeschmiede anderer. Oder aber jemand stimmt eine Geschichte an, um den Anwesenden Aufschluss über das Verhalten einer Person aus ihrer Mitte zu geben. Gegen diese indirekte Kritik können sich die Betroffenen nicht verteidigen, ohne ihre Betroffenheit zu offenbaren. Andererseits befremdet der Ausgang der Geschichten europäische Zuhörende bisweilen, fehlt doch der ›moralische Zeigefinger‹ in dem Sinn, dass, wie in unseren Volksmärchen, stets das Böse unterliegt und das Gute obsiegt. Die Geschichten sind das Leben, und das spricht für sich selber. Moralisieren ist nicht nötig, denn was sich von selbst versteht, bedarf keiner Erwähnung. Das Geschichtenerzählen gilt vor allem der Unterhaltung. Der einzelne Vortrag wird an der künstlerischen Darbietung bemessen, wie lebendig die Schilderung, wie geschickt die Lautmalerei ist. Die Geschichten handeln von Menschen wie die, die erzählen und die zuhören. Es gibt keine festen Erzählerinnen oder Erzähler. Es gibt nur Frauen und Männer, die schöner erzählen können oder auch ein reicheres Repertoire haben als andere. Wenn sich eine Gruppe Frauen, Kinder und Männer nach dem Abendessen um das wärmende und Licht spendende Feuer setzt, dann erzählt mal die, mal der. Früher sollen mehr Männer Geschichten erzählt und darüber ihr Wissen vermittelt haben als Frauen. Doch es heißt, heute seien sie zu viel unterwegs. Frauen finden eher die Muße, sich gegenseitig und ihre Kinder mit Geschichten zu erfreuen. Die Geschichten enthüllen ein reiches Spektrum an Typen menschlichen Verhaltens. Die Kultur stellt den konkreten Rahmen, die Möglichkeiten und die Grenzen, innerhalb derer sich ein einzelner Mensch entfalten oder beschränken kann. Menschen werden dargestellt: schuldig und unschuldig, naiv und differenziert, wild und sanft, natürlich und entstellt, wie es sie überall gibt.

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Die Geschichten wurden mir zu einem Quell, aus dem ich das Denken und Fühlen der Mafa erschloss. Sie gestatteten mir einen unerwarteten Einblick in das Alltagsgeschehen der Mafa. Die Konflikte spielen sich in ihrem Umfeld mittels ihrer Gewohnheiten und Gegenstände ab. Die Szenerie, in der sich die AkteurInnen bewegen, die Arbeit, die sie verrichten, die Früchte, die sie essen, die Anschuldigungen, die sie gegeneinander vorbringen, ihre gegenseitigen Verlockungen und Verstrickungen, die Vegetation, die sie umgibt, die Tiere, die sie begleiten oder die sie töten, die Lüste und Ängste, die sie aufeinander und voreinander haben, die Musen, die sie pflegen, die Geister, denen sie opfern, das alles zusammen bildet den Hintergrund der Geschichten, den ansatzweise aufzurollen mein Anliegen war. Die Bilder, in die sie ihre Geschichten kleiden, die Regungen, die sie offenlegen, die darauf erfolgenden Handlungen legten ein Assoziationsnetz in mir an, das gewisse Handlungen der AkteurInnen oder Reaktionen der Zuhörenden voraussagbar machte, sofern ich richtig verstanden hatte. Ich fand in den Geschichten einen Leitfaden, der mir sinnvolle Fragen ermöglichte. Meine Methode war: erst zuhören, dann fragen. Die Erzählenden wurden meine InformantInnen. Die Themen der Tiefeninterviews ergaben sich aus den Märchen: Heirat, Bestattung, Sklaverei, religiöse Vorstellungen spielen sämtlich in den Geschichten eine Rolle. Eine Erkundigung, die ich immer wieder einzog, war die nach dem Bezug einer Geschichte zu den heute lebenden Menschen. Die Deutung der auf die Sinnzusammenhänge der Geschichten hin befragten Erzählenden sowie die von ihnen damit assoziierten Beispiele aus dem Alltagsleben sind eine weitere von mir erschlossene Quelle. Sie zeigen das für die Kultur der Mafa Spezifische dieser Geschichten, auch wo die einzelnen Motive als allgemein ›afrikanisch‹ oder gar als ›universell‹ erkennbar sind. Die soziale Wirklichkeit, die sich vor mir auftat, war in erster Linie die der Frauen, mit denen zusammen ich viel mehr Zeit verbrachte als mit Männern. Dennoch spielten die Männer in allen Unterhaltungen eine bedeutende Rolle. Haben die frühen Ethnographen ihre männlichen Informanten ein Bild vom Leben der Frauen entwerfen lassen, so werden in meiner Darstellung die Männer hauptsächlich durch die Augen der Frauen gezeichnet; jedoch nicht ausschließlich, denn ich habe auch Männer Geschichten erzählen und deuten lassen.

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Die Entstehung des Textes Meinen Text gestaltete ich auf die folgende Weise: Aus dem Material – den Geschichten, den Deutungen und Beispielen aus dem täglichen Leben, den Lebensgeschichten, den Tiefeninterviews und meinen Beobachtungen – formte ich eine Gestalt: Ich begegnete einer konkreten Person und fragte sie nach ihrer Herkunft und nach ihrem Fortgehen. Sie ließ vor meinen Augen ein Bild entstehen, das ich für eine Reflexion dessen halte, was mir diese Person darreichte, ein Spiegelbild also. Ich sah eine zweite Person. Das Bild, das sie von sich entwarf, deckte sich an Stellen mit dem vorhergehenden, an anderen Stellen bot es Ergänzungen an. Sah ich eine einzelne Person vor mir, dann konnte ich nicht auseinanderhalten, welche ihrer Verhaltensweisen aus ihrem ganz persönlichen menschlichen Fundus kommt und welche aus dem gemeinsamen Topf der Verhaltensvorschriften geschöpft wurde. Erst nach der Projektion einer adäquaten Anzahl von Gesichtern übereinander erhielt ich die kollektiven Züge, die eine Kultur ausmachen. So zeichnete sich im Laufe der Jahre in meinem Inneren ein Bild des Lebens der Mafa-Frauen. Es ist in seiner Unvollständigkeit mein geistiges Geschöpf, die Konstruktion einer sozialen Wirklichkeit, Gegenstand meiner Vorstellung auf dem Hintergrund meines Erlebens. Als ethnologische Feldforscherin (ich spreche von mir als Frau – sehe hier aber keinen geschlechtsspezifischen Unterschied) bin ich stets in zwischenmenschliche Bezüge eingespannt. Die Frauen und auch die Männer, die mich an ihren Ereignissen, wie Geburt, Kulthandlungen, Begräbnis, Kochen, Feldarbeit, Feste, Zeremonien, Schmieden oder Töpfern, teilhaben ließen, luden nicht die Wissenschaftlerin ein, sondern die Person Godula, die sie im Laufe der Jahre kennenlernten und zu der sie eine Beziehung entwickelten so wie ich meinerseits zu ihnen. Mein Zugang zu den Frauen ergab sich aus meinem eigenen Interesse heraus. Mein Wissensdurst, meine Neugier waren mir Wegweiser. Ich wusste, dass die Ehen polygyn sind, dass die Scheidungsrate hoch, die Kindersterblichkeit groß ist. Ich wollte wissen, wie die Frauen mit all dem emotional umgehen. Ich fragte nach ihrer Befindlichkeit. Die Systematik ergab sich daraus, wie mir die Frauen begegneten und wie sie sich mir öffneten. Anfangs ging ich in die Felder oder zu Gehöften, um Frauen, die meine Assistentinnen für aufgeschlossen hielten, Fragen zu stellen. Ich bat um Teilnahme an Kulthandlungen und darum, bei Geburten anwesend sein zu 217

dürfen. Zwischen mir und einigen Frauen ergaben sich emotionale Beziehungen, die einen ersten Höhepunkt erfuhren, als Pehlème, die in meiner Interviewliste die Nummer 131 erhielt, mich beim Abschied meines ersten viermonatigen Aufenthaltes in Guzda als ihre Tochter adoptierte. Bei meinem nächsten Besuch legte sie Wert darauf, dass ich die Rolle einer Ehefrau kennenlernte. Ich musste ein paar symbolische Handgriffe auf dem Hirsemahltisch und mit dem Rührstock ausführen und die fertige Mahlzeit meinem Mann servieren. Sie zeigte mir die Herstellung von Körben und den Lendenschurzen aus Bohnenstroh, die heute nicht mehr getragen und deshalb sonst auch nicht mehr angefertigt werden. Auch mit den anderen Frauen entwickelten sich die Interviews zu Gesprächen zwischen Freundinnen. Nach einer gewissen Zeit machten sich die Frauen darüber Gedanken, was sie mir noch zeigen oder mit wem sie mich ferner bekannt machen konnten: markante Plätze in der Landschaft, die von Geistwesen bewohnt und deshalb beopfert wurden, eine Frau, die ein ›Geistbaby‹ zur Welt brachte, ›Fetische‹ und Heilpflanzen in den Feldern, Kultverantwortliche. Meine ›Gegengaben‹ waren vergleichsweise gering: ein Kleidungsstück, ein Krug Hirsebier, hin und wieder einige hundert Francs. Letztere waren als Tribut an Plätze oder Personen erforderlich und keinesfalls Bezahlung für Information oder gar ein Touristengeschenk. Wo ich die Gefahr eines solchen Missverständnisses spürte und jemand Geld von mir forderte, zog ich mich sofort zurück. Ich erlebte in der Regel, dass die Unterhaltung dennoch fortgesetzt wurde, weil die Freundschaft mit mir wichtiger war als eine Bezahlung. Ich war im Umfeld der Dorfbevölkerung aufgetaucht, ich brachte etwas Abwechslung in ihren Alltag. Gewiss wunderten sich Frauen wie Männer und stellten dann auch mir die Frage, warum mich das alles interessierte. Meine Antwort befriedigte sie: »Ich will meinen FreundInnen in Deutschland erzählen, wie ihr hier lebt.« Auftrag und Zweck meiner Forschung Ich sehe es als meine Aufgabe an, das, was mir die Mafa-Frauen und -Männer von sich zeigten und was ich davon verstand, in einen anderen kulturellen Kontext zu übertragen, so dass es dort verständlich und der Sinnzusammenhang weitestgehend getroffen wird. Insofern beurteile ich mich als ›Interpretin‹ einer – von mir aus gesehen – ›anderen‹ sozialen Wirklichkeit. Mich als eine ›Übersetzerin‹ zu empfinden, wäre anmaßend, würde dieser 218

Begriff doch einen verlustfreien Transport eines Sachverhaltes aus der Sprache einer Kultur in die Sprache einer anderen Kultur beinhalten. Vielmehr gilt: wenn ich beschreibe, deute ich. Mein Anspruch ist es, in meiner Darstellung das Prozesshafte des Kennenlernens einer anderen Kultur wiederzugeben. Die Personen, um die es geht, sollen möglichst selber zu Wort kommen. Damit werde ich der berechtigten Forderung der postmodernen Ethnographie nach Plurivokalität, nach Mehrstimmigkeit, gerecht. Einen Dialog habe ich nur äußerst selten geführt. Dies entspricht dem Wesen des Umgangs der Mafa miteinander. Nur selten finden dort ›Zwiegespräche‹ statt. Soziales Leben ist stets gruppenbezogen. Meine Fragen lösten oft Diskussionen der Anwesenden untereinander aus, die den konfrontativen Interviewstil vollends aufhoben. Ich möchte deshalb meine Vorgehensweise die ›Methode des Palavers‹ nennen. Mit ›Palaver‹ bezeichnen die frankophonen Mafa die Diskussionen der Männer auf den Versammlungsplätzen und unter den heiligen Bäumen des Hauses, die stattfinden müssen, ehe eine die Gemeinschaft konstituierende Zeremonie abgehalten werden kann. ›Palaver‹ ist auch das Gespräch mit NachbarInnen oder Fremden vor dem Gehöft, das dem Informations- und Meinungsaustausch dient. Wenn sich die Frauen zum Korbflechten treffen oder einer Nachbarin bei der Geburt beistehen, ›palavern‹ sie. Die nach dem Prinzip der gegenseitigen Hilfeleistung organisierten Arbeitseinsätze werden mit einem ›Palaver‹ bei einem Krug Bier abgeschlossen (MüllerKosack 2003). Beim Palaver kommen alle zu Wort, die dies wünschen, das Gespräch ist nicht strukturiert, die Wortverteilung nicht hierarchisch geordnet. Wenn ich das Palaver zum Vorbild für meine Darstellung des Feldmaterials nehme, will ich – so weit wie möglich – der Situation gerecht werden, in der die meisten Aussagen entstanden sind. Mehrstimmig waren meine Gespräche mit den Mafa-Frauen und Männern auch insofern, als ich niemals ein Gespräch nur zu zweit führte. Da ich der Mafa-Sprache nicht so mächtig bin, dass ich ohne die Hilfe von Dolmetscherinnen arbeiten konnte, fanden wir uns stets in einer Gruppe wieder. Nicht selten kommentierten meine Übersetzerinnen die Äußerungen der Frauen. Meine anschließenden Fragen nahmen darauf Bezug. Die Frauen, die ein Gespräch mit mir suchten, wandten sich je nach Zu- oder Abneigung an die eine oder an die andere meiner Assistentinnen, um mich gemeinsam mit ihr aufzusuchen. Ich halte die MitautorInnenschaft meiner

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GesprächspartnerInnen für eine Voraussetzung, sich der Wirklichkeit anzunähern. Insgesamt arbeitete ich mit vier Personen zusammen: Jeanne Davné stand mir vor allem während meines ersten Aufenthaltes in Guzda im Jahr 1985 zur Seite. Sie übersetzte die ersten Geschichten mit mir. Später half sie mir bei differenzierteren Interviews, wenn die Französisch-kenntnisse meiner beiden anderen Assistentinnen nicht ausreichten. Bei meinem dritten Aufenthalt im Jahre 1988 machte sie mich mit Aissatou Juliette und Dabagai Sarah bekannt, die beiden einzigen Frauen im Dorf, die ein paar Jahre zur Schule gegangen waren. Ihre Französischkenntnisse nahmen durch die Arbeit mit mir zu. Die beiden Frauen begleiteten mich fortan abwechselnd zu allen Ereignissen und Gesprächen. Auch ließen sie ihre Freundinnen Geschichten auf Tonbandkassetten erzählen. Als vierten Mitarbeiter konnte ich ab 1990 Jikedayè Paul gewinnen, der zuvor mit meinem Mann gearbeitet hatte. Jikedayè transkribierte die Geschichten und übersetzte sie interlinear. Auch er nahm Geschichten und ferner Gespräche nach von mir vorgegebenen Leitfäden mit bedeutenden Persönlichkeiten auf Tonband auf, die er dann schriftlich übersetzte. Diese interlinearen Übersetzungen nahm ich zur Grundlage meiner deutschen und französischen Texte. Ich habe mich bei meiner Übersetzung so nahe wie möglich an den gesprochenen Text gehalten. Die Frage liegt nahe, wie dicht am Original eine Übersetzung zu sein hat, um der ursprünglichen Intention der Erzählenden gerecht zu werden, und wie frei sie andererseits sein muss, um nicht durch die Holprigkeit der allzu wortgetreuen Wiedergabe so entfremdet zu werden, dass sie weder einen Kunstgenuss ermöglicht, noch die Atmosphäre der Erzählung einfängt. Die Sprache, in der ich die Geschichten Satz für Satz nacherzähle, ist meine Sprache. So ›übersetze‹ ich z.B. das Mafa-Wort kr-dem-mam-ga – wörtlich ›Kind der Tochter meiner Mutter‹ – bisweilen mit ›Sohn meiner Schwester‹, wenn die verwandtschaftliche Beziehung über die Schwester relevant ist. Ist diese jedoch geklärt, dann klingt der Begriff ›Neffe‹ gefälliger. Doch auch die Umschreibung ›Sohn meiner Schwester‹ gibt weder den Klang noch die Struktur der MafaSprache wieder. Ich habe mich darum bemüht, die Bilder nachzuzeichnen und damit dem ›Gestaltungswillen ihrer SchöpferInnen‹ gerecht zu werden, und ich habe versucht, für die Literatur sowie auch für die »gesellschaftlichen Formen, denen man ohne weiteres den Charakter von Kunstwerken zusprechen darf … eine Form der Beschreibung zu suchen, die ihrer eigenen ähnelt«, 220

wie dies Oppitz (1993:42) für angemessen erachtet. Das klingt mit allen Wiederholungen bisweilen schwerfällig. Doch ist es Bestandteil der Erzählkultur, die Zuhörenden ein Ereignis miterleben zu lassen. Dieses wird in die Länge gezogen: »Und sie gingen und gingen und gingen«. Indem der Verlauf der Dinge geschildert wird, haben die Gefahr, der Unmut, die Angst, die Lust, die Freude am Guten und auch am Bösen sämtlichen Raum, in das Bewusstsein des Auditoriums einzudringen. Darin unterscheidet sich das gesprochene vom geschriebenen Wort, welches nach Schliff sucht, eine knappe Skizzierung verlangt, bei Andeutungen bleibt, um den Geist der Lesenden in Bewegung zu setzen. Der geschriebene Text ist eine abstrahierte Wiedergabe eines Ereignisses, die nicht auf das Erleben selber, sondern auf die Reflexion darüber abzielt. Mafa war bis zur Ankunft der Weißen keine Schriftsprache und wird bis heute nicht in der Schule gelehrt. Eine erste Schreibweise wurde in den 1950er Jahren von dem dort langjährig ansässigen Schweizer Missionarsehepaar Hans und Gertrud Eichenberger in Zusammenarbeit mit dem deutschen Afrikanisten J. Lukas für die Übersetzung des Neuen Testaments entwickelt. Ein Sprachkomitee versucht zur Zeit, diese und andere Schreibweisen – so die des französischen Linguisten Yves Leblaisse – miteinander und mit dem von der kamerunischen Regierung verabschiedeten Alphabet in Einklang zu bringen, das die mehr als zweihundert im Lande gesprochenen Sprachen einheitlich lesbar machen soll. Jikedayè Paul lernte für das Transkribieren die Schreibweise von Gertrud Eichenberger. Was sind meine Ergebnisse? Das Bild, das ich entworfen habe, ist das der Mafa-Frauen in ihrer kulturellen und sozialen Landschaft. Immer wenn ich das Mafa-Land betrete, wirkt diese Landschaft, wirken die Menschen umfassend auf mich ein. Doch brauche ich Zeit, viel Zeit, die Zusammenhänge zu verstehen. Immer wieder entdecke ich neue Lücken in meiner Ansicht des Mafa-Weltbildes, die ich zu schließen bemüht bin. Mein Anliegen ist es, die Welt der Mafa, so wie ich sie zu sehen gelernt habe, zu beschreiben. In der Beschreibung müssen sich gegenseitig bedingende und voneinander abhängende Phänomene voneinander geschieden und einander nachgeordnet werden.

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Ich habe das komplexe Ganze der Mafa-Gesellschaft in das Nacheinander eines ›idealtypischen‹ Lebenslaufes einer Frau aufgeteilt. In die das Leben einer Mafa-Frau strukturierenden Lebensabschnitte: Kindheit, Brautzeit, Ehe, Mutterschaft, die Zeit nach der Gebärfähigkeit und schließlich der Tod und die kosmologischen Vorstellungen. Als ›die Welt der Männer‹ habe ich die Bereiche bezeichnet, in denen die Frauen nur mittelbar eine Rolle spielen: Krieg, Hausbau und Konkurrenz untereinander. Was für ein Bild skizziere ich? Ein weibliches Neugeborenes wird in ein bestimmtes Verwandtschaftssystem geboren. Vom ersten Tage an erlebt es die dort gebräuchlichen sozialen Beziehungen. Diese Beziehungen unterliegen bestimmten Wertvorstellungen und bewirken sie zugleich. Die Wertvorstellungen sind Teil eines Glaubenssystems. Dieses Glaubenssystem basiert auf einer Ökonomie, der Produktionsweise, die das Ergebnis einer historischen Entwicklung ist. Diese Entwicklung ergibt sich aus den Beziehungen der Menschen zur Umwelt und zueinander. Aus diesen Beziehungen erwächst das Verwandtschaftssystem, in das eine Tochter geboren wird. Frauen nehmen sie aus dem Mutterleib in Empfang, Frauen, die in einem bestimmten Verhältnis zu ihr und zueinander stehen, versorgen sie. Männer bleiben lange Zeit im Hintergrund. Als Väter und Onkel vertreten sie die außerhalb und innerhalb des Hauses geltenden Gesetze. Aus den unterschiedlichen Tätigkeiten von Mutter und Vater leiten sich für Töchter und Söhne unterschiedliche Aufgabenbereiche ab. Wenn die Braut ihren Platz in der Familie des Ehemannes einnimmt, muss sie manche Arbeitsvollzüge, Gewohnheiten und Gepflogenheiten umlernen, die in ihrem Elternhaus gang und gäbe sind. Früher wurden viele Töchter schon im Alter von sechs Jahren in den Haushalt ihres künftigen Gatten gegeben, so dass sie sich dort von Anfang an unter der Anleitung der Schwiegermutter in das Arbeitsleben einfügen konnten. Gerät eine Frau in Konflikt mit ihrem Gatten oder dessen Familie, findet sie in ihrem Vater oder dessen Repräsentanten ihren einzig möglichen Verteidiger. Im Scheidungsfall oder wenn sie frühzeitig Witwe wird, findet sie dort vorübergehend Zuflucht. Ein weiterer Ausdruck der Geschlechterbeziehungen ist die Arbeitsteilung. Die Feldarbeit wird von Frauen und Männern gemeinsam verrichtet: Die Vorbereitung der Felder für die Aussaat, das zweimalige, sehr arbeitsaufwendige Jäten mit der Hacke und das Einbringen der Ernte. Die Verfügungsgewalt über das Produkt der Feldarbeit liegt allerdings allein bei den Männern. Die Hirse kommt in den Speicher des Mannes, zu dem nur 222

er Zugang hat. Allmorgendlich teilt er der oder den Frauen die Tagesration zu. Wenn ein Mann eine ungeliebte Frau nach der Erntezeit fortschickt, hat sie Mühe, einen anderen Mann zu finden, denn dessen Frauen fragen ihn: »Willst du eine Esserin mehr im Haushalt, die nichts zu unserer Ernährung beigetragen hat?« Nachdem die Männer die Hirse gedroschen haben, bessern sie die Häuser aus oder fügen bei Bedarf dem Gehöft ein neues Rundhaus hinzu. Ansonsten haben sie während der siebenmonatigen Trockenzeit keine regelmäßigen Tätigkeiten zu verrichten. Ihre Pflichten sind hauptsächlich religiöser und – vor allem in früheren Zeiten – politischer Art. Sie müssen regelmäßige Opfer an die Ahnen, die Erde, das Wasser und an die Hausaltäre bringen. Bis zur Unabhängigkeit Kameruns im Jahre 1960, ehe also die ›Stammeskriege‹ verboten wurden, mussten sie sich ständig in Kriegsbereitschaft halten. Für die Frauen gibt es keine Ruhepausen. Neben der Feldarbeit, dem Sammeln und Trocknen von Blättern und Kräutern für die Soßen müssen sie täglich mühsam die Hirse mit der Hand auf Reibsteinen mahlen und die Mahlzeiten kochen. Die Pflege und Erziehung der Kleinkinder obliegt ihnen allein. In ihren ›Mußestunden‹ während der Trockenzeit flechten sie Körbe. Ein großer Erntekorb beansprucht zwei bis drei Wochen intensiver Arbeit. Meine Frage, was eine Mutter ihrer Tochter sagt, wenn sie heiratet, beantwortet Pehlème: »Sie rät ihr, nicht viel zu schlafen, sondern früh aufzustehen. Wenn der Mann sieht, dass sie früh aufsteht, gibt er ihr mehr Hirse zu mahlen, und dann hat sie mehr zu essen«. Das Selbstbewusstsein einer Mafa-Frau ist entscheidend von ihrem Verhältnis zu den Männern geprägt. Als Tochter ist sie ein Haben auf der Seite ihres Vaters, das ein künftiger Bewerber mit dem Brautpreis einlösen wird. Dieser Erwerber erhält das Recht auf das Produkt des Leibes dieser Frau, seine Nachkommenschaft. Zu ihrem eigenen Schutz und dem ihrer Kinder, die sie im Scheidungsfall zurücklassen muss, versucht die Frau, Konflikte zu vermeiden. Es ist überlebensnotwendig für eine Mafa-Frau, dass einer ihrer Söhne nicht vor dem Erwachsenenalter stirbt. Nur bei ihm hat sie im Alter ein Anrecht auf Unterkunft, falls ihr Mann vor ihr stirbt und seine Nachkommen oder Verwandten seine Felder und sein Haus beanspruchen. Mein Text ist eine Andeutung, eine ›An-‹Deutung, dessen, was mir begegnet ist. Ich habe mich durch das Zusammentreffen mit Menschen einer anderen Kultur verändert. Aber auch ich war nicht reine Teilnehmerin, 223

sondern auch Gebende. »Wann kommst du wieder?« wurde ich beim Abschied immer wieder gefragt. »Wenn du hier bist, fühlen wir Frauen uns nicht so mager«.›Mager‹ bedeutet bei den Mafa ›krank‹, ›unterernährt‹, auch ›unbedeutend‹. Meine Anwesenheit bedurfte keiner Rechtfertigung, weil mein Interesse an den Menschen und an ihren Prozessen Berechtigung genug war. Meine ›Doppelrolle als Fremde und Freundin‹, habe ich nicht als »schwierig und problematisch« empfunden, wie Stagl (1985) problematisiert. Ich habe Einblicke genommen, Eindrücke gewonnen. Mir sind die Dinge und Begebenheiten gezeigt worden, von denen die Leute glaubten, dass sie mich interessieren würden, die sie selber als interessant und als wissenswert beurteilten. Insofern fühle ich mich durchaus dazu berufen, ihr Sprachrohr, ihr Schreibstift zu sein. Seit dem Jahr 2000 habe ich den Bleistift und das Heft durch eine kleine Filmkamera ausgetauscht. Diese benutzte ich wie ein Notizbuch. Alles was ich sah und bemerkenswert fand, filmte ich. Auf die fragenden Blicke der Leute hin zeigte ich jeweils kurze Sequenzen auf dem Display. Meine Kamera wurde zu meinem Attribut. Sie störte das Geschehen nicht. Während der Zeremonien wurde mir weiterhin das Opferbier gereicht, das ich mit der freien Hand in Empfang nahm. Zu Hause schnitt ich zu bestimmten Themen Filme, wie ich sonst aus meinen Notizen Artikel zusammenstellte. Der wichtigste Film, den ich wieder ins Mafa-Land zurückbringen konnte, war ›Marai – als Tochter von Huva das Stierfest erleben‹. Ich nahm im Jahr 2000 und 2003 im hoch in den Bergen gelegenen Dorf Huva an dem bedeutendsten Ritual der Mafa teil, dem Stierfest, das alle drei Jahre in einer die Siedlungsgeschichte der einzelnen Dörfer reflektierenden Reihenfolge stattfindet. Dabei wird von allen Familienoberhäuptern, die es sich leisten können, in der genealogischen Reihenfolge der möglichst seit Jahren in Gefangenschaft gehaltene Stier von dazu berufenen Akteuren rituell freigelassen, wieder eingefangen und schließlich getötet. Das Fleisch wird nach festen Regeln verteilt. Im Jahre 2018 kennen die meisten Mafa den genauen Ablauf des Stierfestes nicht mehr. Die alten Männer, die die Tradition vertraten, sind gestorben, die jungen leben entweder in der Stadt oder sind christianisiert und pflegen die Rituale nicht mehr. Das war den alten Männern bewusst, als ich damals als einzige Frau im Inneren des Gehöfts den zeremoniellen Handlungen beiwohnen und sie filmen durfte. Auch die jungen Mafa schätzen diesen Film, gibt er ihnen doch Aufschluss über das Weltbild ihrer Ahnen, das sie nur noch mittelbar kennenlernen.

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Bei den Kulturfesten der Mafa ist daher dieser Film ein fester Programmpunkt. So ist mir eine Rolle in der Kulturgeschichte der Mafa zugefallen, und ich werde, wenn ich dort bin, zu Veranstaltungen geladen, in denen ich über die Tradition und über die Moderne sprechen soll. Denn es blieb nicht aus, dass mir im Laufe der Jahre die unterschiedlichsten Entwicklungsprojekte angetragen wurden, die ich nach Möglichkeit durch Stiftungen oder Spenden in Deutschland unterstützte. Zurzeit koordiniere ich ein Bildungsprojekt, das Mädchen, die sonst keine Möglichkeit haben, den Schulbesuch und eine Ausbildung oder auch ein Studium ermöglicht.2 Ich werde von den jungen Intellektuellen aufgefordert, den Schülerinnen zu sagen, nicht zu früh einer Heirat zuzustimmen, sondern erst eine selbständige Existenz aufzubauen. Ich fühle mich als Vermittlerin. In Deutschland sind die interessierten Lesenden meiner Texte oder Zuschauenden meiner Filme aufgefordert mitzudenken, nachzuempfinden, zu beurteilen, mitzuerleben. In diesem Sinne möchte ich meine Arbeit als einen Beitrag zur ›Wissenschaft der gesamten Menschheit‹ und damit zu einer umfassenden Menschlichkeit verstehen. Literatur Boisseau, Jean und Monique Soula 1974. La femme dans sa communauté territoriale, Clef du cosmos Mafa, 3 Bde. Paris: Bureau d’études coopératives et communautaires. Fischer, Hans 1985. Feldforschungen: Berichte zur Einführung in Probleme und Methoden. Berlin: Reimer. Hinderling, Paul 1984. Die Mafa: Ethnographie eines Kirdi-Stammes in Nordkamerun, Bd. 1: Soziale und religiöse Strukturen. Hannover: Verlag für Ethnologie. Kosack, Godula 1997a. Contes animaux du pays mafa. Paris: Karthala. —— 1997b. Contes mystérieux du pays mafa. Paris: Karthala. —— 2001. Die Mafa im Spiegel ihrer oralen Literatur: Eine Monographie aus der Sicht von Frauen. Köln: Köppe. 2

Siehe http://dafrig.de/ausbildungshilfe-fuer-maedchen-in-guzdanordkamerun/ (23.01.2018).

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—— 2004. Tsavi und seine beiden Frauen: Die Geschichten der Mafa (Nordkamerun) als ethnographische Quellen. Journal Ethnologie, http://www.journal-ethnologie.de/Deutsch/Schwerpunktthemen/ Schwerpunktthemen_2004/Orale_Kulturen/ Tsavi_und_seine_beiden_Frauen/index.phtml (23.01.2018). Lavergne, George 1944. Les Matakam. Bulletin de la So ciété d’Études Camerounaises 7: 206 Seiten. Müller-Kosack, Gerhard 1987. Der Weg des Bieres: Siedlungs- und Sozialstruktur in fünf Mafa-Dörfern (Nordkamerun) [Magisterarbeit]. Frankfurt/Main: Goethe-Universität. —— 2003. The Way of the Beer. Ritual Re-enactment of History among the Mafa. London: Mandaras. Stagl, Justin 1985. Feldforschung als Ideologie. In: Hans Fischer (Hg.) Feldforschungen. Berlin: Reimer, 289-310.

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Felix Riedel

Waldgeisterwrestling Mythologie und Fake News bei Pippi Langstrumpf, Donald Trump und in der Ethnologie »Warum bist du rückwärts gegangen?« »Warum ich rückwärts gegangen bin?« sagte Pippi. »Leben wir etwa nicht in einem freien Land? Darf man nicht gehen wie man will? Übrigens will ich dir sagen, daß in Ägypten alle Menschen so gehen, und niemand findet das auch nur im geringsten merkwürdig.« »Woher weißt du das?« fragte Thomas. »Du warst doch wohl nicht in Ägypten?« »Ob ich in Ägypten war? Ja, da kannst du Gift drauf nehmen! Ich war überall auf dem ganzen Erdball und habe noch viel komischere Sachen gesehen als Leute, die rückwärts gehen. Ich möchte wissen, was du gesagt hättest, wenn ich auf den Händen gegangen wäre, wie die Leute in Hinterindien.« »Jetzt lügst du«, sagte Thomas. Pippi überlegte einen Augenblick. »Ja, du hast recht, ich lüge«, sagte sie traurig. »Es ist häßlich, zu lügen«, sagte Annika, die jetzt endlich wagte, den Mund aufzumachen. »Ja, es ist sehr häßlich, zu lügen«, sagte Pippi noch trauriger. »Aber ich vergesse es hin und wieder, weißt du. Und wie kannst du überhaupt verlangen, daß ein kleines Kind, das eine Mutter hat, die ein Engel ist, und einen Vater, der Negerkönig ist, und das sein ganzes Leben lang auf dem Meer gesegelt ist, immer die Wahrheit sagen soll? Und übrigens«, fuhr sie fort, und sie strahlte über ihr ganzes sommersprossiges Gesicht, »will ich euch sagen, daß es in Nicaragua keinen einzigen 227

Menschen gibt, der die Wahrheit sagt. Sie lügen den ganzen Tag. Sie fangen früh um sieben an und hören nicht eher auf, als bis die Sonne untergegangen ist. Wenn es also passieren sollte, mir zu verzeihen und daran zu denken, daß es nur daran liegt, daß ich etwas zu lange in Nicaragua war. Wir können wohl trotzdem Freunde sein, nicht wahr?« »Ja gewiß«, sagte Thomas und wußte plötzlich, daß der Tag heute sicher keiner der langweiligen werden würde (Lindgren 1967: 14-15). Mark Münzel verwies in seinen Vorlesungen oft auf die Möglichkeit, dass seine Gesprächspartner1 ihn anschwindeln oder verulken könnten. Einmal, so erzählte er in einer Vorlesung, hätten ihn seine Informanten kurz vor der Abreise noch einmal zu sich bestellt. Es gäbe etwas sehr Wichtiges, er solle nochmal zu ihnen kommen. Münzel zwang also seine ehrliche Haut kurz vor der Abreise noch einmal durch den dichten Verkehr einer brasilianischen Stadt zu ihnen, und da empfingen sie ihn lachend: man hatte ihm etwas vorgemacht, um ihn einfach noch einmal zu sehen. Ein andermal urteilt er: Bei dem schwierigen Künstler war Mythenforschung oft ein Leidensweg unter dem spöttischen Beifall der Dorfbevölkerung, die sich freute, wenn der Alte wieder einmal einen Weißen zum Narren hielt (Münzel 1986: 192). Mit der Ethnologie verhält es sich wie mit der Geisterwelt, es scheint häufiger so, »daß zwei Welten sich gegenseitig als Täuschung empfinden« (Münzel 1988: 604). Der lügende Informant stellt die ethnologische Methodologie in Frage, und, wie Frank Salamone vermutet, gerade dort, wo diese das selbst versäumt hat. Die Entdeckung der Lüge ist ihm zufolge nur der erste Schritt zu einer Analyse der Frage, warum gelogen wird (Salamone 1977: 121). Auch während meiner eigenen Feldforschungsaufenthalte in Ghana begegnete mir solche Bereitschaft, ›den Weißen‹ anzulügen oder ihm nur ein Viertel der Wahrheit zu erzählen. Die Motivationen sind meist verständlich: Manch einer traut diesen übergriffigen, neugierigen und stinkreichen Burschen nicht und weiß genau, dass die Verbreitung von Wissen nicht 1

Im Folgenden wird den Lesenden abverlangt, eigenständig in der kürzeren, männlichen Form die weibliche mitzudenken.

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immer zum Besten der Beforschten führt (Salamone 1977: 120). Also wimmelt man ihn ab oder erzählt etwas Erfundenes. Gefälschte biographische Legenden sind häufig flexible, strategische Behauptungen, die Vertrauen, Freundschaft und langfristig Kapital einwerben wollen. In ihrer skrupellosesten Form finden solche Ich-Mythen im Internetbetrug Anwendung (Riedel 2016: 187-226). Aber es wird auch gern in Diskussionen unter Jugendlichen aus Langeweile fantasiert. Wird es den Umstehenden gar zu bunt, rufen sie ›Obua!‹ (Lügner!) oder ›Kwaseasem!‹ (Unfug!). Meint der Redner es ernst, versichert er ›Ampa!‹ (Es ist aber wirklich wahr!). Wenn aber die Informanten in der Ferne schon ebenso häufig lügen wie die Menschen zu Hause, wie kann man dann von Weitgereisten, die das ›ganze Leben auf dem Meer gesegelt sind‹, verlangen, dass sie die Wahrheit sagen? Die von Astrid Lindgren für ihre kranke Tochter ersonnene Kulturheroin Pippi Langstrumpf verweigert sich systematisch dem Vermitteln von Fremdheitserfahrungen. Anstelle von Halbwahrheiten oder »wehmütigen Verherrlichungen« (Münzel 1986: 163) erzählt sie ausschließlich Lügen über ferne Länder. Wie im Falle von Münzels Informanten überspielt ihre Schwindelei auch die generelle Unmöglichkeit der Übersetzung. ›Der Andere/Weiße‹ wird es ohnehin nicht verstehen. Solche Mythomanie ist nicht von Trauer zu trennen. Dass Lindgren als Mythenmeisterin eine eigene, ausgefeilte Theorie der Kulturvermittlung entwirft, wird an ›Pippi Langstrumpf in Taka-Tuka-Land‹ deutlich. Hier bemüht sich Lindgren ehrlich, die aufdringliche rassistische Stereotypie2 der ersten beiden Bände zu widerrufen und lässt Pippi Langstrumpf nicht mehr den weißen Kindern etwas vorlügen, sondern den schwarzen Inselkindern Folgendes erzählen: »Wenn man ein weißes Kind weinen hört, dann kann man sicher sein, daß die Schule abgebrannt ist oder daß die Scheuerferien ausgebrochen sind oder daß die Lehrerin vergessen hat, ihnen Schularbeiten in Plutimikation aufzugeben … Kein Auge bleibt trocken, wenn das Schultor für den Sommer geschlossen wird. Alle Kinder ziehen nach Hause, dumpfe 2

So fantasiert Pippi Langstrumpf im zweiten Band: »Aber ich werde einen eigenen Neger haben, der mir jeden Morgen den ganzen Körper mit Schuhcreme putzt« (Lindgren 1976a: 174). Oder: »›Nette Bude das‹, sagte sie. ›Keine Flöhe und in jeder Hinsicht angenehm. Und das ist vielleicht mehr, als man von den Negerlehmhütten sagen kann, wo ich von jetzt ab wohnen werde‹« (Lindgren 1976a: 191).

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Trauerlieder singend, und sie bekommen ordentlich Schluckauf vom Weinen, wenn sie daran denken, daß es mehrere Monate dauert, bis sie wieder Plutimikation bekommen. Ja, das ist ein Elend ohnegleichen«, sagte Pippi und seufzte tief. »Äh«, sagten Thomas und Annika (1973b: 114). In solchen satirischen Stücken greift Lindgrens Hauptdarstellerin mithilfe der Lügen dasselbe Vertrauen in den Common Sense an, den Ethnologie mit Wahrheiten zu kränken sucht. Beide stärken durch ihre Berichte das Bewusstsein dafür, dass die Fantasie der Unbereisten stets zu kurz greift, wenn sie den realen Absurditäten menschlicher Vergesellschaftung gegenüberstehen. Schließlich leben in Indien wirklich Menschen, die den vor sich liegenden Weg kehren, um kein Insekt zu zertreten. Ebenso gibt es die Angehörigen der Aghori-Sekte, die Leichenreste aus den Krematorien am Ganges zerren, um sie sich einzuverleiben.3 Auch trifft man womöglich den Mann, der seinen Arm einer fixen Idee von Meditation oder Buße folgend seit Jahren nach oben streckt.4 Man kennt mehrere Gesellschaften, die ihre Unterlippen mit Tellern oder Lippenpflöcken dehnen. Von den Religionen, die ihren Gott aufessen und -trinken ganz zu schweigen. Andere glauben gar, dass ein Mann in einer Höhle mit einem Erzengel gesprochen habe. Wieder andere pflegen Initiationsriten, die das Aufschlitzen des Penis, das Abtrennen der Labien oder das Inkorporieren der Samenflüssigkeit älterer Männer beinhalten. Solches ironische, universalistisch-religionskritische Gegenüberstellen von Kuriositäten, das James G. Frazer in ›The Golden Bough‹ (1890) meisterhaft kultivierte, ist in der Ethnologie unüblich geworden, vor allem weil es als exotistisch gilt, über Kultur zu lachen. Aber tatsächlich findet John A. Barnes (1994) in seiner materialreichen kulturgeschichtlichen Soziologie des Lügens dann auch eine Studie von Ernestine Friedl über ländliche Regionen Griechenlands. Dort sei es üblich, dass Eltern ihren Kindern durch systematisches Lügen Zweifel an anderer Leute Worte antrainieren. Warum sollte es also nicht in Nicaragua Sitte sein zu lügen? Und warum sollte man eher einem Ethnologen glauben, der sagt, dass die meisten Menschen in Nicaragua sehr ehrenwerte Leute sind, die natürlich wie wir erst um acht Uhr morgens anfangen zu lügen und nicht schon um sieben? Der 3 Vgl. ›Belly of the Tantra‹, Dokumentarfilm von Pankaj Purohit (Indien 2012, 90 min.). 4 Mündliches, vermutlich ungelogenes Augenzeugnis von Gerrit Lange (Marburg).

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Ethnologe wird natürlich sagen, er habe sich schließlich anders als Pippi Langstrumpf eine gute Methodik im Studium erworben (vermutlich gelogen) und die fremde Sprache erlernt (ziemlich sicher auch gelogen), er habe Fotos mitgebracht (auf denen nicht zu sehen ist, ob Nicaraguaner die Wahrheit sagen) und sogar einen Film (der wird aber auch gelogen und geschnitten sein). Ein naheliegender Gedanke zur Lösung des Übersetzungsproblems war, sich Menschen vorzustellen, die über das Internet über den ganzen Globus hinweg miteinander kommunizieren können, sich fortan einfach gegenseitig über Vorurteile aufklären. Dazu muss man schreiben können. Die fortschrittsoptimistische Idee dahinter lässt sich anhand eines Kinderliedes von Wilhelm Topsch wiedergeben, mit dessen Hilfe Kinder im Westen für die Schule motiviert werden sollen. Das Lied wird interessanterweise auf den Refrain von ›Johns Browns Body‹ gesungen, einem Lied, das dem militanten Anführer eines letztlich scheiternden abolutionistischen Guerillakrieges gewidmet war und zum Kampflied der Unionstruppen im amerikanischen Bürgerkrieg wurde.5 Das Lied geht also so: Alle Kinder lernen lesen auch Indianer und Chinesen selbst am Nordpol lesen alle Eskimos Hallo Kinder, jetzt geht’s los!6 In ›Qellqay‹ setzt Münzel die Wahl des Analphabetismus als »Fortschrittshindernis« mit Claude Lévi-Strauss in ein materialistisches Verhältnis: »Menschlichkeit und Erwachsensein« könnten auch »außerhalb der Schriftlichkeit zur Entfaltung« kommen (Claude Lévi-Strauss in Münzel 1986: 166). Lesen wird zum Produktionsmittel in einer bestimmten Vergesellschaftungsform, garantiert aber nicht automatisch moralischen Fortschritt. Auch wenn Teile der Ethnologie Anspruch auf die Entdeckung des Fortschrittsproblems in Afrika erheben (Comaroff und Comaroff 1993), wurden solche teleologischen Fortschrittsmodelle und Entwicklungsprobleme in der marxistischen Literatur und insbesondere in der ›Dialektik der Aufklärung‹ von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer am Beispiel der europäischen Widersprüche hinreichend kritisiert. Als bewusstlos fortschreitender Prozess erweitert Aufklärung mit der Naturbeherrschung die 5 6

Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/John_Brown_(Abolitionist) (01.10.2017). Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Alle_Kinder_lernen_lesen (01.10.2017).

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Herrschaft über die Menschen und droht letztlich unter dem Diktat von »Berechenbarkeit und Nützlichkeit« ihre eigenen »älteren Universalien« wie das Menschenrecht als Aberglaube abzuschaffen (Adorno und Horkheimer 1969: 12). Aufklärung ist nur als bestimmte, bewusste denkbar; die Produktionsmittel liefern Möglichkeiten, aber keine Garantien auf einen automatischen Prozess zum Besseren, wie ihn bürgerliche Ideologie sich von der Entfaltung des freien Marktes und der technologischen Produktionsmittel verspricht. Im Zuge dieser Ideologie sorgte das Aufkommen des Internets für regelrecht euphorische Erwartungen künftiger kollektiver, basisdemokratischer Wahrheitsproduktion, die Vorurteile abbauen helfe. Dass das Internet als Produktionsmittel dafür prinzipiell ebenso wie der Buchdruck geeignet ist, ist unbestritten. Vorerst aber führte es wie schon im Falle des Buchdrucks dazu, dass ein wilder Wettstreit der Mythenmeister entstand, der nur äußerst selten die hervorragendsten, kunstfertigsten von ihnen obsiegen ließ. Vom ›Hexenhammer‹ über Luthers antisemitische Hetzschriften, von den ›Protokollen der Weisen von Zion‹ bis hin zu den routinierten sowjetischen Desinformationskampagnen7 hatten es Propagandisten geschafft, hässliche Mythen zu erschaffen, die sich nicht dem Ursprung der Menschen in einem Ameisenbau oder einer Rippe widmen, sondern dem Ursprung des Bösen im Anderen. Das Internet ändert nichts an dieser Tradition außer einigen Raffinessen. Zu den zentralen Strategien russischer ›Trollkommandos‹ etwa gehört eine gezielte Mischung aus qualifizierter Kritik an realen Missständen und perfider Lüge. Mit Ersteren sollen ›oppositionelle‹ Meinungsmacher im Westen als Multiplikatoren gewonnen oder aufgebaut werden um Letztere zu verbreiten.8 Ein Zeichen solcher Propaganda ist, dass sie sich im Lügen negativ auf ›offizielle‹ Versionen bezieht, während der Mythos keine anderen Erklärungen hat, symbolisch bleibt oder tatsächlich geglaubt wird. Diese Trennung zwischen primärem und sekundärem, wirklichem Aberglauben oder besser: ›Abermythos‹, der glaubt, obwohl er es eigentlich besser wissen könnte, macht Adorno zum Ausgangspunkt seiner Arbeiten über Astrologiespalten (Adorno 1979a, 1979b). Der Unterschied zwischen traditionellem und modernem Mythos, zwischen Schamanen und Heilpraktikern ist demnach: Erstere konnten es nicht besser wissen und 7

Siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Operation_INFEKTION (01.10.2017). Das Phänomen kann jeder Internetnutzer über die Jahre beobachten, eine gute zusammenfassende Analyse findet sich unter Van Herpen (2016).

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gaben sich mitunter in erheblicher Genialität Mühe, etwas zu erfinden, während es letztere nach der Entfaltung der Naturwissenschaften besser wissen könnten, aber aus egoistischen Gründen daran glauben möchten, dass sie moderne Schamanen seien, die Entscheidendes mehr wüssten als die Naturwissenschaften. Ausschlaggebend für die Lüge ist dann nicht die Trauer um das Nichtwissen oder Nichtvermittelnkönnen, sondern der Hass auf etablierte Wahrheit, auf durch innere Kohärenz und gesellschaftliche Institutionen legitimierte Autorität. Ein solches, an unzähligen Vertretern ›alternativer Medizin‹ beobachtbares, Verhalten instrumentalisiert den überholten, aber einst prinzipiell aufklärerischen Versuch des Mythos (Adorno und Horkheimer 1969: 14) für die Rechtfertigung der Gegenaufklärung. Aber auch der noch der Aufklärung verpflichtete, echte Mythos war und ist nie harmlos, weil er objektiv falsch ist. Stärkt Münzel gegen die eindimensionale Überheblichkeit der eurozentrischen Lesarten den Blick darauf, dass Mythen mehrschichtige, polyvalente, dramaturgische Kunstwerke sind, so wäre heute vielleicht eher wieder gegen die prinzipiell gerechtfertigte Relativierung ins Gedächtnis zu rufen, dass sie primär geglaubt werden. Die oft genialen Lügen des Schamanen über die Entstehung der Welt können trotz aller Symbolwelten und Metaphorik die Hexenjagd oder gewaltsame Geisteraustreibungen zur Folge haben, weil man eben zunächst einmal an die Existenz der Geisterwelt ganz unmetaphorisch glaubt. Auch das ghanaische Feld konterkariert aktuelle Ansätze der Ethnologie, in Mythen und Gerüchten ausschließlich agency, subversive Kritik am Kapitalismus und ein radio trottoir zu vermuten (Riedel 2016: 209). Der Übergang von der geglaubten Mythe zum »Seufzer der bedrängten Kreatur« 9 und letztlich zur »pathischen Projektion« (Adorno und Horkheimer 1969: 199) ist fließend. Harmlos: Eine Hotelarbeiterin in Accra erzählte überzeugt, nachts würde das Denkmal für Joseph Danquah – einer der sechs 9

Siehe Marx (1844: 279-280): »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist«.

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großen Vorkämpfer der ghanaischen Unabhängigkeit – herumwandeln, nur tagsüber stehe es steif auf seinem Platz. Ambivalent: In Tamale spricht eine junge Frau in sichtlicher Angstlust über ein Wesen, das sich als Kröte tarne und nachts Frauen vergewaltige. In Cape Coast zeigte mir ein Jugendlicher den Geisterbaum am Fischmarkt: Er würde nachts umherwandeln. Damit Schwangere ihn nicht versehentlich berühren und so ihr Kind verlieren würden, hätten Jugendorganisationen, die Asafo, eine rituelle Mauer um ihn herum erbaut. Gewinnträchtig: die Geschichte von der Frau mit einer einzigen, ›seltsamen‹ großen Brust in einem Boulevardmagazin in Accra. Das Foto ist eine ganz plumpe Manipulation, bei der die zweite Brust zwischen den angewinkelten Beinen versteckt wird. Ausbeuterisch: Im tiefsten Hinterland traf ich zwei Trickbetrüger an einem kleinen Gasthaus. Sie verkauften neben Versicherungen auch Magnetstifte der Firma ›Amega Global‹, mit denen man schädliche Strahlung ableiten könne. Ihre Zaubertricks waren routiniert: Gießt man mit dem für etwa 60 Euro zu erstehenden Magnetstift ›behandeltes‹ Wasser über die Hände, lassen sie sich aufgrund einer geringfügig veränderten Körperhaltung nicht mehr auseinanderdrücken.10 Übergang zum Lynchmord: Ein Mann in Accra erzählte, ganz sicher habe er gesehen, wie sich eine Frau auf dem Marktplatz in einen Geier verwandelt habe, man habe sie dann mit Benzin übergossen und verbrannt. Mörderisch: 2017 zog ein Prediger durch das Hinterland und klagte wahllos Frauen der Hexerei an. Mehrere Frauen wurden gelyncht und mussten fliehen, ein Mann wurde vom Mob ermordet, als er seine gelynchte Frau im Krankenhaus besuchen wollte.11 Und in der gleichen Region konnten mehr als 150 der Hexerei angeklagte Frauen, die ich dort interviewte, selbst nicht glauben, was ihnen vorgeworfen wurde: »They lie about us! We don’t have anything [spiritual power]!« Man hatte sie beschuldigt, den Geist eines anderen Menschen zu jagen und im Busch mit anderen Hexen aufzufressen. Meist reichte ein Traum oder eine Fieberhalluzination für die Identifizierung der Angeklagten. Viele

10

Der Stift hat mittlerweile auf YouTube die Aufmerksamkeit von Scambustern gefunden: ›AMEGA GLOBAL SCAM AMWand The Strength Test Trick REVEALED‹, siehe https://www.youtube.com/watch?v=ltzKEotZM7s (02.10.2017). 11 Schriftlicher Bericht einer Recherche vor Ort von Stephen Schrezenmeyer (2017).

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Menschen berichteten mir Hexengeschichten, die sie für wahr hielten, gerade weil sie so unglaubwürdig klangen, dass es sich niemand ausdenken könnte. »Wenn ich es nicht gesehen hätte, würde ich es nicht glauben!« Was dann als ›Augenzeugenbericht‹ geliefert wurde, waren im urbanen Süden Ghanas seltener echte Sinnestäuschungen als Szenen aus Filmen. Dennoch existiert ein Bewusstsein von Betrug, Lügen und Fälschung, mit dem eine Trauer um die limitierten Möglichkeiten zur Wahrheitsfindung einhergeht. Diskussionen in Onlineplattformen sind von dieser oft verzweifelten Suche geprägt. Ein Foto von einer schwangeren Fünfjährigen mit sich bildenden Brüsten aus Nigeria12 wurde mehrheitlich mit den Worten »It’s a lie!« kommentiert. Das Foto zeigt aber keine sichtbaren Spuren von Manipulation, und in der Medizingeschichte sind mehrere Kinderschwangerschaften als Resultat von hormonellen Störungen und sexueller Gewalt in diesem Alter bestätigt. Ein anderes Beispiel: ein studierter Maschinenbauer aus Cape Coast zeigte mir einen koreanischen Werbefilm über ein Auto, das den zur Fahrt benötigten Wasserstoff selbst produzieren würde. Ein klassischer Investment Scam, den er aber aufgrund der professionellen Aufmachung für glaubhaft hielt. Internetnutzer in den hintersten Winkeln der Welt – oder im Jargon des obigen Kinderliedes: »auch Indianer und Chinesen« – werden auf jeder Internetseite mit Entscheidungen zwischen Mythos, Lüge und Wahrheit konfrontiert. Harmlos sind die Angebote für Potenzmittel und Penisvergrößerungspillen aus Tibet, weniger harmlos die 2014 von einer afrikanischen ›Heilerin‹ aus Saudi-Arabien angepriesenen ›Heilminerale‹ gegen Ebola, oder die stümperhaft gefälschten Antibiotika, wie sie im ghanaischen Hinterland gegen Syphilis und Gonorrhoe verkauft werden, oder die homöopathischen Kliniken der »Homöopathen ohne Grenzen«,13 die auch in Ghana Menschen völlig wirkungslose Mittel anempfehlen. Die globalisierte und vernetzte Welt schafft ein allseitiges Kaleidoskop von Kuriositäten, Möglichkeiten und Fälschungen, und lindert zugleich dem Subjekt nicht die objektive Notwendigkeit zur Differenzierung.

12

Siehe http://tmnews.ng/index.php/national/item/2086-heartbreak-parentconfirms-five-year-old-daughter-pregnant (02.10.2017). 13 Siehe http://www.homoeopathenohnegrenzen.de (02.10.2017).

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Fake News Nicht nur medizinisch haben Mythen tödliche Konsequenzen, sondern auch politisch. Im Internet fanden ›Schamanen‹ ein Publikum, die in keiner zu Funktionalität des Alltags und Restvernunft verurteilten indigenen Dorfgesellschaft Erfolg gehabt hätten, einfach weil ihnen in ihrem Pathos jede Selbstironie mangelt. Einige behaupten, die Erde sei hohl und innen von Reptilienmenschen bewohnt, andere wähnen in Kondensstreifen von Flugzeugen eine Verschwörung zur Wetterveränderung, wieder andere denken, der Mossad finanziere den ›Islamischen Staat‹ und alle meinen es verflixt ernst und sprechen überhaupt nicht in der polyvalenten Erzählstruktur, die sich als Gegenstand kunstethnologischer Betrachtungen eignet. Der Ameisenbär der Internetnutzer ist NUR der Ameisenbär, und wer etwas anderes behauptet, wird entfreundet. Das unterscheidet die in sich reflektierten Mythen, die uns das Studium der Ethnologie zu einem literaturwissenschaftlichen Vergnügen machen, vom religiösen Dogma, dessen Entwicklung Theodor Reik aus dem verdrängten und dann projizierten Zweifel ableitet (Reik 1973). Ist die Wiederholung, die Epizeuxis, die Münzel im indianischen Mythos entdeckt, Stilfigur, so wird die Wiederholung in der dogmatischen Propaganda neurotisch, Deckerinnerung für einmal gewusste Wahrheiten. Die Erzähler von propagandistischen ›Abermythen‹ – den fake news – wissen, dass sie lügen und insgeheim werden sie von ihren Gläubigen für ihre Skrupellosigkeit und Brutalität bewundert, nicht für ihre Kunstfertigkeit. Politische Mythologie heute lässt sich nur aus solchem vorbewussten Rückgriff auf Überholtes, auf verhasste Wahrheiten und ihre Verleugnung erfassen. Ein ideales Beispiel für das Studium eines solchen ›Abermythen‹-Meisters ist Donald Trump, der wegen und nicht trotz systematischen Lügens zum Präsidenten der USA gewählt wurde. Carole McGrahanan bemerkt an Donald Trump dessen egoistische ›Verachtung für die Wahrheit‹: »his lies are off the charts« (McGranahan 2017). Sie unterscheidet die ›Bullshitter‹, die wie die Schamanen Unwissen über Erkrankungswege oder Evolutionsbiologie mit mitunter genial erfundenen Geschichten überspielen, von den Lügnern, die die Autorität der Wahrheit an sich widerrufen. Die Frage, ob Trumps Tweets nun der oralen oder der Schriftkultur angehören ist recht müßig, weil eigentlich schon Walter Ong und Marshall

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McLuhan auf medienvermittelte hybride Formen verwiesen.14 Zwar sind die Tweets von Trump im schriftlichen Modus festgehalten, doch sind sie ebenso im »mündlichen Kontext zuhause«.15 Vielleicht kann sich aber die Trump’sche Redeweise und mehr noch der fruchtbare Boden, der sie aufnimmt durch die Reflexion auf die ethnologische Forschung über Mythen, etwas besser verstehen und dadurch kritisieren lassen. Wenn Trump eher in einem mythologischen Raum spricht, in dem andere, weniger reine, fluidere Wertvorstellungen gelten, wenn seine Zuhörerschaft nicht zuerst an Evidenzen interessiert ist, sondern an Referenzen, dann scheitert jedes Mythbusting. Lucien Lévy-Bruhl (1966) beschrieb das als primär auf Assoziativität fokussierende Denkform, die von einer an logische Erzählstrukturen und Ableitungen gewöhnten Denkform nicht verstanden werden kann. Die ›Primitiven‹, wie es bei Lévy-Bruhl eher respektvoll heißt, kennen zwar empirische Ursachen und Vorgänge, sind aber nicht an ihnen interessiert, halten sie mitunter für unwichtig gegenüber den Vorgängen in der spirituellen Welt. Was Edward E. Evans-Pritchard für den »zweiten Speer« hält (Evans-Pritchard 1976: 25), ist bei Lévy-Bruhl der erste: Das Spirituelle, Mystische ist bedeutender als die sichtbare Welt (Lévy-Bruhl 1966: 254; 321; 348; 107).16 Somit ist nicht Unwissen oder Unfähigkeit, sondern Desinteresse an Fakten maßgeblich und das wird für die Erklärung von ›trollischem‹ Diskussionsverhalten im Internet relevant. Nicht was behauptet wird, sondern gegen wen es mit welcher Emotionalität gerichtet ist, ist ausschlaggebend. Das Sprechen Trumps sorgt bei seinen Gegnern für Befremdung und in dieser Befremdung lässt sich eine Selbsttäuschung, ein Mangel an Fremdverstehen finden. Die Versuche Hillary Clintons und vieler Journalisten, den ›zivilisierten‹ Raum gegen den eindringenden ›Wilden‹ mittels Richtigstellungen zu verteidigen, scheiterten, weil sie dessen Gesetze missverstanden hatten und obwohl man eigentlich Routine im Umgang mit Agitatoren erwarten möchte, hatten sie kein Ritual parat. Von den Kamayurá übermittelt Münzel ein Ritual zur Bändigung des Waldgeists Añang’u: »Der Auftritt ist lärmend, grotesk, manchmal obszön – ein Barbar ist eingedrungen. Man zähmt ihn mühsam, indem man ihm 14

Eine ausführlichere Diskussion führe ich durch in Riedel (2016: 152). Siehe Münzel (1986: 226) über das Verhältnis der aztekischen Schrift zur Oralität. 16 Für eine ausführlichere Diskussion verweise ich auf Riedel (2016: 85-90).

15

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zu essen gibt« (Münzel 1988: 586). Aber wenn er gegessen hat, dann, so heißt es in einer verwandten Erzählung bei den Kayabí: »Dann geben wir ihm mit der Keule eins drauf« (Münzel 1988: 588) In der verkehrten, oder mystischen Welt der Internettrolle, die Trumps Heimat ist, wird die Lüge nicht als Waffe des Schwachen begriffen, sondern als Herausforderung des Starken zu einem Lügenduell. In Trumps Agitation gegen Barack Obamas vermeintlich gefälschte Geburtsurkunde finden sich Elemente von ›Yo Mama‹-Witzen, die übertroffen und nicht widerlegt werden wollen. Auch lässt Trumps biographische Nähe zum Wrestling den Schluss zu, dass er zentrale Elemente dieser Kunstform begriffen und in seine politische Strategie integriert hat. Roland Barthes beobachtete in seiner Analyse des Wrestlings: The public is completely uninterested in knowing whether the contest is rigged or not, and rightly so; it abandons itself to the primary virtue of the spectacle, which is to abolish all motives and all consequences: what matters is not what it thinks but what it sees (Barthes 1972: 15). Barthes stellt die These auf, dass die Zuschauer nicht (ausschließlich) von Sadismus motiviert werden, sondern von der Perfektion der Ikonographie von Momenten und letztlich, wie in ›Pippi Langstrumpf‹, von Langeweile (Barthes 1972: 23). Auf Trump bezogen bedeutet das, dass seine Fans nicht daran interessiert waren, ob er am Ende für seine Lügen bestraft würde, sondern an den kurzen Augenblicken, in denen er Clinton unter allen Gürtellinien spektakulär und auf völlig überraschende, ungewohnte Weise ›fertigmachte‹, sie imaginär ins Gefängnis steckte. Wenn der ›Schurke‹ sich hinter den Seilen versteckt, so darf und muss der Rächer die Gesetze brechen. Daher bewies jede aufgedeckte Lüge Trumps seinen Fans nur, wie verlogen erst Hillary Clinton sein musste, damit Trump zu solchen Mitteln greifen würde: »rules broken for the sake of a deserved punishment« (Barthes 1972: 21). Sein Sieg jedenfalls war ebenso theatralisch wie der eines Wrestlers: vom Kommentator angezählt und verloren geglaubt, trug er im letzten Moment zur Überraschung des Publikums den Gürtel davon. Diese selbst assoziative Gleichsetzung erklärt aber nicht das Rätsel, warum die politischen Gegner nicht adäquat und routiniert darauf reagieren konnten und warum der eigentlich klar abgegrenzte Raum des Wrestlings sich auf die reale Sphäre des Politischen ausbreiten konnte. Drei Elemente kommen hier zum Tragen: Die reale Ideologie, die Trump ausfeilte, die 238

ideologische Obdachlosigkeit, die nicht nur Frustration, sondern auch endlose Langeweile erzeugt, und, vielleicht am größten, die Ablenkung der Frustration auf ein Ziel: die Schwachen, die Minderheiten, die, denen es noch schlechter geht. Der Propagandist Trump Die empirische Größe der Glaubensfähigkeit der US-amerikanischen Wähler in die Mythen Trumps ist umstritten, aber der Anteil derer, die sie glaubten oder tolerierten war groß genug, um seinen Sieg zu verursachen. Um diesen Erfolg zu erklären erhalten die Studien über Agitatoren von Leo Löwenthal (1990) wieder Aufmerksamkeit. Trump erfüllt die Typologie des Agitators bei Löwenthal in Reinform und er wendete geschickt zahllose der Elemente an, die Adorno im Anschluss daran am Beispiel des Radiopredigers Martin Luther Thomas beschrieb: Das persecuted innocence device, das good old time device, die magic words, den fait accompli, den movement trick, die last hour und viele mehr (Adorno 2003). An einer Stelle aber sticht er heraus: Er ist keiner der great little men (Adorno 2003: 28), sondern ein Oligarch, der seinen Reichtum erbte. Seine zentrale Strategie war und blieb daher die Maskierung als Klassenkämpfer von unten, wie an seiner kryptomarxistisch anmutenden Inaugurationsrede deutlich wird. For too long, a small group in our nation’s capital has reaped the rewards of government while the people have borne the cost. Washington flourished, but the people did not share in its wealth. Politicians prospered, but the jobs left and the factories closed. The establishment protected itself, but not the citizens of our country. Their victories have not been your victories. Their triumphs have not been your triumphs. And while they celebrated in our nation’s capital, there was little to celebrate for struggling families all across our land … The wealth of our middle class has been ripped from their homes and then redistributed all across the world. But that is the past. And now we are looking only to the future.17 17

Siehe Donald J. Trump, 20.01.2017, The Inaugural Adress, https://www.whitehouse.gov/inaugural-address (02.10.2017), auch für die folgenden beiden eingerückten Zitate.

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Die eigentliche Lüge startet im Anschluss: That all changes – starting right here, and right now, because this moment is your moment. It belongs to you … From this day forward, it’s going to be only America first – America first. Every decision on trade, on taxes, on immigration, on foreign affairs will be made to benefit American workers and American families. We must protect our borders from the ravages of other countries making our products, stealing our companies, and destroying our jobs. Protection will lead to great prosperity and strength. I will fight for you with every breath in my body, and I will never, ever let you down. America will start winning again, winning like never before. Trump kopiert hier den Duktus der change-Parole seines Vorgängers Barack Obama, dessen Wahlkampf bereits ähnlich evangelikale Züge aufwies. Der Unterschied war, dass er zumindest in weiten Teilen ein echter Reformer blieb, der nach der Unterscheidung von Löwenthal Unzufriedenheit auf konkrete Ursachen hin verfolgte und diskutable, aber weitgehend konkrete, rationale Pläne ausarbeitete (Löwenthal 1990: 20), während Trump ein reiner Agitator bleibt, dessen ökonomische Pläne auf einen aggressiven Klassenkampf von oben hinauslaufen, während er die Frustration derer ausbeutet, die darunter leiden werden. Um das zu vertuschen, bediente sich Trump einer Strategie, die in der Ethnologie durch millenaristische CargoKulte bekannt wurde. We will bring back our jobs. We will bring back our borders. We will bring back our wealth. And we will bring back our dreams … We stand at the birth of a new millennium, ready to unlock the mysteries of space, to free the Earth from the miseries of disease, and to harness the energies, industries, and technologies of tomorrow. Ein kundiger Ethnologe hört hier heraus: »Die Ahnen haben uns Reichtum versprochen, aber die Eliten und Ausländer haben ihn uns weggenommen. Wir müssen eine Mauer bauen, um den Ahnen zu zeigen, wohin sie den Reichtum schicken sollen.« Im Unterschied zu den Cargo-Kulten haben Trump und auch die USA bereits die Produktionsmittel und Waren, die Cargo-Kulte verzweifelt zu kopieren suchen. Trumps Wahlsieg ruft jedoch 240

ins Gedächtnis, wie geheimnisvoll die kapitalistische Gesellschaft ihren eigenen Mitgliedern bleibt. Ökonomie verstehen heißt, Geschichte als eine von Klassenkämpfen, von ursprünglicher Akkumulation zu verstehen. Ethnologie bezeugt, wie verstörend deren Wirkung auf die Peripherie bleibt, die nur die Extreme kennenlernt. Die Lüge geht eher von den Gesellschaften aus, die ihre geschichtlich abgehängten Teile um echte Aufklärung betrügen und Ethnologen schicken, die kein Wissen liefern, sondern entwenden. Trump entblößt diese Lüge in seinem eingestandenen bürgerlichen Egoismus: America first. Die Welt ist nun einmal eine von allseitiger Konkurrenz und das nationalökonomische Primat gerät naturgemäß in Konflikt mit dem Versprechen einer Verbesserung der globalen Situation. Daher erscheint Trump in seiner zelebrierten Rücksichtslosigkeit gegen die Schwächeren seinen Anhängern ehrlicher als der Harmonismus der sozialdemokratischen und konservativen Parteien, der den Widerspruch zu verschleiern sucht. Die Wähler Trumps spürten vermutlich, dass kein wirklich aufrichtiges Gegenkonzept zu den Widersprüchen nationalökonomischer Wirtschaftsweise besteht. Der Trick Trumps war lediglich, eine Krise eines ›Crippled America‹ – so der Titel seines Buches (Trump 2015) – künstlich zu steigern, um den egoistischen Zusammenschluss der ›rücksichtslosen Vernünftigen‹ zu erzwingen. Bei aller multifaktorieller Rationalisierung: das wesentliche Moment der Trump‘schen Mythologie blieb die Kanalisierung von Aggressionen auf ausgewählte Ziele und Minderheiten. In seinen Mythen findet sich nichts von der Vieldeutigkeit, die den geschickten Mythenerzähler in Südamerika und Afrika oder Pippi Langstrumpf ausmacht. Trumps Mythen wollten kein Objekt erklären und daraus ergab sich ihre Beliebigkeit im Umgang mit Objekten. Mal ging es um Barack Obama, dann wieder um Hillary Clinton, dann wieder um den Ursprung des Reichtums der Nationen aus dem Erfolg der Eliten, aber stets war die Antwort ›Trump‹. Die Mythologie Trumps erklärt Trump. Solcher Narzissmus ist in der traditionellen Mythologie meist absent. Von Trumps Gegnern wiederum wurde nach dem Wahlkampf die paradoxe Hoffnung genährt, dass Trump mehr gelogen hätte als ohnehin schon: Dass er es nämlich mit seinen radikalsten Forderungen gar nicht ernst gemeint hätte und im Amt irgendwie zum gezähmten Geist Akúi würde. Dem war in aller Regel nicht so. Während aber recht viele nach der Wahl Trump eins ›mit der Keule‹ überziehen wollten, waren wesentliche 241

Grundbestände seiner politischen Versprechen in Europa längst Usus: die Grenzanlagen bei Ceuta und Melilla, die tödliche Mauer aus Wasser im Mittelmeer. Die Verachtung der Lügen Trumps durch europäische Politiker bekam dadurch ihre unwahren Aspekte, sie war lediglich Verachtung für den schlechten Lügner. Ethnologie und Positivismus Die Frage ist nun, ob wenigstens Ethnologie ihre und die Grenzen der Wahrheit kennt. McGrahanan veröffentlichte ihre an Trump durchgeführte ›Anthropologie der Lüge‹ im Organ der American Anthropological Association (AAA, siehe McGranahan 2017). Der Vorstand der gleichen Organisation hatte aber 2014 eine fact-finding mission zum Nahostkonflikt in Auftrag gegeben, um zu klären, ob der weltgrößte Ethnologenverband Israel boykottieren solle.18 Bemerkenswert an der so entstandenen Mythe ist zunächst der Stil des Eigenlobs, der sich durch Zeitverträge und damit einhergehende Bewerbungskultur und Exzellenzinitiativen eingebürgert hat: The association is well placed to offer AAA members a chance to gain an anthropologically informed perspective on the region and on the broader questions it raises, and to participate in productive conversations about them. Many AAA members have particular knowledge of both the region and its past, and many of us have deep knowledge of the anthropological questions that the region raises for all of us. Our members can provide us with a diverse and rich set of lenses through which to explore and understand these questions. Just as important, we have an opportunity here to develop and employ modes of mutually respectful exchange on controversial topics that can be illuminated from an anthropological perspective. Our engagement in this case will serve the Association well

18

Siehe ›Report to the Executive Board – The Task Force on AAA Engagement on Israel-Palestine”, http://www.americananthro.org/ParticipateAndAdvocate/ CommitteeDetail.aspx?ItemNumber=2247 (02.10.2017).

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now and in the future. After all, anthropologists work at understanding multiple perspectives for a living; indeed, it is one of our signature strengths.19 Dieser Stil ist weit entfernt von den skeptischen Ethnographien, aus denen das Fach einst seinen Anspruch begründete und er ist strukturell überraschend nah an Trumps egozentrischer Selbstreferentialität. Methodologisch basiert der Bericht auf Interviews, die von einem Team – einer ›Task Force‹ – binnen zehn Tagen gesammelt worden waren. Was den Inhalt angeht lässt sich die Mythe auch so erzählen: Einst gab es eine Zeit, in der es den Palästinensern gut ging. Sie hatten Wasser, Häuser, Universitäten. Dann kam aus dem Wald ein Geist, der jüdische settler colonialism. Er brachte alles Übel in die Welt: Kindersterblichkeit, kaputte Wasserpumpen und Bildungsnachteile. Wenn man diesen Geist mithilfe eines Boykottrituals, das durch exzellent geschulte, heroische US-amerikanische Ethnologenschamanen durchgeführt wird, wieder in den Wald verbannt, wird es allen wieder gut gehen. Hier endet der Mythos und er ähnelt ein wenig einer Mythe von den Aché: Die ursprünglichen Weißen hatten nichts als ihre Hände; Eisenäxte hatten sie nicht, Buschmesser hatten sie nicht, Kleider nicht, die Aché dagegen waren allesamt Besitzer von Vielem (Kimiragi in Münzel 1986: 206). Eine historisch-kritische Ethnologie würde gegen den Bericht der AAA anmerken, dass der ›Task-Force‹-Schamane uns etwas verschwiegen hat: die Korruption der palästinensischen Autonomiebehörde, die vielleicht an den kaputten Wasserpumpen schuld sein könnte. Der terroristische Islamismus von Hamas, Fatah und PFLP, der zur Notwendigkeit von Razzien auch in Universitäten führen könnte. Eine Alltagskultur des genozidalen Antisemitismus, die dem Konflikt zugrunde liegen könnte. Aber der Mythos verfing trotz oder wegen dieser Auslassungen und trug maßgeblich dazu bei, die Kampagne für den Boykott Israels in der AAA zu verankern, dem letztlich immerhin 49% der Mitglieder zustimmten. Die Vorsitzende der AAA, Alisse Waterston, bekräftigte trotz der knappen Ablehnung die

19

Hervorhebungen durch den Autor.

243

aktive Unterstützung der AAA-Führung für die Boykottbefürworter.20 So zeigte eine Institution, deren humanistisches Selbstbild sich weit von Trump entfernt wähnt, objektiv dieselbe Bereitschaft, reale Widersprüche und realen Handlungsbedarf auf Kosten von entfernten Minderheiten zu lösen. Nur dass dieser Minderheit nicht empfohlen wurde, eine Mauer gegen Flüchtlinge und Arbeitsmigranten zu finanzieren, sondern eine Mauer und angeschlossene Zäune abzubauen, bevor die Gefahr durch Selbstmordattentate gebannt ist. Andere ethnologische Verbände verhielten sich schweigend gegenüber diesen neu etablierten methodologischen Standards aus den USA und das ist – nimmt man Münzel ernst – auch eine Form des Mythos: Ein Mythos ist … keine bestimmte Erzählung, sondern ein Ensemble von Vorstellungen, die sich u.a. in Erzählungen, aber auch in Plakaten, Liedern, Nachahmungshandlungen, Grausamkeiten oder auch im Gegenteil des Sprechens, in ängstlichem Schweigen äußern (Münzel 1992: 82-83). Epilog Wer die Ethnologie interessiert betritt, steht früher oder später vor einer Entscheidung: Wird er ein ›weißer‹ Ethnologe, der dem Guten folgt, die schönen Seiten der Kulturen aufsucht, die Kulinarik, die Musik, die Sprache, die Kunst, die Mythen, Tänze und Träume und dadurch für seine Umwelt ein recht angenehmer Zeitgenosse mit lustigen Anekdoten und Geschichten. Oder wird er ein ›dunkler‹ Ethnologe, der zuerst den bösen Seiten der Kulturen nachspürt, der Gewalt, der Misogynie, den Gerüchten und Gehässigkeiten, den Alpträumen, bösen Geistern, von denen Mitmenschen lieber nicht hören wollen, weil sie insgeheim doch fürchten, sich daran anzustecken. Wie immer man sich entscheidet: in der Feldforschung wie im akademischen oder privaten Leben hat man es nun einmal auch mit Menschen zu tun, die mal mehr und mal weniger unter ökonomischem und sozialem

20

Siehe ›Public Letter by Alisse Waterston, 24.6.2016‹, http://www.americananthro.org/ParticipateAndAdvocate/AdvocacyDetail.aspx?ItemNumber=20835&navItemNumber=592 (02.10.2017).

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Druck angeknackst oder zerbrochen sind, die sich ihr Elend mal mit Drogen, mal mit Projektionen vertrösten und die kuriosesten Dinge sich ausdenken, die Pippi Langstrumpfs Mythen in den Schatten stellen. Sie suchen nach Ersatzreligionen. Das ist in den Wissenschaften nicht anders. Der Verlust der Selbstironie – der kultivierten Trauer um die verlorene Identität – im an der Außenseite hochpolierten akademischen Betrieb macht aus Ethnologie selbst eine Lüge: Dass ein großes, ernstes Geheimnis in der Kultur der Anderen zu finden sei, an dem das Eigene lernen und gesunden könnte. Ernsthafte Ethnologie steht daher als die dramaturgische Geschichtenerzählerin, als Komödiantin, als die sie Münzel verstanden wissen wollte, eher auf der Seite Pippi Langstrumpfs als auf der der Empiristen, die biestig von sich behaupten, dass sie niemals lügen wollen und immer die Wahrheit sagen, wodurch sie die eigene Erfahrung im Umgang mit Lüge, Wahrheit, Propaganda, Mythos und ihren ganzen Hybriden verlernen. »Ach, wie dumm du bist, Annika«, sagte Thomas. »Pippi lügt nicht richtig, sie tut nur, als ob das, was sie sich ausgedacht hat, gelogen ist, Verstehst du das nicht, du Dummerjan?« Pippi sah Thomas nachdenklich an. »Mitunter redest du so klug, daß ich fürchte, es wird etwas Großes aus dir«, sagte sie (Lindgren 1973a: 170). Literatur Adorno, Theodor W. 1979a [1962]. Aberglaube aus zweiter Hand. In: Theodor W. Adorno Soziologische Schriften I. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 91-132. —— 1979b [1957]. The Stars down to Earth. In: Theodor W. Adorno Soziologische Schriften II.2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 7-120. —— 2003 [1943]. The Psychological Technique of Martin Luther Thomas’ Radio Adresses. In: Theodor W. Adorno Soziologische Schriften II.1. Frankfurt am Main: Suhrkamp,7-143. Adorno, Theodor W. und Max Horkheimer 1969 [1944]. Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main: Fischer. Barnes, John A. 1994. A Pack of Lies: Towards a Sociology of Lying. Cambridge: Cambridge University Press. Barthes, Roland 1972 [1957]. Mythologies. New York: Hill and Wang. 245

Comaroff, Jean und John Comaroff 1993. Modernity and It’s Malcontents: Ritual and Power in Postcolonial Africa. Chicago: University of Chicago Press. Evans-Pritchard, Edward E. 1976 [1937]. Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande. Oxford: Clarendon Press. Frazer, James George 1994 [1890]. The Golden Bough: a New Abridgement. Oxford: Oxford University Press. Lévy-Bruhl, Lucien 1966 [1927]. Die geistige Welt der Primitiven. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Lindgren, Astrid 1967. Pippi Langstrumpf. Hamburg: Oetinger. —— 1973a. Pippi Langstrumpf geht an Bord. Hamburg: Oetinger. —— 1973b. Pippi Langstrumpf in Taka-Tuka-Land. Hamburg: Oetinger. Löwenthal, Leo 1990 [1948]. Falsche Propheten. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Marx, Karl 1844. Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Berlin: Dietz, 378-391. McGranahan, Carole 2017. An Anthropology of Lying: Trump and the Political Sociality of Moral Outrage. American Ethnologist 44 (2), 243-248. Münzel, Mark 1986. Indianische Oralkultur der Gegenwart. In: Birgit Scharlau und Mark Münzel Qellqay: Mündliche Kunst und Schrifttradition der Indianer Lateinamerikas. Frankfurt am Main: Campus, 155-258. —— 1988. Der spielerische Sieg über die Dämonen. In: Mark Münzel Die Mythen sehen: Bilder und Zeichen vom Amazonas. Frankfurt am Main: Museum für Völkerkunde, 571-627. —— 1992. Die Kreativität einer Guaraní-Mythe. In: Karl-Heinz Kohl (Hg.) Mythen im Kontext: Ethnologische Perspektiven. Frankfurt am Main: Campus, 79-105. Reik, Theodor 1973. Dogma und Zwangsidee. Stuttgart: Kohlhammer. Riedel, Felix 2016. Hexenjagd und Aufklärung in Ghana: Von den medialen Inszenierungen des Okkulten zur Realität der Ghettos für Hexenjagdflüchtlinge. Köln: Köppe. Salamone, Frank A. 1977. The Methodological Significance of the Lying Informant. Anthropological Quarterly 50 (3), 117-124. Trump, Donald 2015: Crippled America: How to Make America Great Again. New York: Simon & Schuster. Van Herpen, Marcel H. 2016. Propaganda und Desinformation: Ein Element ›hybrider‹ Kriegsführung am Beispiel Russland. Aus Politik und Zeitgeschichte, 35-36. 246

Ingo W. Schröder

Verweigerung Ein neues/altes Konzept in der Analyse indigener Dekolonisierung Dieser Beitrag bezieht seine Inspiration vom Titel des von Mark Münzel herausgegebenen rororo-Taschenbuchs ›Die indianische Verweigerung‹ von 1978 sowie dem Geist von Münzels engagierter Ethnologie jener Zeit. Wie sich gezeigt hat, nahm der Titel dieses Buches den zentralen Begriff einer aktuellen Debatte um indigene Dekolonisierung vorweg. Ich nehme ihn in diesem Essay zum Anlass, einige vorläufige Überlegungen zur Relevanz des Konzepts der ›Verweigerung‹ im ethnologischen Kontext, insbesondere im Falle indigener Gesellschaften Kanadas, im Spannungsfeld eines politisch-philosophischen Postulats und ethnographischer Realität anzustellen. Im deutschsprachigen Raum ist die Idee der ›großen Weigerung‹ zehn Jahre zuvor durch Herbert Marcuses Buch ›Der eindimensionale Mensch‹ (1967) bekannt geworden, das einen bedeutenden Einfluss auf die Vorstellungen von Widerstand in der Neuen Linken der 1960er Jahre ausgeübt hat. Marcuses These, die sich aus der Forschungstradition der Frankfurter Schule zur Durchsetzung autoritärer Herrschaft auf unterschiedlichen Ebenen der Gesellschaft ableitet, besagt, dass nur die Verweigerung gegenüber allen Formen der Unterdrückung, Herrschaft und Macht das eindimensionale Denken überwinden kann, das bestehende Strukturen, Normen und Verhaltensmuster ebenso unkritisch akzeptiert wie die Entfremdung des Individuums. Auf ihrer fortgeschrittensten Stufe fungiert Herrschaft als Verwaltung, und in den überentwickelten Bereichen des Massenkonsums wird das verwaltete Leben das gute Leben des Ganzen, zu dessen Verteidigung die Gegensätze vereinigt werden. Das ist die reine Form der Herrschaft. Umgekehrt erscheint ihre Negation als die reine Form der Negation. Aller 247

Inhalt scheint auf die eine abstrakte Forderung nach dem Ende der Herrschaft reduziert – das einzig wahrhaft revolutionäre Erfordernis und das Ereignis, das die Errungenschaften der industriellen Zivilisation bestätigen würde. Angesichts ihrer wirksamen abschlägigen Beantwortung durch das bestehende System erscheint diese Negation in der politisch ohnmächtigen Form der ›absoluten Weigerung‹ (Marcuse 1967: 266). In der Essenz von Marcuses Aussagen finden sich erstaunliche Anklänge an gegenwärtige Debatten um Verweigerung im kolonialen Kontext, wie weiter unten deutlich wird. Marcuse selbst hat es versäumt, jenseits der Negation einen – im gramscianischen Sinne – gegenhegemonialen Entwurf revolutionärer Identitätsfindung zu konkretisieren, doch es mangelt seitdem nicht an Versuchen, Elemente der ›großen Weigerung‹ in verschiedenen antisystemischen politischen Bewegungen der Gegenwart, wie etwa ›Occupy‹, zu identifizieren (vgl. Cassidy 2016). Auf klassischem ethnologischen Terrain, dem Feld von Indigenität, Kolonialismus und Dekolonisierung, hat das Konzept der Verweigerung in den letzten Jahren eine erstaunliche Popularisierung erfahren, die sich jüngst in einer Sektion der Zeitschrift ›Cultural Anthropology‹ (2016) niedergeschlagen hat. Die Vorstellung findet sich zwar bereits in Frantz Fanons Schriften zur Dekolonisierung (vgl. Fanon 2008), wurde jedoch in der Postkolonialismus-Debatte lange Zeit wenig beachtet. Offenbar trifft sie heute – gerade unter indigenen Intellektuellen – den Nerv einer Zeit der Unzufriedenheit mit klassischen Paradigmen des postkolonialen Diskurses, der die Persistenz kapitalistischer Landnahme, des Genozids und der Unterbindung adäquater sozialer Reproduktion subalterner Gruppen übersieht. Ein erster Versuch, Verweigerung auf der Grundlage der gegenwärtigen Debatte, unter stärkerer Betonung lokaler Handlungsmacht als bei tendenziell reaktiven Praxen wie Widerstand, systematisch zu theoretisieren, bietet ebenso wenig eine konzise Definition wie weiland Marcuse, streicht allerdings die folgenden Charakteristika heraus: (1) Verweigerung ist kreativ und produktiv; (2) Verweigerung ist ein sozialer und kooperativer Akt; (3) Verweigerung ist nicht nur ein anderes Wort für Widerstand, sie impliziert Kritik und eine spezifische Theorie des Politischen; (4) Verweigerung als »insistence on the possible over the probable« ist ein Ausdruck der Hoffnung (McGranahan 2016: 322-323). 248

Zwei ausgefeilte analytische Auseinandersetzungen mit dem Konzept der Verweigerung, auf die ich im Folgenden näher eingehen will, stammen aus der Feder zweier indigener Intellektueller aus Kanada, der MohawkEthnologin Audra Simpson (2014, 2016, 2017) und des Yellowknife DenePolitikwissenschaftlers Glen Coulthard (2014). Sie eröffnen eine neue Perspektive auf die koloniale Gegenwart Nordamerikas, indem sie feststellen, dass das Bemühen indigener Gruppen um die Anerkennung bestimmter Rechtsansprüche nicht zur Überwindung der kolonialen Situation führt, sondern zu ihrer Fortschreibung beiträgt. Simpsons Studie über die Mohawk von Kahnawake in Québec analysiert die Auseinandersetzung um die Inkorporation der Mohawk vom Beginn der europäischen Landnahme bis zur rezenten Vergangenheit und Gegenwart des kanadischen und USamerikanischen Kolonialismus. Simpson argumentiert, dass sich im Verlauf dieses Prozesses eine spezifische Form indigener Identifikation (citizenship) herausgebildet hat (2014: 188). Sie hat der Vereinnahmung durch alle Kolonialmächte widerstanden und diese Historie der Verweigerung wird heute als konstitutives Element eines lokalen Verständnisses politischen Handelns wahrgenommen. Strategien der Verweigerung blicken einerseits auf eine lange Geschichte der Wahrung lokaler Souveränität im kolonialen Kontext zurück, zum anderen schlägt Simpson explizit einen Bogen zur Situation im Kanada der Gegenwart, in der eine Politik unmittelbarer kolonialer Zwangsausübung durch neue Strategien des toleranten Managements kultureller Differenz, der Aufarbeitung früheren kolonialen Unrechts und, parallel zur neoliberalen Aneignung indigenen Landes, Verhandlungen um die Anerkennung von Landrechten und Kompensation für historisches Unrecht abgelöst worden ist. Solche Praxen liberal-demokratischer staatlicher Vereinnahmung mittels der Anerkennung bestimmter Rechte seien allerdings nichts anderes als eine Fortsetzung des kolonialen Projekts mit anderen Mitteln, durch die Etablierung eines neuen hegemonialen Diskurses, der ein Vokabular von ›Rechten‹ und ›Staatsbürgerschaft‹ zur Verklärung von Unterdrückung und Eliminierung Indigener auf verschiedenen Ebenen etabliert hat. Verweigerung, so Simpson, ist die einzige Möglichkeit, auf eine tatsächliche Dekolonisierung hinzuarbeiten. Darüber hinaus betont sie, dass Verweigerung kein bloßes abstraktes Konzept ist, sondern eine Haltung lokaler Akteure, aus deren ethnographischer Rezeption sich eine Theorie ›von unten‹ formulieren lässt:

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The people I work with refuse the eliminatory efforts of the state. They operate as nationals in a scene of wardship and dispossession. They … operate from a … flagrantly self-assured position, and from an impossible-to-record, or to-analyze, easy answer. My ethnographic prerogative is to make the practice of ethnography itself a refusal in time with theirs (2016: 331). Im Gegensatz zu Simpsons ethnographiebasiertem Ansatz setzt sich Glen Coulthard in seinem lebhaft diskutierten (vgl. Webber 2016) Buch ›Red Skin, White Masks‹ (2014) auf der theoretischen Basis der Werke von Fanon und Marx in einer eher politisch-philosophischen Weise mit der Vereinnahmung indigener Gesellschaften durch den kolonialen Staat auseinander. Auch Coulthard bestreitet dezidiert, dass durch staatlich initiierte Prozesse der Anerkennung und Versöhnung die asymmetrische Beziehung zwischen indigenen Gesellschaften und dem kanadischen Staat ernsthaft verändert werden kann. Im Gegenteil, letztendlich würden koloniale Strukturen und die Fortsetzung kapitalistischer Landnahme nur bestätigt, wenn indigene Gesellschaften sich mit dem vom kanadischen Staat gewährten Status identifizierten. Anerkennung indigener Rechte, so Coulthard, kann nicht als Schritt in Richtung auf Freiheit und Souveränität verstanden werden, sondern als Reproduktion eines politischen Kontexts, in dem koloniale Machtverhältnisse festgeschrieben sind. Die Gewinnung politischer Subjektivität jenseits der Grundprinzipien des kolonialen Staates mit all seinen institutionellen, ökonomischen und ideologischen Druckmitteln ist nahezu, allerdings nicht vollständig, unmöglich. Wie andere indigene Theoretiker/Aktivisten – an prominenter Stelle seien hier der Mohawk-Politikwissenschaftler Taiaiake Alfred (2009a, 2009b) und die Nishnaabeg-Autorin Leanne Simpson (2008, 2011) erwähnt – ruft Coulthard die indigenen Gesellschaften Kanadas dazu auf, dem assimilativen Reformismus eines staatlich sanktionierten Regimes liberaler Anerkennung den Rücken zu kehren und eine Politik der Revitalisierung ›traditioneller‹, präkolonialer Wertvorstellungen und Praxen voranzutreiben. Allein die Verweigerung der auf Einforderung von Rechtsansprüchen basierenden De-facto-Kollaboration mit dem kanadischen Staat kann den Weg bereiten für eine ›indigene Renaissance‹ (indigenous resurgence) – eine häufig in diesem Zusammenhang verwandte Chiffre für eine präfigurative Politik der Vorwegnahme echter Dekolonisierung in kleinen 250

Schritten. Coulthard schließt sein Buch mit dem programmatischen Statement: What our present condition does demand, however, is that we begin to approach our engagements with the settler-state legal apparatus with a degree of critical self-reflection, scepticism, and caution that has to date been largely absent in our efforts. It also demands that we begin to shift our attention away from the largely rights-based/recognition orientation that has emerged as hegemonic over the last four decades, to a resurgent politics of recognition that seeks to practice decolonial, gender-emancipatory, and economically nonexploitative alternative structures of law and sovereign authority grounded on a critical refashioning of the best of Indigenous legal and political traditions (2014: 179). Die indigenen Politikwissenschaftler Taiaiake Alfred und Jeff Corntassel haben in einem oft zitierten Artikel über die Frage reflektiert, wie eine indigene Renaissance theoretisch und praktisch erfasst werden kann: The challenge of ›being Indigenous‹, in a psychic and cultural sense, forms the crucial question facing Indigenous peoples today in the era of contemporary colonialism – a form of post-modern imperialism in which domination is still the Settler imperative but where colonizers have designed and practice more subtle means (in contrast to the earlier forms of missionary and militaristic colonial enterprises) of accomplishing their objectives (2005: 597-598). Auf der theoretischen Ebene verweisen sie auf das Potential der von Indigenen entwickelten Konzepte wie die Idee der ›Vierten Welt‹ von George Manuel (Manuel und Posluns 1974) oder das Konzept der peoplehood von Tom Holm (Holm et al. 2003) und konstatieren: »Being Indigenous means thinking, speaking, and acting with the conscious intent of regenerating one’s indigeneity« (Alfred und Corntassel 2005: 614). Wie solche philosophischen Überlegungen in eine politische Praxis der Verweigerung gegenüber jedweder Strategie kolonialer Vereinnahmung übersetzt werden können, ist eine prinzipiell offene Frage, bei deren Beantwortung man den Blick auf zwei aktuelle Beispiele indigenen Widerstands in Kanada richten kann. Die Bewegung ›Idle No More‹ wird immer 251

wieder – so auch explizit von Coulthard – als Modellfall dekolonialer Verweigerung zitiert (vgl. Barker 2015, Coates 2015, Kino Nda Niimi Collective 2014). ›Idle No More‹ – der Name ist einem Teach-in an der University of Saskatchewan in der Frühphase der Bewegung entlehnt – ist eine nationale indigene Bewegung, die 2012 aus landesweiten lokalen Protesten gegen ein indigene Rechte beschneidendes Gesetzespaket und Solidaritätsbekundungen mit dem Hungerstreik von Chief Theresa Spence im Protest gegen die unhaltbaren sozialen und ökologischen Zustände in ihrer Reservation von Attawapiskat entstand. Im Winter 2012/13 dominierte die Bewegung die kanadische Öffentlichkeit mit zahlreichen Demonstrationen und anderen publicityträchtigen Aktionen. Bis heute besteht ›Idle No More‹ in kleinerem Rahmen fort und machte 2016 mit Besetzungen von Büros der kanadischen Indianerbehörde (INAC) und einem ›Colonialism No More‹-Camp in Regina erneut von sich reden. In ähnlicher Weise wie das ›American Indian Movement‹ in den USA der 1960er und 1970er Jahre verortet sich ›Idle No More‹ bewusst als horizontal organisierte Graswurzel-Bewegung außerhalb staatlich akzeptierter politischer Organisationen und Praxen und positioniert sich auch in Opposition zur institutionellen indigenen politischen Elite Kanadas. Der indigene Künstler/Aktivist Jarrett Martineau formuliert es wie folgt: Idle No More’s ›winter of discontent‹ expressed a collective surfacing of decolonial consciousness that shifted the terrain of struggle by refusing established modalities of resistance – lawful, expected and existent forms of ›protest‹ – and creatively interjecting new forms of collective action into public discourse. The movement disrupted the expected terms of Indigenous engagement with Settler society, and brought Canada’s colonial foundation into full view and contestation (2016: 243). In jüngster Zeit wird der Widerstand gegen die Northern Gateway-Pipeline als weiteres Beispiel für Verweigerung herangezogen (vgl. McCreary und Milligan 2014, Veltmeyer und Bowles 2014, Wood und Rossiter 2017). Die Northern Gateway-Pipeline der Firma Enright Oil sollte die Verbindung zwischen den Ölsand-Feldern im Norden Albertas und dem Hafen Kitimat in British Columbia herstellen und dabei Ländereien durchqueren, die von mehreren indigenen Gruppen beansprucht werden. Mittlerweile ist die

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Durchführung des Projekts angesichts vielfacher lokaler Widerstände auf Eis gelegt. Verweigerung spielt sich in diesem Kontext auf zwei Ebenen ab. Zum einen findet sie ihren Ausdruck im diskursiven Kontext, in der Nicht-Anerkennung der Autorität des kanadischen Staates über indigenes Land und dem Beharren auf territorialen Ansprüchen und dem Recht, an lokalen Vorstellungen von Politik und Moral festzuhalten. Entsprechende Äußerungen finden sich in den Aussagen von Vertretern der betroffenen Gruppen in Hearings vor dem Joint Review Panel des ›National Energy Board of Canada‹, dem ebenfalls explizit die Anerkennung verweigert wird. Zum anderen äußert sich eine Haltung der Verweigerung in verschiedenen Formen des politischen Aktivismus gegen den Bau der Pipeline. Die ›Yinka Dene Alliance‹, ein Zusammenschluss von sechs indigenen Gruppen im nördlichen British Columbia (Nadleh Whut’en, Nak’azdli, Takla Lake, Saik’zu, Wet’suwet’en und Tl’azt’en First Nations) trug den Protest gegen das Pipeline-Projekt und die indigene Perspektive erfolgreich in die Öffentlichkeit (siehe http://yinkadene.ca). Eine deutlich radikalere Strategie verfolgen die sich als ›Kriegerorganisation‹ verstehenden Aktivisten des Unist’ot’en-Segments des GilseyhuKlans der Wet’suwet’en (älteren Ethnologen noch als Carrier oder Sekani bekannt), die auf der geplanten Route der Pipeline eine Blockade (›Unist’ot’en Camp‹) errichteten. Dies führte nicht nur zu gelegentlichen Konfrontationen mit der RCMP, sondern auch zu massiven Spannungen innerhalb des Klans, dessen gewählte Chiefs mehrheitlich für eine Zusammenarbeit mit Enright Oil eintraten. Der ›Unist’ot’en Pipeline Standoff‹ steht somit für eine militante Form der Verweigerung kolonialer Kooperation und kolonial sanktionierter indigener Institutionen und die Rückbesinnung auf indigene Formen politischen Handelns. The Grassroots Wet’suwet’en do not operate from a boardroom or from a societies act, they walk and breathe their laws with a powerful and unbreakable marriage to the land. The Grassroots peoples of the Wet’suwet’en are healers, warriors, elders, hunters, fisher people, knowledge keepers, and are culturally driven. The Grassroots peoples have a great potential

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to reverse impacts from colonization and eradicate the resultant social and spiritual poverty by continuing to show the next generations to walk with their laws.1 Was lässt sich nun aus diesem kurzen Abriss in Bezug auf die analytische Reichweite des Konzepts der Verweigerung ableiten? Meines Erachtens eignet es sich zunächst einmal dazu, auf einige Merkmale – vielleicht gar Defizite – ethnologischer Forschung und Analytik der Gegenwart hinzuweisen. Man bedenke, dass die Idee der Verweigerung jenseits der Frankfurter Schule ein zentrales Element anarchistischer politischer Philosophien darstellt. Um auf Details anarchistischer Konzepte einzugehen, mangelt es an dieser Stelle an Platz, daher sei nur kurz darauf verwiesen, dass sich solche Konzepte als hilfreich erwiesen haben, um einerseits eine gesellschaftliche Strategie der Verhinderung interner Hierarchiebildung in nicht-staatlichen Gesellschaften zu beschreiben (vgl. Angelbeck und Grier 2012, Clastres 1987, Gibson und Sillander 2011, Macdonald 2011), zum anderen speziell die Ablehnung der Inkorporation in staatliche Strukturen bzw. des Staates an sich. Während erstere Perspektive mit einer langen Tradition ethnologischer Beschäftigung mit sogenannten ›egalitären Gesellschaften‹ koinzidiert, wurde letztere in der ethnologischen Diskussion erst in jüngster Zeit durch die Rezeption der Arbeiten von David Graeber (2004, 2013) und James C. Scott (2009) populär, wobei insbesondere Graebers dezidiert ethnologische Lesart von Anarchismus keineswegs unumstritten ist (Buier 2014). Während die Auseinandersetzung mit anarchistischen Ideen in der Geschichte der Ethnologie also ein eher marginales Dasein gefristet hat, sind die Einflüsse bürgerlich-liberaler und marxistischer Theorie mit ihrer Fokussierung auf Staat und Institutionen vom Beginn ethnologischer Theoriebildung an sehr viel deutlicher spürbar und mit verantwortlich für die – möglicherweise – überproportionale Aufmerksamkeit, welche die Ethnologie in den letzten fünfzig Jahren dem Staat als allumfassender organisatorischer Struktur jeglicher Art politischen Handelns gewidmet hat, während nicht-staatsfokussierte gesellschaftliche Praxen und Ideen vernachlässigt wurden. In gleicher Weise wurden Prozesse der Akkulturation, der Adaptation kolonisierter Gesellschaft an den kolonialen Staat als prinzipiell einzige Reaktion auf den Kolonialismus betrachtet und

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Siehe https://unistotencamp.wordpress.com (10.02.2017).

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historische Beispiele für Verweigerung der Interaktion mit den Kolonialmächten weitaus weniger ausführlich gewürdigt. Was kann also die Reichweite eines Konzepts wie Verweigerung sein – in einem Kontext wie dem gegenwärtigen indigenen Kanada, wo eine Vermeidung der kolonialen Interaktion wie zu Zeiten des Ausweichens in Räume jenseits der ›Grenze‹ nicht mehr möglich und ein permanentes Aushandeln lokaler Interessen gegenüber den Institutionen, Alltagspraxen und hegemonialen Diskursen des kolonialen Staates offenkundig unvermeidlich ist? Mir scheint, dass ein Fokus auf Verweigerung – abgesehen von ihrer Relevanz als Aspekt einer indigenen politischen Philosophie der Dekolonisierung – bedeutsame neue Perspektiven auf vergangene und gegenwärtige Praxen der Auseinandersetzung mit dem euro-amerikanischen Kolonialismus eröffnet. Dabei repräsentieren die oben erwähnten Studien von Simpson und Coulthard idealtypisch zwei unterschiedliche Herangehensweisen. Simpson steht für eine diachrone Perspektive, welche die Longue Durée der Verweigerung als Strategie der Auseinandersetzung indigener Gesellschaften mit dem Kolonialismus in den Blick nimmt. Ähnlich wie Angelbeck und Grier (2012) durch die Anwendung anarchistischer Konzepte einen neuen Blickwinkel auf die Geschichte der Coast Salish erschlossen haben, kann ein solches Unterfangen einen differenzierteren Blick auf autonome indigene Handlungsmacht jenseits der klassischen Dichotomie von Widerstand und Anpassung eröffnen. Ferner lenkt diese Perspektive die Aufmerksamkeit auf die Frage, inwiefern die Erinnerung an historische Momente der Verweigerung in ähnlicher Weise wie von Simpson für die Mohawk beschrieben, ein bedeutsames Element lokaler Identifikation darstellt. Coulthard repräsentiert eine eher synchrone Perspektive, die Fälle indigener Verweigerung mit anderen Theorien, Arenen und Praxen kontextualisiert. Insbesondere lässt sich ein Bezug zu theoretischen Überlegungen anhand des Konzepts der Post-Politik als Charakteristikum gegenwärtiger neoliberaler Herrschaftsausübung herstellen. Solche Ansätze argumentieren, dass in der post-politischen Konstellation alles außer einer radikalen, ja gewaltsamen Verweigerung von subalternen Akteuren als eine Fortschreibung herrschender Zustände empfunden wird, da tatsächliche Kontroversen im Feld der Politik nicht mehr ausgetragen werden (vgl. Swyngedouw 2011, Wilson und Swyngedouw 2014). Für die schärfere analytische

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Fixierung des Konzepts der Verweigerung als Strategie der Dekolonisierung könnten andere Kontexte herangezogen werden, in denen Verweigerung als gegen-hegemoniale Praxis beschrieben ist – man denke an die schon auf Paul Lafargue (1884) zurückgehende Idee der Verweigerung von Lohnarbeit oder die Verweigerung des staatlich verordneten Wehrdienstes (vgl. Weiss 2014). Bleibt man auf dem Boden konkreter Ethnographie, stellt sich die Frage, ob Kolonialismus in seiner ubiquitären Präsenz und gerade in seinem aktuellen neoliberalen Gewand überhaupt nachhaltig verweigert werden kann. Darüber hinaus zeigt sich, dass Verweigerung, wenn sie auch theoretisch die nachhaltigste Strategie der Ablehnung kolonialer bzw. kapitalistischer Regimes ist, in der Praxis gewöhnlich nicht in ihrer absoluten marcusianischen Form, sondern als Bestandteil eines Ensembles widerständiger Praxen anzutreffen ist. Die jüngste Vergangenheit der Auseinandersetzung kanadischer indigener Gesellschaften mit dem kolonialen Staat hat gezeigt, dass das Repertoire widerständiger Praxen ebenso differenziert ist wie die Interessenlagen und Vorstellungswelten der beteiligten Akteure. Diese Praxen decken ein Spektrum ab, das sich von militantem Widerstand (wie dem Unist’ot’en Camp) über politischen Aktivismus auf unterschiedlichen organisatorischen Ebenen (vom Graswurzel-Aktivismus Idle No Mores bis zur eher konservativen Lobbyarbeit der Assembly of First Nations) bis hin zu juristischen und quasi-juristischen Arenen (Landrechtsprozesse, staatliche Untersuchungskommissionen) erstreckt. Die Frage, was hierbei Dekolonisierung ausmacht, sollte letztendlich nicht am Schreibtisch des Wissenschaftlers entschieden werden, sondern von den indigenen Akteuren selbst. Der Bezug auf das Konzept der Verweigerung soll daher nicht als ein Aufruf zu einer radikalen Neubewertung indigener Politik verstanden werden, sondern vielmehr als eine Anregung, diese Lesart indigenen Widerstands stärker in den Fokus zu rücken und intensiver theoretisch zu durchleuchten. Schlussendlich schließt Verweigerung auch die Ablehnung der klassischen ethnographischen Forschungskonstellation ein. Der Ethnologe sollte gewahr sein, dass Verweigerung auch ihm eine Positionierung abverlangt, die nicht immer den Gepflogenheiten wissenschaftlicher Distanz entspricht und an den altbekannten – und nicht unproblematischen – Anspruch indigener Intellektueller an ethnologische Forschung gemahnt, sich mehr an den Interessen der Kolonisierten als an den Interessen einer abs-

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trakten Wissenschaftlichkeit zu orientieren. Simpson fordert in dieser Tradition, wie oben zitiert, dass ethnographische Praxis eine lokale Position der Verweigerung nicht nur beschreiben, sondern verstärken müsse. Eine weitere Ebene indigener Verweigerung bezieht sich auf die Ablehnung westlicher Epistemologien als akademischer Variante eines kolonialen Diskurses. Ein aktuelles Beispiel hierfür liefert die indigene Kritik an ethnologischen Studien aus dem Umfeld der so genannten »ontologischen Wende« (vgl. Hunt 2014, Todd 2016). Indigene Verweigerung auf solch breiter Ebene lässt somit dem Ethnologen nicht mehr die Möglichkeit, sich auf eine Position des Analytikers oder ›Übersetzers‹ zurückzuziehen, sondern verlangt eine Identifikation und Kooperation mit den Interessen und Zielen indigener Akteure im Sinne einer militant ethnography, wie sie in jüngster Vergangenheit im Kontext sozialer Bewegungen eingefordert worden ist (vgl. Juris und Khasnabish 2013): Militant ethnography seeks to overcome the divide between research and practice. Rather than generating sweeping strategic and/or political directives, collaboratively produced ethnographic knowledge aims to facilitate ongoing activist (self)reflection regarding movement goals, tactics, strategies, and organizational forms (Juris 2007: 165). Diese kurze Skizze verschiedener Aspekte des Konzepts der Verweigerung hat das Potenzial seiner Anwendung nur anreißen können. Es bleibt weiteren Schritten theoretischer und praktischer Aneignung überlassen, dieses Potenzial weiter auszuschöpfen. Das damit verbundene Ziel der tatsächlichen Unterstützung der Dekolonisierung subalterner, indigener Gruppen sollte ein Anliegen sein, dem sich jeder Ethnologe verpflichtet fühlt. Literatur Alfred, Taiaiake 2009a. Peace, Power, Righteousness: An Indigenous Manifesto. Don Mills: Oxford University Press. —— [2005]. Wasáse: Indigenous Pathways of Action and Freedom. Toronto: University of Toronto Press.

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Ulrike Krasberg

Europa und das nationale Selbstbild Griechenlands

Als ich im Frühsommer 2000 in der Zeitung las,1 Griechenland habe sein Staatsdefizit soweit in den Griff bekommen, dass die Europäische Zentralbank (EZB) der Mitgliedschaft des Landes in der Währungsunion grünes Licht gab, war ich maßlos verblüfft. Wie konnte das sein? Griechenland hatte die Maastricht-Kriterien erfüllt, während Deutschland in dieser Zeit seine Verschuldungsrate nicht auf das von der EU vorgeschriebene Maß bringen konnte? – Mein Griechenland-Bild war in seinen Grundfesten erschüttert. Natürlich glaubte ich an den ökonomischen Sachverstand in Brüssel und der EZB. Wenn die verkündeten, Griechenland habe die Voraussetzungen für die Aufnahme erfüllt, musste das ja wohl stimmen. Insgeheim tat ich Abbitte und versuchte, mir meine Freunde in Griechenland als redliche und zuverlässige Steuerzahler vorzustellen. Als ein paar Jahre später bekannt wurde, dass Griechenland seine Daten frisiert hatte, war mein Weltbild wieder in Ordnung. Die Regierung hatte passend gemacht, was nicht passte und ihr Ziel, in die Währungsunion aufgenommen zu werden, erreicht, ganz ohne preußische Tugenden. *** In den 2010er Jahren, als die Möglichkeit eines griechischen Staatsbankrotts immer wahrscheinlicher wurde, die weltweite Finanzkrise Europa erschütterte und die ›faulen‹ und ›schummelnden‹ Griechen ›gerettet‹ werden 1

Überarbeitete Fassung eines Vortrags in der Ringvorlesung ›Konflikte der Menschheit heute – Antworten der Wissenschaft‹ im Wintersemester 2013/14 der Universität des 3. Lebensalters an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

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sollten, wurde offenbar, wie wenig in der deutschen Öffentlichkeit (und den Medien) über die griechische Lebensrealität, den griechischen way of life bekannt ist. Und das, obwohl Deutschland und Griechenland eine lange, von deutscher Seite her romantisierende Beziehung haben. Ich werde im Folgenden einige Schlaglichter auf geschichtliche Ereignisse, kulturelle und religiöse Besonderheiten Griechenlands und nicht zuletzt auf die Rolle der Familie werfen, um so Einblicke in die Lebenswirklichkeit im modernen Griechenland zu geben. Dabei soll die (zeitliche) Perspektive, aus der heraus ich Griechenland betrachte, die des Nationalstaats sein.2 Er ist mit seiner Entstehungsgeschichte vor rund 200 Jahren relativ jungen Datums wie auch Kultur und Identität des griechischen ›Volks‹ im Nationalstaat. Das Besondere der griechischen ›nationalen Identität‹ ist, dass sie nicht aus der Weiterentwicklung seiner unmittelbar vorhergehenden Epochen entstand. Die griechische Nation legte sich vielmehr das Corporate Design als ›Erbin der Antike‹ zu und entsprach damit ganz den Erwartungen Europas. Denn Europa sah in Griechenland immer weiter die griechische Antike, die ›Wiege der Demokratie‹. Die Griechen dagegen wollten zunächst einmal mit ihrer Nationsgründung weg vom heruntergewirtschafteten Osmanischen Reich und hin zum modernen fortschrittlichen Europa. Ihre Eintrittskarte war dabei der Status als Erben der griechischen Antike und das Land wurde von den übrigen Europäern mit offenen Armen empfangen. Die dadurch vollzogene Abgrenzung zur (heutigen) Türkei als Nachfolgerin des Osmanischen Reichs war durchaus problematisch, denn in diesem Kulturraum spielte sich über zweitausend Jahre griechische Geschichte ab. Jede Nation grenzte sich kulturell gegen andere Nationen ab und entwickelte innerhalb ihrer Grenzen eine eigene kulturelle Identität.3 Dabei 2

Langewiesche (2008: 154) schlägt vor, statt von ›nationaler Identität‹ besser von ›nationalen Selbstbildern‹ zu sprechen. Es sind Bilder – Imaginationen –, die aus der Erfahrung und Deutung historischer Entwicklungen hervorgegangen sind, und die verbreitet werden durch die obligatorische Schulbildung und heute immer mehr durch die Medien. Sie postulieren bestimmte Werte, die für die gesamte Nation als verbindlich und ewig gültig erklärt werden. 3 Das nationale Selbstbild ist nicht die Summe der kulturellen Identitäten seiner Staatsbürger, gedacht als immer schon so gewesen, als ›Ausdruck einer Volksseele‹, sondern wurde und wird immer weiter entwickelt/konstruiert im andauernden Veränderungsprozess des nationalen Selbstverständnisses (in wie relativ kurzen

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spielte es keine Rolle, dass die heutigen Staaten in Europa in vielerlei Hinsicht gemeinsame historische Erfahrungen aus der Zeit vor den Nationenbildungen haben und ihre historischen Kulturräume über die Grenzen heutiger Staaten hinausgehen.4 In der Ideologie des Nationalismus gehört jeder Mensch einer Nation an und jede Nation hat ihre Regierung, ihre Verwaltung und ihre Ökonomie. Das schafft Fakten, die in der Gesellschaft das Alltagsleben prägen und regeln. Darüber hinaus gibt es auch eine emotionale Ebene, die spätestens bei internationalen Sportereignissen (Olympische Spiele oder die Fußball-Weltmeisterschaft), beim Eurovision Song Contest, beim Absingen der Nationalhymne und beim Anblick der Nationalflagge spürbar wird: Das ist dein Land, deine Heimat, da gehörst du hin! Diese ›spielerisch-leichte‹ Seite der Nationalstaaten, hat sich der Tourismus zu Nutze macht. Die unterschiedlichen Kulturen der Nationalstaaten sind zu einer Art Markenzeichen, einem Corporate Design, erhoben worden, an deren Erschaffung sowohl Tourismusmanager als auch die Einwohner selbst arbeiten. Die Philhellenen Das heute in Deutschland noch aus der Zeit des Humanismus und der philhellenischen Freundschaftsbünde existierende Bild von Griechenland hat wenig – um nicht zu sagen, gar nichts – mit dem heutigen griechischen way of life zu tun. Es ist ein Phantasiegebilde – analog zum ›Orient‹ –, gespeist aus Vorstellungen über die griechische Antike wie sie in der Zeit des Zeiträumen sich unterschiedliche Lebensstile entwickeln können, zeigt das Beispiel DDR und BRD). Wichtig ist dabei zu betonen, dass die Ideologie des Nationalismus die Nationen hervorgebracht hat und nicht umgekehrt (Gellner 1995: 87, zur Bedeutung und Problematik der Grenzen in Europa siehe Heller 2001). 4 Kulturelle Abgrenzungen sind untrennbar mit der Ideologie des Nationalismus und den Selbstbildern der Nationen verbunden, denn sie waren die Voraussetzung dafür, ein Selbstbild im Gegenüber des Anderen zu kreieren (Stölting 2001: 159). Dabei wurde ›Nation‹ statisch als eine Art Naturphänomen definiert. So wie man ein Geschlecht habe, beschreibt Anderson die Ideologie des Nationalismus, habe man auch eine Nationalität. Die Nation als Vaterland oder Mutterland, entspräche der Verwandtschaft, bezeichne etwas, »an das man auf natürliche Weise eingebunden ist … ein Element des Nicht-bewusst-Gewählten« (Anderson 1993: 144).

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Humanismus einst entstanden sind. Denn zurzeit der europäischen Nationenbildungen im Nachklang der Französischen Revolution waren die Geisteswelt der griechischen Antike und ihre demokratische Staatsform ein Vorbild für die europäischen Nationen. Europa grenzte sich stets vom Osten ab – verstanden als Asien oder Orient – und dazu gehörte als Teil des Osmanischen Reichs auch Griechenland. Der Orient galt als »barbarisch, tyrannisch, unaufgeklärt, antidemokratisch, autoritätshörig, grausam, irrational, hysterisch und so weiter«, kurz als das Gegenteil des Westens (Stölting 2001: 154). Der Westen dagegen reklamierte für sich die Aufklärung, wissenschaftliche Rationalisierung, ein modernes Staatswesen und eine gut funktionierende Administration, dazu den durch die Aufklärung geprägten Katholizismus. So wurde nicht nur der Islam, sondern auch das orthodoxe Christentum als nicht zum Westen gehörig angesehen. Damit war das christlich-orthodoxe Griechenland, das zudem 500 Jahre lang zum Osmanischen Reich gehörte, vom Westen ausgeschlossen, obwohl Europa Griechenland als Erbe des antiken Hellas‘ ideologisch vereinnahmt hatte. Dieser Widerspruch wurde dahingehend aufgelöst, dass – ganz im Sinne der Ideologie des Nationalismus – das osmanische Griechenland als beherrscht und fremdbestimmt durch die Türken definiert wurde. Diese geschichtliche Einordnung ließ den Griechen bei ihrer Nationsgründung letztlich keine andere Wahl als sich und den übrigen Europäern zu beweisen, dass sie die wahren Nachkommen der antiken Hellenen sind. Mit dem Freiheitskampf der Griechen gegen die Osmanen sympathisierten viele europäische Intellektuelle und bekannte Persönlichkeiten. Einerseits, indem sie sich direkt an den Kämpfen beteiligten, andererseits, indem sie sich in den sogenannten Philhellenischen Bünden zusammengeschlossen. Denn hier schien sich das verwirklichen zu können, wovon das fortschrittliche Europa träumte: nationale Selbstbestimmung und Freiheit des Volks. Weithmann beschreibt die Stimmung dieser Jahre folgendermaßen: Der Philhellenismus erfasste bedächtige Gelehrte, christliche Kreise und das liberale Bürgertum genauso wie die radikale nationalrevolutionäre Studentenschaft … [Er] war Teil des Bekenntnisses zu den großen fortschrittlichen Ideen der Zeit geworden, zu Nationalstaat, Republik, Gewaltenteilung und Verfassung mit Bürgerrechten und Pressefreiheit. Trotz

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der Unterdrückung durch die offizielle Politik wurde die Philhellenische Bewegung zu einer einflussreichen ›Pressure Group‹, die bald die öffentliche Meinung beherrschte und die Regierungspolitik schließlich in ihrem Sinne beeinflussen sollte (Weithmann 1994: 162). Viele Philhellenen in Europa – arbeitslose Offiziere, verfolgte Revolutionäre, Abenteurer, Dichter und idealistische Schwärmer – machten sich auf mitzukämpfen, und nicht wenige bezahlten ihr griechisches Abenteuer mit dem Leben, wie der englische Schriftsteller, Lebemann und Draufgänger Lord Byron, der 1824 in Mesolongi (am Golf von Patras gelegen) wenig ruhmreich an den Folgen einer Unterkühlung starb (manche Quellen sprechen von »Sumpffieber«. Überall in Europa wurden Unterstützungsvereine gegründet, in denen Auslandsgriechen zahlreich vertreten waren. Die bekannteste ist die – von der griechischen kosmopolitischen Elite 1814 in Odessa gegründete – Filiki Eteria (Φ Ε α ρε α = Freundesverband), eine Art Geheimbund, der die Befreiung Griechenlands und die Errichtung einer modernen griechischen Nation vorantreiben sollte. Auch in Deutschland, in München, war eine ›Gesellschaft der Philhellenen‹ gegründet worden. Bayernkönig Ludwig I, ein leidenschaftlicher Philhellene5, engagierte sich ebenfalls für den griechischen Freiheitskampf und sein Sohn Otto wurde später zum ersten ›König von Griechenland‹ bestimmt.6 5

Ludwigs Verehrung des antiken Hellas in dem ›von den Türken unterjochten Griechenland‹ drückte sich auch darin aus, dass – auf seine Anordnung vom 20. Oktober 1825 – die ursprüngliche Schreibweise des Landesnamens ›Baiern‹ abgelöst wurde durch Bayern mit ›y‹, dem ›griechischen Ypsilon‹. 6

Der erste Präsident des Landes Ioannis Graf Kapodistrias wurde von den ehemaligen maniatischen Freiheitskämpfern Georgios und Konstantinos Mavromichalis ermordet. Es war ihnen keineswegs einleuchtend, dass Kapodistrias als gewählter Präsident Griechenlands die Aufgabe hatte, für alle Griechen einen gemeinsamen Staat zu schaffen und dafür Recht und Ordnung durchsetzen musste. Die Folge dieser Tat aus Uneinsichtigkeit in die neuen politischen Spielregeln war, dass Frankreich, Großbritannien und Russland, (die für die Unabhängigkeit Griechenlands garantieren sollten) auf den Plan traten und den Bayerischen Königssohn Otto als Regenten einer frisch gegründeten griechischen Monarchie einsetz-

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Aber nicht nur der Bayernkönig schwärmte für das antike Hellas, überall im humanistischen Deutschland breiteten sich in den Köpfen und Studierstuben romantische Vorstellungen vom homerischen Griechenland aus, die mit der Lebensrealität der Griechen zu Beginn des 19. Jahrhunderts rein gar nichts zu tun hatten. Hans Eideneier schreibt: Tief verankert war der Glaube an die Wahlverwandtschaft deutscher und griechischer Geisteswelt, wobei das agonale Prinzip im Wettstreit der Kulturen jetzt sogar Pate dafür stand, es den alten Griechen nicht nur gleich zu tun, sondern sie sogar zu übertreffen (Eideneier 2010: 58). Die Ideale des Humanismus destillierten deutsche Gymnasiallehrer aus der griechischen Geisteswelt und sie waren überzeugt davon, diese besser zu kennen als die Griechen selbst. Für die deutschen Philhellenen lebten Hellenen »auf Aiolos‘ Meeren, in Eumaios‘ Hütten, am schattigen Quell des Kifissos oder an Alphaios‘ dunklem Strom … Realitätsferne – je ferner desto besser – war im Spiel hehrer Gedanken mit inbegriffen« schreibt Eideneier und fügt hinzu: Die Griechen am Ort »existierten zwar, bekamen von der ganzen Show, die in ihrem Namen lief, zunächst so gut wie nichts mit« (Eideneier 2010: 58). Diese romantischen Schwärmereien in Deutschland hatten mit dem real existierenden Griechenland zwar nichts zu tun, trotzdem sollten sie sehr konkrete Auswirkungen auf den Aufbau einer neu-griechischen Nation haben. Dabei war die Umbenennung von ›Römer – Romaii‹, wie sie sich selbst nannten, zu ›Hellenen‹, wie die Deutschen sie nannten, noch das kleinste Übel. Noch einmal Hans Eideneier: Die Griechen in diesem ihrem Land hatten sich ein neues Problem eingehandelt: kaum war man in einem Teil des Landes die Türken los, kamen die Philhellenen … Da die Griechen sich zunächst nicht als Hellenen, sondern als Römer, d. h. Byzantiner, d. h. Bewohner des griechischen Weltreichs ten. Sie verbanden damit die Hoffnung ein neutrales Oberhaupt gefunden zu haben, das alle Interessensgruppen im Land akzeptieren konnten. Damit hatte sich zwar formal die neue Staatsordnung durchgesetzt, die Kräfte im Land, die nach eigenem Gutdünken und zu ihrem Vorteil partikulare Machtstrukturen vertraten, wurden damit aber noch nicht überzeugte Anhänger der neuen staatlichen Spielregeln.

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von Byzanz verstanden, diese Ausländer sich aber partout nicht Freunde der Römer, sondern Hellenenfreunde nannten, hätte man schon damals in Griechenland eigentlich die Wolken sehen müssen, die da am attischen Himmel aufzogen. Die Griechen wählten stattdessen die glatteste, die einfachste Lösung: sie nannten sich ab sofort wieder selbst Hellenen (Eideneier 2010: 58). Damit öffneten sie sozusagen die Tür für den Einzug europäischer Vorstellungen darüber, wie nationale Griechen zu sein hätten. Nur wurden die Griechen leider nie so hellenisch wie deutsche Humanisten sich Hellenen vorstellten. Eideneier sieht darin einen der Gründe, warum – trotz ›deutsch-hellenischer Wahlverwandtschaft‹ – das Moderne Griechenland in Europa und besonders in Deutschland in seiner tatsächlichen heutigen kulturellen Identität nicht wahrgenommen wird (Eideneier 2010).7 Nach wie vor sehen Europäer, und vor allem Deutsche, in der Geistesund Kulturgeschichte des antiken Griechenlands die Wurzeln ihrer eigenen kulturellen Identität. Was jedoch das heutige Griechenland anbelangt mit seiner – im Vergleich mit der Antike – jüngeren byzantinischen und osmanischen Geschichte, so kommen Europäern immer mal wieder Zweifel an Griechenlands europäischer Identität und den Griechen selbst ist das durchaus bewusst. Unkenntnis über Griechenland als europäischem Nationalstaat zeichnet aber nicht nur die deutsche Öffentlichkeit aus, sondern erstaunlicherweise gilt es auch für die einschlägigen Kulturwissenschaften. In den Forschungen der deutschen Ethnologie wurde Griechenland bis in die jüngste Vergangenheit ausgegrenzt. Weil es zu Europa gehört, wurde es vom Kanon der außereuropäischen Kulturen, die die Ethnologie erforscht, nicht erfasst. Aber auch als in den 1970er Jahren die deutsche Volkskunde sich einen neuen regionalen Forschungsrahmen gab und von da an ›europäische‹ Ethnologie betrieb, blieb Griechenland peripher. Es wurde weiterhin als Forschungsgebiet der Altertumswissenschaften, der Archäologie und Philologie und der Byzantinistik angesehen. 7

Antje van Elsbergen zeigt, wie es möglich ist in einem Ausstellungsprojekt über das antike Griechenland, zugleich das »Verhältnis der Moderne zu den antiken Wurzeln zu beleuchten« und aus ethnologischer Perspektive zu hinterfragen (van Elsbergen 2009).

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Allerdings war die griechische Volkskunde, die Laografia, auch nicht so recht in den wissenschaftlichen Theorierahmen der ›Europäischen Ethnologie‹ zu integrieren. Diente die Laografia doch vor allem dem Zweck, an zeitgenössischen Sitten und Gebräuchen eine durchgängige Tradition seit der Antike aufzuzeigen, um das kulturelle Erbe der Antike im heutigen Griechenland nachzuweisen.8 Während die Volkskunde in Griechenland also auf die Vergangenheit konzentriert war, forschten vor allem britische und US-amerikanische Wissenschaftler über das Hier und Jetzt. Sie forschten in und über kleine Dörfer und Gemeinden, um aus lokalen Lebenszusammenhängen Erkenntnisse über zeitgenössische kulturelle Wertvorstellungen und Weltbilder zu gewinnen. Die griechischen Volkskundler dagegen sahen bis zum Ende des letzten Jahrhunderts ihre Forschungen zum Nachweis antiker Traditionen in der ›Volkskultur‹ als gültige kulturelle Zustandsbeschreibungen für den zeitgenössischen griechischen Nationalstaat an. Das ›orientalische Griechenland‹ Gegen Ende des 18. Jahrhunderts reiste der europäische Adel mit Vorliebe nach Griechenland.9 Zwar um die antiken Altertümer zu besuchen, aber 8

So begannen Volkskundler im Sinne Johann Gottfried Herders und ganz praktisch nach dem Vorbild der Märchensammlungen der Gebrüder Grimm die umfangreiche Unternehmung, das Gedankengut der Antike – sozusagen seine hellenische Essenz – in der griechischen Folklore und besonders in Volksliedern nachzuweisen. Damit sollte wissenschaftlich bewiesen werden, dass die neu gegründete griechische Nation die Wiedergeburt des alten Hellas war und das Volk auch nach 2000 Jahren noch im Geiste der Tradition des antiken Griechenlands stand. Nicht nur Volkskundler auch griechische Intellektuelle, Akademiker und Lehrer sammelten in ganz Griechenland Volkslieder und schrieben sie auf, um in ihnen den ›homerischen Geist‹ nachzuweisen. Diese Folklorismusstudien bildeten die Grundlage einer nationalen griechischen Kultur, die in den Schulen gelehrt wurde (Herzfeld 1986: 5-11, siehe auch die Beiträge von Papataxiarchis, Agelopoulos, Nitsiakos, Chryssanthopoulou in Boscovic und Hann, 2013, über die Entwicklung der griechischen Laografia). 9 Im 17. und 18. Jahrhundert waren in Europa Bildungsreisen als abschließender Teil der Erziehung der Adeligen en vogue und das Ziel war meistens Italien. Als

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dabei wurde auch ein Griechenland entdeckt, das eine ungemein ›orientalische Faszination‹ ausstrahlte. Vor allem im Nordwesten Griechenlands, im Epirus, im Herrschaftsgebiet des Ali Pascha (ca. 1750-1822), schien sich phantasiebegabten Europäern eine Welt aufzutun, die das genaue Gegenteil der eigenen zu sein schien.10 Der populistische Appetit in Europa nach Geschichten über die Grausamkeiten und mysteriösen Geheimnisse der osmanischen Herrscher und orientalischen Despoten war während Ali Paschas Regentschaft auf seinem Höhepunkt. In den Reiseberichten jener Zeit wurden seine vor keinem Mord zurückschreckende Herrschaft, sein sagenhafter Reichtum, seine Foltermethoden, seine Hinterhältig- und Skrupellosigkeit sowie seine sexuellen Ausschweifungen, schließlich noch sein Tod beschrieben. Er sollte einen Harem von fünfhundert Frauen unterhalten haben, dazu junge Mädchen, die für seine sexuellen Gelüste in ständiger Bereitschaft stehen mussten, und es gab Gerüchte, dass seine wahre Leidenschaft der Homosexualität galt. So inspirierte die Figur des Ali Pascha zahlreiche Poeten und Schriftsteller und war Vorbild für unzählige Theaterstücke, Opern, Gedichte, Gemälde, Romane. Schriftsteller wie Hugo, Goethe, Balzac, Dumas und viele andere ließen sich von ihm inspirieren, aber auch Maler und MuEnde des 18. Jahrhunderts das Reisen sicherer wurde, weil die Piraterie im Mittelmeer zum Ende gekommen war und Frankreich und England in engen Handelsbeziehungen zum Osmanischen Reich standen, dehnten sich diese Bildungsreisen weiter nach Griechenland aus oder hatten ausschließlich Griechenland und seine antiken Stätten zum Ziel, die nun reiselustige Intellektuelle in Scharen anlockten. Die Europäer waren fasziniert von den antiken Stätten als Ausdruck hellenischer Kultur und Quelle der eigenen Zivilisation. Fleming zitiert Flaubert, der nach seiner ersten Griechenlandreise schrieb: »Das Parthenon verdarb mir die römische Kunst: sie erschien mir plump und trivial im Vergleich. Griechenland ist so wunderschön!« (Fleming 1999: 9) 10 Es lag im Denken dieser Zeit nahe, daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, die Nachfahren der antiken Griechen seien durch die türkische Herrschaft – muslimisch und orientalisch – ›verdorben‹ worden und die Wurzeln der europäischen westlichen Zivilisation müssten verteidigt werden, indem Griechenland vom ›orientalischen Despotismus‹ befreit werden musste. Unter diesem Blickwinkel schien der Kampf der Griechen gegen die Osmanen auch eine europäische Angelegenheit zu sein: Die direkten Erben der Antike mussten befreit werden, damit sie wieder so sein konnten wie Europa sich die Nachfahren der antiken Helden und Denker vorstellte.

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sikkomponisten sahen ihn als phantastische und wundervoll gefährliche Figur – das Böse schlechthin –, die ihre künstlerische Phantasie beflügelte (s. Fleming 1999: 18, 119-28). Die griechische Elite und die Landbevölkerung Wie sahen sich die Griechen selbst zur Zeit ihrer Nationsgründung nach dem Sieg der Kleften über die Osmanische ›Herrschaft‹? Wer waren die Griechen, die jetzt einen eigenen Staat gründen wollten? Da war zunächst einmal die Landbevölkerung. Das waren in überwiegender Mehrheit illiterate Bauern, Viehzüchter und Wanderhirten. Sie waren von den in Europa stattfindenden Diskursen und Entwicklungen hin zu Nationalstaaten ganz und gar ausgeschlossen. Diese bäuerliche Bevölkerung lebte in untereinander getrennten Familien- und Nachbarschaftsgruppen, sodass sie – durch ihre bäuerliche Arbeit ortsgebunden – in kleinen Einheiten ein nach innen gerichtetes Leben führte. Dazu kam, dass ihr Leben geprägt war von jahrhundertelangen, lokalen kriegerischen Auseinandersetzungen. So kämpften sie gegen die osmanische Herrschaft, weil sie sich immer schon gegen eindringende Invasoren (während des Byzantinischen Reichs gegen die ›Franken‹) erwehren mussten.11 Das Kleftentum war schon vor der osmanischen Eroberung Griechenlands im 15. Jahrhundert entstanden, vor allem in den Gebirgen des Epirus und der Peloponnes im Zusammenhang mit den kriegerischen Einfällen der Kreuzfahrer. In den darauf folgenden rechtlosen Jahrhunderten, in denen sich die immer wieder neu gegründeten Kleinststaaten fortwährend bekriegten, hatte sich die Bevölkerung in unzugängliche Bereiche der Berge zurückgezogen und fristete unter archaischen Bedingungen ein Leben in dauernder Verteidigungsbereitschaft. Diese Kampfbereitschaft bekamen auch die osmanischen Eroberer zu spüren, gegen die sich die Bevölkerung 11

Das westliche und südwestliche Griechenland war dem Byzantinischen Reich weitgehend peripher. Dort war von politischen und wirtschaftlichen Strukturen und dem kulturellen Reichtum Byzanz wenig zu finden. Die einheimische bäuerliche Bevölkerung war gleich Leibeigenen den unterschiedlichsten lokalen Herrschern ausgeliefert und litt unter der Erpressung hoher Abgaben, Fron- und Heeresdiensten. Dagegen wehrte sich besonders heftig und erfolgreich die Bevölkerung im Süden der Peloponnes auf der Halbinsel Mani (siehe Weithmann 1994: 79-101).

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in den Bergen lange zu widersetzen wusste. Und auch unter den Osmanen zogen viele Griechen ein freies Leben als Hirten und Viehzüchter in den Bergen einem Leben als Bauern in den Ebenen in Abhängigkeit von den türkischen Aghas vor. Zu den Kleften gesellten sich verarmte Bauern, Abenteurer, von der osmanischen Justiz Verfolgte und flüchtige Kriminelle oder aus dörflichen Gemeinschaften Ausgeschlossene. Diese kleinen kämpfenden Gruppen, ungebunden an Recht und Ordnung, bestritten ihren Lebensunterhalt zum Teil durch Viehzucht, zum Teil durch Raubüberfälle beim türkischen Landadel und auf Handelskarawanen (kleftis bedeutet ›Dieb‹). Auch Mönche waren zu den Widerstandskämpfern in die Berge gezogen und trugen dazu bei, den orthodoxen Glauben und so etwas wie eine christliche Weltsicht an die Bevölkerung zu vermitteln. Der oberste Klerus allerdings stand einhellig auf Seiten des Sultanats. Er war über Ämter und Privilegien so sehr mit dem osmanischen Machtgefüge und der allgemeinen Korruption dort verbunden, dass das ökumenische Patriarchat in den Freiheitskämpfen eine ›Apostasia‹, das Abfallen von der legitimen (gottgewollten) Ordnung sah und bei jeder Gelegenheit Loyalität zum Sultan predigte. Das hinderte den unteren Klerus aber keineswegs daran, die Kämpfenden zu unterstützen.12 In einer ganz anderen Welt lebte die gebildete griechische Oberschicht, geografisch vor allem in Konstantinopel/Istanbul, aber auch in Smyrna/Izmir, am Schwarzen Meer und in Anatolien. Sie war mit der osmanischen Machtelite auf das Engste verbunden. So hatte im Sultanat das Amt des Dragomanen (›Dolmetscher‹, aber de facto eine Art Außenminister) stets ein Grieche inne. Der oberste christlich-orthodoxe Klerus regierte das griechische Kirchenvolk vom Sultanat aus und war mit muslimischen Religionsführern enger verbunden als mit dem Kirchenvolk im ländlichen Griechenland. Zur gebildeten Elite gehörte auch die griechische Kauf12

Das weit entfernt liegende Herrschaftszentrum der Sultane in Konstantinopel hatte wenig Einfluss auf das Kleftentum und konnte die eigenmächtigen Führer kaum unter ihre Kontrolle bringen. Zumal die Kleften in der Region ein höheres Ansehen hatten als die direkt aus dem Sultanat eingesetzten Administratoren. Dadurch, dass immer wieder Kleftenführer als osmanische Amtsträger einsetzt wurden, vermischten sich im Laufe der Zeit Kleftentum und osmanische Herrschaft und es gab auch Muslime unter den ursprünglich griechisch-orthodoxen Kleften (siehe Fleming 1999: 40-41).

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mannsschicht, die ihren Reichtum aus weltweit agierenden (See-)Handelsunternehmen generierte und außerhalb Griechenlands in städtischen Lebenszusammenhängen ihre Kontore und Unternehmen führten. Sie waren auch diejenigen, die die Ideen der Nationsgründung nach Griechenland trugen und die politisch treibende Kraft hinter den Freiheitskämpfen waren. Herzfeld merkt an, dass die griechischen Volkskundler zwar Griechenland als eine Einheit im Sinne ihrer Studien ansahen und sich selbst als einen Teil davon, dass sie tatsächlich aber Teil der internationalen Forschung außerhalb Griechenlands waren. Sie bildeten eine Art Kultur in der Kultur und ihre Distanz zur einheimischen Bauernbevölkerung wäre stets sichtbar geblieben (Herzfeld 1986: 8-9). Da so die volkskundlichen Sammlungen und Studien in Griechenland im wissenschaftlichen Kontext des übrigen Europas standen, trugen sie dazu bei, dass der griechische Nationalismus in den europäischen Kontext hineinwuchs. Die griechische Elite unterschied sich aber fundamental vom aufkommenden Bildungsbürgertum in den Ländern Westeuropas. Letzteres hatte durch seinen technischen Erfindungsgeist die industrielle Revolution und die damit zusammenhängenden nationalen Ökonomien, die ›Volkswirtschaften‹, hervorgebracht. Hier war nicht nur die ursprünglich städtische Bevölkerung, sondern auch die Landbevölkerung (die nach und nach zu Fabrikarbeiten wurde), von Anfang an in den Prozess der Nationswerdung eingebunden. In Griechenland dagegen gab es dieses Zusammenwachsen von ehemaliger Landbevölkerung und einer die Produktionsmittel besitzenden unternehmerischer Oberschicht nicht. Eine Industrialisierung, die die Landbevölkerung in die Städte abwandern ließ, konnte im Osmanischen Reich nicht entstehen.13

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Zu Mentalität und Lebensstil der durch den Nationalstaat geschaffenen neuen bürgerlichen Mittelschicht Griechenlands siehe Herzfeld 1991a, 1997. Faubion (1993) und Panourgia (1995) beschreiben den Lebensstil der Nachkommen, der aus Kleinasien ins neugegründete Griechenland gekommenen griechischen Elite, die heute in Athen lebt. Zu ihnen gehören die ›Fanarioten‹, die im Osmanischen Reich führende Positionen innehatten und auch heute noch politisch und gesellschaftlich zur Elite gehören (siehe auch Tzermias 1997: 14).

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Griechenland nimmt seine heutige Form an 1827, mit dem Ende der osmanischen Herrschaft über Griechenland, war zwar nun offiziell ein griechischer Staat entstanden, ein großer Teil derer, die sich auf Grund ihrer Sprache und Religion als Griechen bezeichneten, lebte aber außerhalb dieses Staates, davon etwa zwei Millionen auf dem heutigen türkischen Festland. Die gebildeten, wohlhabenden, städtischen Eliten hatten zwar den Freiheitskampf der Griechen im Kernland von ferne unterstützt, aber sie waren Händler und Städter. Das bäuerliche Leben auf dem Land lag ihnen fern und damit auch die Vorstellung, sich in dieses eben geschaffene, immer noch durch und durch ländliche Griechenland zu integrieren. Ihre ursprüngliche Idee von einer unabhängigen griechischen Nation war die eines Staates, der alle Gebiete umfassen sollte, in denen seit der Antike Griechen lebten und selbstverständlich mit der Hauptstadt Konstantinopel. Ioannis Zelepos schreibt, dass diese ›Große Idee‹ (Μ λi Ι α), in den Köpfen vieler griechischer Politiker schon bei der Gründung ihres Staates rumorte (Zelepos 2014: 61-65). So gab es Landkarten, auf denen der größte Teil der Länder der Balkanhalbinsel, Kreta, Rhodos, Thessaloniki, Zypern, die Ägäischen Inseln, Thrakien und Konstantinopel als ›zu befreiende Gebiete‹ gekennzeichnet waren. Eine konkrete Chance, die ›Megali Idea‹ in die Tat umzusetzen, schien gekommen, als sich 1918/19 der endgültige Zerfall des Osmanischen Reichs abzeichnete. 1920 sah der Friedensvertrag von Sèvres vor, das Osmanische Reich aufzuteilen und die Region um Smyrna an Griechenland zu geben. Dieser Plan wurde jedoch nicht umgesetzt. Zur gleichen Zeit nutzte die griechische Regierung die Niederlage des Osmanischen Reichs, um die Stadt Smyrna militärisch zu besetzten und ließ die Truppen von dort aus weiter nach Anatolien vorstoßen, um die ›Megali Idea‹ Realität werden zu lassen. Der Präsident des neu gegründeten türkischen Staats, Mustafa Kemal Atatürk, stellte sich diesen Vorstößen jedoch entgegen, und in der Folge kam es zu militärischen Auseinandersetzungen, die sich zu großer Brutalität der griechischen und türkischen Zivilbevölkerung gegenüber ausweiteten und schließlich in der ›Kleinasiatischen Katastrophe‹ (Μ ρα α α α ροφ ) endeten: Am 9. September 1922 eroberte Atatürk mit seinen Truppen Smyrna, wobei 40.000 Einwohner umgebracht und die armenischen und griechischen Viertel der Stadt niedergebrannt wurden. Die vor 273

dem Feuer und der türkischen Soldateska flüchtenden Griechen wurden aber weder von den wenigen griechischen Schiffen vor der türkischen Küste aufgenommen noch von den in den Häfen ankernden französischen und englischen Kriegsschiffen, die sich ihrer offiziellen Neutralität verpflichtet fühlten. So wurden Tausende von Menschen buchstäblich ins Meer gejagt. Aber auch die, die dieses Schreckensszenario nicht miterleben mussten, waren auf ihrer Flucht aus der Türkei dramatischen Bedingungen ausgeliefert. Nach der Kleinasiatischen Katastrophe hatte der griechische Nationalstaat im Großen und Ganzen die Form angenommen – seine Grenzen und die Zusammensetzung der Bevölkerung –, die er auch heute noch hat. Die Flüchtlinge aus Kleinasien, der heutigen Türkei, wurden nach und nach integriert. Im Gegensatz zur griechischen Bevölkerung im Kernland aber, die seit der Nationsgründung (immerhin seit hundert Jahren) einen Identitätsbildungsprozess als Erbin des antiken Griechenlands durchlaufen hatte, fühlten sich die kleinasiatischen Flüchtlinge, die sich selbst ›Mikrasiates‹ nannten, mehr dem byzantinischen Erbe verbunden und sahen sich als Bewahrer dieser reichen kulturellen Tradition, die eng verbunden war mit dem orthodoxen Christentum. Sie fühlten sich frei vom nationalen Druck, sich als ›Erben des antiken Hellas‹ auch wie die Helden und Denker der Antike zu benehmen – was auch immer das bedeuten mochte. Das Leben in Athen erschien ihnen im Vergleich zu den kosmopolitischen Städten Kleinasiens provinziell, das Land unorganisiert, zurückgeblieben und arm, und die Bewohner engstirnig, ignorant und ungebildet, wie Renée Hirschon Einwohner der Flüchtlingssiedlung Yerania bei Athen zitiert (1998: 30-31). Auch wenn die meisten ›Mikrasiates‹ aufgrund ihres Flüchtlingsstatus die unterste Schicht der griechischen Bevölkerung darstellten, fühlten sie sich von ihrem kollektiven kulturellen Selbstverständnis her den Kernlandgriechen jedoch überlegen und waren dadurch eher in der Lage, Armut und schlechte Lebensbedingungen zu ertragen. Unterstützt wurde dies durch ihre Erfahrung, dass sie als Christen, ob arm oder reich, auch im Osmanischen Reich den Muslimen gegenüber als kulturell überlegen galten.

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Byzanz und das orthodoxe Christentum Das orthodoxe Christentum tritt auch im modernen Griechenland, in dem wie überall in Europa Kirche und Staat getrennt sind, im Alltagsleben und bei gesellschaftlichen und staatlichen Ereignissen dominant in Erscheinung. Nachdem Griechenland im Sommer 2000 in die Europäische Währungsunion aufgenommen worden war und nach dem Euro nun auch die neuen, für die ganze EU einheitlichen Personalausweise und Pässe eingeführt werden sollten, gab es einen Aufruhr im Land. Konservative und ultraorthodoxe Christen, angeführt vom Athener Erzbischof Christodoulos, Teilen des Klerus und politisch rechten Kräften, protestierten dagegen, dass in den neuen Ausweisen die Religionszugehörigkeit nicht mehr angegeben werden sollte. Sie waren der Ansicht, dass ihnen dadurch ihre ›Identität als Griechen‹ geraubt würde. Wochenlang formierte sich ein Teil des Kirchenvolks in immer neuen Protestmärschen, von denen Bilder in ganz Europa durch die Medien gingen. Tausende Unterschriften wurden gesammelt, um die Regierung zu zwingen, die Religionszugehörigkeit in die Ausweise aufzunehmen, und Erzbischof Christodoulos erklärte sinngemäß: »Wenn einst Simitis und der Staat vergangen sind, wird es immer noch das Christentum geben. Die Kirche weiß, was gut für das Volk ist!«14 Aber Ministerpräsident Kostas Simitis beharrte auf der Trennung von Kirche und Staat und konterte, dass Personalausweise Sache des Staates seien, die Kirche sich da nicht einzumischen habe, und führte die Personalausweise ohne Religionsangabe ein. Ultraorthodoxe Griechen sind zwar nur eine Minderheit im Land, der orthodoxe Glaube als Identität und Tradition spielt aber auch heute noch in allen Lebenszusammenhängen eine bedeutende Rolle. Auch linke Intellektuelle und Künstler, selbst wenn sie dem Klerus gegenüber eine sehr kritische Haltung einnehmen, sind für die Traditionen des orthodoxen Christentums, wie sie sich in vielerlei alltäglichen Handlungen ausdrücken, aufgeschlossen. Sind diese doch wesentlicher Teil ihres Lebensgefühls und ihrer Identität, und Musiker, Maler und Schriftsteller schöpfen in ihrer kreativen Arbeit aus dem reichen Fundus der Symbolik

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Siehe die Berichterstattung in der ›Athener Zeitung‹ im Sommer 2000.

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ihrer Glaubenstradition.15 So sehen Antiklerikale und überzeugte Atheisten es nicht als Widerspruch zu ihrer Weltsicht an, zu den großen Kirchenfesten wie Ostern und Mariä Himmelfahrt in die Kirche zu gehen oder Wallfahrtskirchen zu besuchen.16 Ob bei militärischen Paraden, Geschäftseröffnungen und Ähnlichem, immer treten auch kirchliche Würdenträger in Erscheinung. Wobei der orthodoxe Glaube, wie er in Griechenland von der Bevölkerung gelebt wird, sich von der kirchlichen Doktrin mitunter sehr unterscheidet (siehe Danforth 1982, 1983; Dubisch 1988, 1990, 1995; Stewart 1991, 2008). In Europa zur Zeit der Aufklärung wurde die byzantinische Epoche vor allem als das Zeitalter gesehen, in dem die Antike untergegangen war und sich die glänzende Stadtkultur der Antike in archaische ländliche Lebenszusammenhänge auflöste. Diese europäische Sichtweise beeinflusste lange Zeit auch die griechische nationale Sicht auf ihre Geschichte. Erst als die griechischen Historiker in jüngerer Zeit erkannten, wie stark ihre nationale Identität – wie so vieles andere – von außen, von Europa, beeinflusst worden war, wurde der Blick frei, die byzantinische Epoche als genuin griechisch in die eigene Geschichtsschreibung aufzunehmen (s. Liakos 2008: 208). Die griechisch-orthodoxe Kirche allerdings blickte auf die Geschichte aus einer ganz anderen Perspektive. Für sie begann die Geschichtsschreibung überhaupt erst mit dem byzantinischen Zeitalter, das heißt mit dem Beginn des Christentums in Griechenland. Der scheinbar unüberbrückbare 15

Das berühmteste Beispiel hierfür ist sicher das Volksoratorium Axion esti (›Es ist würdig‹) des Komponisten Mikis Theodorakis nach dem gleichnamigen Werk des Dichters Odysseas Elytis. Die darin gleich einer griechisch-orthodoxen Liturgie mit Psalmen, Oden und Lesungen erzählte Geschichte Griechenlands wird auch als die ›Bibel des griechischen Volkes‹ bezeichnet (siehe auch Eideneier 1999: 190-191). 16 Makrides beschreibt das Verhältnis der Griechen zu ihrer Religion folgendermaßen: »Im modernen Griechenland orthodox zu sein, ist nicht allein eine Frage der religiösen Zugehörigkeit, sondern auch ein kulturelles Charakteristikum … Die Orthodoxie ist und bleibt ein dominanter kultureller Zug und durchzieht das Alltagsleben in allen seinen offiziellen und alltäglichen Manifestationen … Es ist dieser sozio-kulturelle Zug, auf den die Kirche ihre Feststellung bezieht, dass die Orthodoxie im nationalen, historischen und kulturellen Bewusstsein Griechenlands verankert ist« (2009: 60, Übersetzung U.K.).

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Antagonismus zwischen Christentum und heidnischer griechischer Antike verhinderte lange Zeit einen einheitlichen Blick des modernen Griechenlands auf seine Geschichte. Gleichwohl hatte die orthodoxe Kirche die Freiheitskämpfe als ›Befreiung des Volks‹ immer unterstützt, auch wenn die Ideologie des Nationalismus in keiner Weise dem multiethnischen Geist des Christentums, seiner Ökumene, entsprach. Den Übergang von der Antike ins byzantinische Zeitalter beschreibt Makrides (2009: 203-204) als einen Prozess, in dem die Weltsicht der Antike und die des Christentums miteinander verschmolzen.17 Als der römische Kaiser Konstantin der Große im vierten Jahrhundert Konstantinopel gründete und damit das Bedeutungszentrum des Römischen Reichs nach Osten verlagerte, nahm es das frühe Christentum mit auf. Dies geschah vor allem durch Konstantin selbst, der dem Monotheismus des Christentums nahestand und es im Rahmen seiner Regentschaft förderte. Sprache, Pädagogik, Literatur, Kunst und Wissenschaft des antiken Griechenlands wurden aber noch lange parallel zum aufkommenden Christentum vor allem in der Elite gepflegt, ohne dass dies eine bewusste Hinwendung zum antiken Hellas und seinen religiösen Vorstellungen gewesen wäre. Diesen kleinen Zirkeln gelehrter Personen, die ihr breites Wissen über klassische griechische Literatur pflegten,18 stand die große Masse der unge-

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So wandten sich zum Beispiel die frühen Christen mit ihren Sorgen und Wünschen in gleicher Weise wie zuvor an die griechischen Götter nun auch an die christlichen Heiligen. Zu beiden hatten sie ein sehr persönliches Verhältnis. Die später ausgearbeitete kirchliche Doktrin, mit ihren abstrakten Verboten und Geboten, war ihnen lange Zeit eher fremd. Auch wurden christliche Rituale, durchgeführt im alltäglichen Gemeinschaftsleben und bei Festen, an Stelle heidnischer Rituale in den schon seit der Antike getakteten Jahreszyklus eingefügt, nunmehr aber im Selbstverständnis als Christen gefeiert. Dagegen konnte die Kirche nur wenig ausrichten. Außerdem waren trotz kirchlicher Verbote ›heidnische Traditionen‹ längst im nun als christlich empfundenen Brauchtum aufgegangen (siehe Makrides 2000: 218-219). 18 Nach Claudia Rapp waren es im 10. Jahrhundert kaum 300 Personen im gesamten byzantinischen Reich, die Texte lasen und verfassten und diese Elite bestand ausschließlich aus (königlichen) Herrschern und dem Klerus. Kaiser Konstantin VII. (905 bis 559) zum Beispiel, selbst Verfasser historiographischer Werke, war darum bemüht, antike und spätantike/frühbyzantinische Schriften zu erhalten und

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bildeten Bevölkerung gegenüber. Beide Gruppen verband jedoch die griechische gesprochene Sprache, die eine wichtige Funktion für die Kontinuität vorchristlicher Weltanschauungen und religiöser Traditionen in Byzanz hatte. Schon bei der Ausbreitung des Christentums hatte die griechische Sprache eine entscheidende Rolle gespielt. Das Neue Testament wurde auf Griechisch verfasst und auch der Apostel Paulus benutzte die ›Sprache der Heiden‹, und zwar die des Volkes, nicht die der Elite, als er in Griechenland das Christentum zu verkünden begann. So war Griechisch im byzantinischen Zeitalter einerseits die Sprache von Verwaltung und Kirche, andererseits Verkehrssprache, aber vor allem war es die Sprache des Christentums (so wie Arabisch die Sprache des Islam wurde). Byzanz und das Moderne Griechenland Das nationale Label Griechenlands als ›Erbe der Antike‹ war nie unumstritten. Denn das dafür notwendige Ausblenden der Byzantinischen Epoche stand in Widerspruch zum christlichen Selbstverständnis des alltäglichen Lebens der griechischen Bevölkerung. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es Nikos Kasantzakis, der in seinem schriftstellerischen Werk dem tatsächlich gelebten Greek way of life nachging. Damit schuf er nicht nur ein neues griechisches kulturelles Selbstverständnis, sondern bewertete auch geschichtliche Dimensionen neu (sieh Makrides 1998: 257). Diese Suche nach authentischer griechischer Identität jenseits der offiziell nationalen wurde durch den Schriftsteller Giorgos Seferis und andere aufgegriffen und weitergeführt. Seferis schrieb schon in den 1950er Jahren: In Byzanz gab es so viele Dinge, die an uns vorbei gegangen sind und die uns unglaublich fremd erscheinen, weil die meisten von uns – auch heute noch – nur das als Griechisch anerkennen, was von der Athener Akademie oder dem Syntagma Platz als solches anerkannt wird (Seferis in Dokimes II, 76; zit. n. Beaton 1998: 136; Übersetzung U.K.). Die intellektuelle Beschäftigung mit den historischen Kulturen des Ostens brachte die Entdeckung, auf wichtige kulturelle Bruchstücke der eigenen deren Überlieferung sicherzustellen. In seinem Auftrag entstand auch eine umfangreiche Enzyklopädie, die recht umfassende Exzerpte aus verschiedenen Werken enthielt (sieh Rapp 2008).

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Vergangenheit gestoßen zu sein. Sie wurden als etwas Ureigenes erkannt, als Facetten des kulturellen Selbst. Seferis (der übrigens in Smyrna geboren wurde), aber auch andere Intellektuelle reisten auf den Spuren byzantinischen Lebens in die Türkei, um die eigene – ganz subjektiv zu empfindende – Vergangenheit zu erleben. Er beschreibt, wie er eine Ästhetik wahrnimmt, sowohl in den auf das höchste kunsthandwerklich verfeinerten Mosaiken des Chora Klosters (Kariye Cami) in Istanbul als auch in den in der frühen Christenheit bemalten Wänden der byzantinischen Klöster und Kirchen in Kappadokien. Er erkennt sie einerseits als Synthese von Antike und Christentum und andererseits – wichtiger noch – empfand er diese Ästhetik als Teil seines eigenen ästhetischen Empfindens (s. Beaton 1998: 37-38). Das Gefühl, im nationalen Griechenland Aspekte der eigenen kulturellen Identität vorenthalten zu bekommen, begleitete die Suche nach dem authentischen Griechentum bis ins 21. Jahrhundert.19 Familie Das griechische Selbstverständnis im Alltagsleben wird noch durch eine andere historische Besonderheit geprägt. Es ist der Brauch, den Töchtern ihr Erbe in Form einer Hausmitgift bei der Hochzeit zu übergeben. Dieses Erbrecht einwickelte sich schon vor dem 18. Jahrhundert in der Ägäis. Dort erbte die älteste Tochter den gesamten Familienbesitz – Haus und landwirtschaftliche Flächen – und für ihre Geschwister, Brüder wie Schwestern, war vorgesehen, mit ihr zusammen, sozusagen als familiale Mägde und Knechte, den landwirtschaftlichen Besitz zu bewirtschaften. Hintergrund war der äußerst knappe Wirtschaftsraum auf den Inseln, der 19

Makrides sieht den Islam und die muslimische Welt sogar als Teil der Geschichte der griechischen Orthodoxie im Sinne der Auseinandersetzung des Eigenen im Gegenüber des Anderen (1998:141-54). Marianna Spanaki zeigt, dass die besondere Bedeutung der byzantinischen Epoche für das heutige nationale griechische Selbstbild auch mit Bestseller-Romanen für ein größeres Publikum thematisiert würde. Vor allem Romane, die die Epochen zwischen Antike und modernem griechischen Staat für ein größeres Publikum lebendig werden lassen, würden sich großer Beliebtheit erfreuen (1998: 129). Damit wird heute die Gleichung Moderne Griechen = Erben der Antike auch für eine breitere Öffentlichkeit aufgebrochen und zur Diskussion gestellt.

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nur eine begrenzte Zahl an Bewohnern ernähren konnte. Die Jungen verließen, wenn möglich, die Inseln und fuhren zur See, die nachgeborenen Mädchen blieben als ledige Arbeitskräfte in ihrer Ursprungsfamilie und konnten nicht heiraten (s. Vernier 1984: 60ff). Dieser Brauch setzte sich in weiten Teilen Griechenlands durch, allerdings mit der Variante, dass alle Töchter einer Familie das Recht auf ein Haus zur Hochzeit hatten, in dem das Familienleben seinen Anfang nehmen konnte, und der Bräutigam zog jeweils in das Haus seiner Frau.20 Es waren vor allem die Frauen, Mütter wie Töchter, die im 20. Jahrhundert die Vorteile dieser Mitgift erkannten, denn im Falle einer Scheidung, blieb der Frau und den Kindern das Haus, der Mann musste ausziehen. Viele der Arbeitsmigranten, die in den 1960er und 1970er als ›Gastarbeiter‹ nach Deutschland kamen, waren Männer, die ihren Töchtern das Mitgifthaus bauen mussten. Griechische Dörfer, das bebaute Areal eng zusammen liegender Häuser, sind mithin der Lebensraum der Frauen, das heißt die Häuser sind auch im übertragenen Sinn weiblich.21 Einzig die Plätze und Kaffeehäuser sind aus traditioneller Sicht der Lebensraum der Männer.22 Allerdings hat sich in 20

Ein älterer Bauer in einem Dorf auf der Insel Lesbos erzählte mir, indem er auf ein weiter entfernt liegendes Haus deutete: »Für das Haus da habe ich hart gearbeitet, damit wir es für meine Schwester Marianthi kaufen konnten! Als dann alle meine Schwestern ihre Häuser hatten und ich auch für mich selbst hätte eine Herde aufbauen können, wurden uns 1921 im Krieg die Weiden in der Türkei weggenommen. Die Herde haben wir versucht hierher zu bringen. Aber als wir ein Schiff gefunden und die Tiere verladen hatten und wir fast in Mytilini angekommen waren, hat uns die Schiffsmannschaft über Bord geworfen und ist mit der Herde wieder zurück in die Türkei gefahren – und das waren Griechen, keine Türken!« fügte er bitter hinzu. »So sind meine Brüder, mein Vater und ich völlig mittellos hier wieder angekommen. Das Haus« – er deutet auf sein eigenes – »gehört meiner Frau! Maritsa und ich haben es sehr schwer gehabt, bis ich wieder eine Herde zusammen hatte, von der wir leben konnten!« (Krasberg 2017: 258). 21 In den 1990er Jahren wurde vor allem von US-amerikanischen EthnologInnen über die Rolle der Frau in Griechenland geforscht. Siehe bspw. Pavlidis und Hesser 1986, Dubisch 1986b, du Boulay 1986, Friedl 1986, Salamone und Stanton 1986. Siehe auch Reizakis 1998, Krasberg 1996, 1996a, 1998, 2006, Lauth-Bacas 1998. Über die Beziehungen der Geschlechter siehe Cowan 1991, Herzfeld 1991b, Loizos, Papataxiarchis 1991 22 Die Rituale männlicher Verhaltensweisen beschreibt Herzfeld 1985.

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den letzten 20 bis 30 Jahren mit der besseren Berufsausbildung von Mädchen die Bedeutung des Mitgifthauses verändert. Um einen Arbeitsplatz zu finden wanderten auch die Töchter in die Städte ab und das Mitgifthaus diente nur noch als ›Sommerhaus‹, um Urlaub im Dorf zu machen. Und heute, zu Zeiten der griechischen Finanz- und Staatskrise, ist das Mitgifthaus nicht mehr attraktiv, weil der Staat auch für diese – weitgehend unbewohnten Häuser – Grundsteuer verlangt, die von den Familien in Zeiten von Erwerbslosigkeit nicht aufgebracht werden kann. Das Mitgifthaus als weiblicher Besitz kann symbolisch auch für die Familienzentriertheit in Griechenland gesehen werden. Während im Nordwesten Europas das ›soziale Netz‹ zumindest in normalen Zeiten im Großen und Ganzen gut funktioniert und besondere Belastungen des Einzelnen abmildern kann, ist die Bevölkerung in Griechenland auf die eigene Vorsorge angewiesen. Mittlerweile gibt es zwar auch hier Krankenkassen, Rente, Arbeitslosenunterstützung und Ausbildungsstipendien. Diese sind aber wenig effektiv. In persönlichen Krisenzeiten und beim Aufbau einer wirtschaftlichen Existenz bildet die Familie (Vater, Mutter, ihre Brüder und Schwestern und die erwachsenen Kinder) die einzig sichere Unterstützung – wenn sie gut funktioniert und die Beziehungen nicht durch Streitigkeiten zerrissen sind. Eine umfassende anonyme gesellschaftliche Solidarstruktur, im Sinne eines Sozialstaats, hat es in Griechenland bis in die jüngere Zeit hinein nicht gegeben. Ein Grund dafür ist darin zu sehen, dass Griechenland nie Teil an der Industriellen Revolution in Europa hatte. Damit fehlte auch die historische Erfahrung einer zahlenmäßig großen Arbeiterklasse, die wie in Westeuropa in kämpferischen Auseinandersetzungen mit den Fabrikbesitzern ein Bewusstsein darüber erlangte, Teil des Staats und der Gesellschaft zu sein. In Westeuropa lernte die Bevölkerung (das ›Proletariat‹) im Verlauf dieses sozialen Kampfs nach und nach, sich mit ihren Interessen innerhalb des Nationalstaates durchzusetzen und eine Teilhabe am Staat und seinen Ressourcen zu erzwingen. An diesem Lernprozess, der aus dem Kampf gegen die Verelendung des größten Teils der Bevölkerung heraus entstanden war – damals hieß es ›die soziale Frage‹ – waren auch die Reichen und Herrschenden beteiligt, die schließlich erkennen mussten, dass ihr Wohlstand abhängig war von den Lebensbedingungen der Arbeiter und der Staat sich für die Belange von Unternehmern und Arbeitern einsetzen musste. Diesen mentalen Entwicklungsprozess hin zu einem gesellschaftlichen und

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staatlichen ›Wir-Bewusstsein‹ hat es in Griechenland nicht in gleichem Maß wie in Westeuropa gegeben.23 So gibt es bis heute eine große Distanz zwischen der Bevölkerung und ›ihrem‹ Staat, die sich auch darin ausdrückt, dass es als selbstverständlich angesehen wird, dem Staat auf vielfältige Weise die Steuern vorzuenthalten und dessen gewählte Vertreter wiederum die Kontrollfunktion über Steuerabgaben nur sehr lasch handhaben. Auch wenn das staatlich finanzierte ›soziale Netz‹ heute prinzipiell vorhanden ist, die Gewissheit, sich in Notfällen darauf verlassen zu können, gibt es indes nicht. So scheint es der Bevölkerung wenig sinnvoll zu sein, dem Staat Geld in Form von Steuern zu geben, um damit eine Sozial- und Infrastruktur zu unterhalten. Stattdessen hortet sie ihr nicht gezahltes Steuergeld (die Reichen vermehren es auf dem internationalen Kapitalmarkt) oder bauen damit ein kleines, das eigene Leben sichernde Familienunternehmen (einen Laden, ein Taxi und ähnliches) auf. Die permanente Ebbe in der Staatskasse führte dazu, dass ausländische Geldgeber bis heute immer wieder die griechischen Staatsfinanzen einem internationalen Kontrollsystem unterstellen, was verhindert, dass das griechische Steuer- und Finanzsystem als Ganzes funktionstüchtig wird (s. Gaitanides 1963: 166; Zelepos 2014: 79ff). Wirtschaftliche und politische Interessen Europas ›regieren‹ immer wieder mit. Die ökonomische Kraft Griechenlands, hauptsächlich beruhend auf der traditionellen Wirtschaft aus Seefahrt, Handel, Landwirtschaft und heute auch Tourismus, reichte nie aus, um die notwendigen Einnahmen des Staatshaushalts zu sichern und damit seinen infrastrukturellen und sozialen Aufgaben gerecht zu werden. Außerdem wurde der Staatshaushalt von den dafür Verantwortlichen stets zur individuellen Bereicherung genutzt. Das führte dazu, dass die griechische Bevölkerung ihrem Staat bis heute Misstrauen und Distanz entgegenbringt.

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Gaitanides (1963: 165) beschreibt die ersten Streiks von Werftarbeitern auf der Insel Syros um 1900.

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Edgar Bönisch

Der Bleibtreu Verlag Betriebsethnologische Betrachtung zweier aufeinanderstoßender Unternehmenskulturen Für die ethnologische Forschung in einer Organisation der eigenen Kultur gibt es keine einheitliche Vorgehensweise, weshalb ich im ersten Teil dieses Artikels die von mir genutzte Strategie darlege. Im zweiten Teil präsentiere ich die Ergebnisse der Forschungsschwerpunkte ›Verlagsfamilie‹, ›innerbetriebliche Steuerung‹ und ›Kraft der Geschichten‹. Einleitung Der ›Bleibtreu Verlag‹ wuchs seit seiner Gründung 1925 zu einem der großen deutschen Verlage in einem Spezialbereich der Buchbranche. Als Privatunternehmen der Familie Stadler beschäftigte er etwa 180 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, bevor er 2000 vom Verleger Dr. Peter Schubert und dem ›Konzern‹ gekauft und als Kommanditgesellschaft weitergeführt wurde. Im Jahr 2002 übernahm der Konzern die Kommanditgesellschaft zu hundert Prozent und stellte 2004 das Verlagsprogramm ein. Was 75 Jahre lang bestanden hatte, war innerhalb von viereinhalb Jahren nach dem Verkauf durch die Familie Stadler beendet. Ich war im Verlag beschäftigt, zu einem früheren Zeitpunkt als Auszubildender und dann wieder von 1998 bis 2002 als Sachbearbeiter. In der Zeit dazwischen hatte ich den Magisterabschluss in Ethnologie mit einer Arbeit über Machtstrukturen im damaligen Zaire erreicht und in weiteren Verlagen gearbeitet. Die Idee der Verbindung der Ereignisse im Verlag mit meinem ethnologischen Wissen in einer Dissertation erfolgte, nachdem ich aus dem Bleibtreu Verlag ausgeschieden war. Mir standen als Quellen Zeitungsausschnitte, Videos von Weihnachtsfeiern und firmeninterne Notizen, Artefakte in Form von Buchprodukten

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und Verkaufsprospekten sowie private und firmenhistorische Aufzeichnungen der Unternehmerfamilie Stadler zur Verfügung. Von 2005 bis 2009 befragte ich 27 ehemalige Kolleginnen und Kollegen, mit dem Fokus auf der Fusion im Jahr 2000. Die Interviews wurden als leitfadengestützte offene Gespräche geführt und dauerten in der Regel anderthalb bis zweieinhalb Stunden, in Ausnahmefällen auch dreieinhalb Stunden. Wissenschaftlicher Hintergrund und Methoden Forschungstradition Mit meiner Arbeit stehe ich in der Tradition einer ethnologischen Forschung, die mit William Lloyd Warner (1898-1970) begann. Der Schüler von Robert Lowie und Alfred Kroeber kam durch Bronisław Malinowski nach Sydney zu Alfred Radcliffe-Brown. Von 1927-29 forschte er im nordöstlichen Arnhem Land bei den Murngin und publizierte das Werk ›A Black Civilization: A Social Study of an Australian Tribe‹ (Warner 1937). Der Betriebssoziologe Elton Mayo von der Harvard Business School warb Warner für die Teilnahme an den ›Hawthorne City Studies‹ an, wo Warner seine anthropologischen Techniken auf die Erforschung sozialer Beziehungen in einem Industriebetrieb anwenden konnte. Anschließend führten er und sein Team die ›Yankee City Studies‹ durch, eine funktionalistische Studie über die Schuhindustrie, das Stadtmanagement und die Gewerkschaften in Newburyport (Massachusetts). In der deutschsprachigen Unternehmensforschung beeinflussten mich besonders Andreas Novaks Arbeit ›Die Zentrale‹ (1994) über ein Franchiseunternehmen und Christian Carstensens ›Das Office‹ (1999) über ein US-amerikanisches Museum mit angeschlossenem Verlagsbetrieb. Forschungsfragen Nach dem Organisationsforscher Edgar Schein versteht man ein System am besten, »wenn man versucht, es zu verändern« (Schein 1995: 37). Er bezieht dies auf die Praxis des Unternehmensberaters, der gemeinsam mit den zu Beratenden versucht, neue Handlungsrichtlinien aufzustellen. In meinem Fall ergab sich eine Veränderung im System durch die Verlagsübernahme durch Dr. Schubert und den Konzern, und ich konnte mich auf diese Schnittstelle konzentrieren. Die Forschungsfragen, die ich ver-

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folgte, waren: Was ist vor und nach der Unternehmensübernahme geschehen? Lassen sich die Phasen unter verschiedenen Besitzern als unterschiedliche Kulturen beschreiben? Und war das Aufeinandertreffen der Unternehmenskulturen mitverantwortlich für das Scheitern des Verlags? Begriffsklärung und Kulturverständnis Die Betriebsethnologie sehe ich als ein Teilgebiet der Organisationsethnologie oder Business Anthropology. Ich folge der Definition, die Alfonso und Henkelmann für die Business Anthropology geben: Business Anthropology lässt sich … als angewandte Ethnologie definieren, die mit ethnologischen Theorien und Methoden Themenfelder im Bereich der (Privat-)Wirtschaft, von NGO oder auch staatlichen Institutionen untersucht, wie beispielsweise das Wie und Warum privatwirtschaftlicher Entscheidungen oder soziale und kulturelle Einflussfaktoren auf diese Unternehmen. Vor allem untersucht Business Anthropology aber, welche Bedeutung diese Faktoren für unterschiedliche Personengruppen innerhalb der Belegschaft und welchen Einfluss sie auf ihr Verhalten haben, und leistet damit einen einzigartigen Beitrag, der mittels teilnehmender Beobachtung sowie anderer ethnographischer Methoden und einer holistischen Betrachtung gewonnen wird und der in dieser Form die Perspektive des Managements oder Ergebnisse aus quantitativer Marktforschung konterkariert (Alfonso und Henkelmann 2010: 4). Zudem gehe ich von einem weiten ethnologischen Kulturbegriff aus, der sich schon bei Edward B. Tylor findet: Culture or Civilization, taken in its wide ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society (Tylor 1994 [1871]: 1). Um nun in meinem Forschungsprozess über diese Kultur etwas erfahren zu können, hielt ich mich an Clifford Geertz:

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Der Kulturbegriff, den ich vertrete … ist im Wesentlichen ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Mir geht es um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft scheinen (Geertz 1987: 9). Bei Geertz wird aus Tylors komplexem Ganzen, das der Mensch in der Gesellschaft erworben hat, das Wesen im selbst gesponnenen Bedeutungsgewebe, welches er Kultur nennt. Durch Interpretation von Zeichen und Symbolen, den gesellschaftlichen Ausdrucksformen, ist es möglich, das Bedeutungsgewebe zu durchdringen. Um die Bedeutungszusammenhänge interpretativ zu ermitteln, ist es notwendig, mit den Beforschten zu sprechen, sie zu beobachten und die Beobachtungen in einer ›dichten Beschreibung‹ niederzuschreiben. Die Interpretation findet im Schreibvorgang statt. Das Gesamtbild ergibt die Kultur als einen Rahmen, einen Kontext, der den Verhaltensweisen Sinn verleiht (Schein und Seiser 2010: 47).

Oral history und Erinnerungstheorie Ich vertrete in meiner Forschung die Grundsätze der oral history wie sie Jan Vansina und Lutz Niethammer formuliert haben. Die Erzählungen in der oral history basieren auf Erinnerungen von Augenzeugen oder auf Überlieferungen durch Hörensagen über zeitgenössische Ereignisse. Sie grenzt sich zur überlieferten oral tradition mit einem floating gap, der maximal 80 Jahre zurückliegt, ab (Vansina 1985: 23, Assmann 2002: 52). Lutz Niethammer, einer der Ersten, die sich im deutschsprachigen Raum mit oral history auseinandersetzten, definiert oral history als die Befragung von Zeitgenossen, als eine Methode der Quellenerzeugung der Geschichtswissenschaften, die vor allem darauf ausgerichtet ist, diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die nicht im Fokus der offiziellen Geschichtsschreibung standen und stehen. oral history bietet die Möglichkeit einer subjektiven und demokratischen Sozialgeschichte, indem Betroffene per Interview zu sozialen Prozessen befragt werden (Niethammer 1980: 7-9).

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Um die Erinnerung und das daraus resultierende kollektive Gedächtnis, das sich in den Erzählungen der Einzelnen äußert, zu verstehen, habe ich die Erkenntnisse der Erinnerungstheorie, basierend auf Maurice Halbwachs, hinzugezogen. Erinnerung oder Gedächtnis meint hier nicht die neuronale Funktion des Gehirns, sondern den sozialen Prozess des sich Erinnerns. Der Begriff kollektives Gedächtnis meint das Gedächtnis einer Bezugsgruppe in einem ›sozialen Rahmen‹ (cadre sociale) (Halbwachs 2002). Der soziale Rahmen organisiert die Erinnerungen. Da der einzelne Mensch unterschiedlichen Bezugsgruppen zugehört, existieren für ihn auch unterschiedliche kollektive Gedächtnisse. Gibt es keinen sozialen Rahmen, so gibt es auch keine Erinnerung, Ereignisse werden vergessen (Assmann 2002: 35, 224). Um sich innerhalb der Bezugsgruppe zu erinnern, müssen sich Ideen in Begriffen manifestieren, was durch die Erinnerung an ein konkretes Ereignis, eine Person oder einen Ort geschieht (Halbwachs 1991: 157). Diese Erinnerungen müssen »mit der Sinnfülle einer bedeutsamen Wahrheit« angereichert werden, um zu Erfahrungen zu werden (Assmann 2002: 38). Für die so entstandenen Erinnerungsfiguren gelten die Merkmale: konkreter Bezug auf Zeit (etwa Festkalender) und Raum (etwa Haus oder Dorf), konkreter Bezug auf eine Gruppe (Kollektivgedächtnis) und Rekonstruktivität (Betrachtung der Vergangenheit aus der Gegenwart heraus) (Assmann 2002: 38). Mit Hilfe dieser Merkmale lassen sich Aussagen der Interviewpartnerinnen und -partner strukturieren. Grounded Theory-Methode, Teilnehmende Beobachtung, narrative Tiefeninterviews Mit den Grundideen der Grounded Theory-Methode konnte ich die Interviewführung und -analyse systematisieren. Begründet wurde die Methode von Barney Glaser und Anselm Strauss (Hildenbrand 2000: 32 und Strauss und Corbin 1996). »Die Kategorien der GTM [Grounded Theory-Methode] bleiben bis zum Abschluß der Theorienentwicklung (und darüber hinaus) im Prozess und offen [sic] für Veränderungen, sie werden dem Prinzip des permanenten Vergleichs untergeordnet« (Muckel 2011: 336). Das Verfahren erscheint nach Bernard deceptively simple, er schlägt folgendes Vorgehen vor: 1. Produce transcripts of interviews and read through a small sample of text. 293

2. Identify potential analytic categories – that is, potential themes – that arise. 3. As the categories emerge, pull all the data from those categories together and compare them. 4. Think about how categories are linked together. 5. Use the relations among categories to build theoretical models, constantly checking the models against the data – particularly against negative cases. 6. Present the results of the analysis using exemplars, that is, quotes from interviews that illuminate the theory (Bernard 2002: 462463). Den so beschriebenen Forschungsprozess nennt Bernard einen iterativen Prozess, einen sich immer wieder wiederholenden Prozess, durch den immer wieder neue Bedeutungen hervortreten, wodurch die entstehende Theorie tiefer und tiefer in den Daten begründet wird – »more and more grounded in the data« (Bernard 2002: 463). Den Einstieg in den Forschungsprozess findet man durch Leitfragen, die man bereits im Kopf hat oder man exzerpiert Leitfragen aus dem Text. Spradley schlägt vor, um auffällige Stellen zu finden, nach Alltagskonflikten zu suchen oder nach inhärenten Gegensätzen, mit denen die Leute gelernt haben zu leben, zu suchen und dann zu fragen: »How can they live with them?« (Spradley 1979: 199-201). Abgekürzt erklärt kam ich durch die Assoziationskette ›Gründungsmythos – Gründerfamilie – Verlegerfamilie – Verlag als Familie‹ zum Thema ›Verlagsfamilie‹. Der Begriff ›Controlling‹ wurde immer wieder erwähnt, wodurch letztlich das Untersuchungskapitel ›innerbetriebliche Steuerung‹ entstand. Und durch meine eigenen Fragen – Was ist geschehen? Wie haben sich die Ereignisse für die einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dargestellt? – kam ich zum Thema: ›Kraft der Geschichten‹. Weitere Methoden Weitere Methoden, die ich nutzte, hier jedoch nicht ausführe, sind: narrative Interviewführung mit einem Interviewleitfaden, Sampling der Befragten sowie Transkription der Interviews. Im Bereich der teilnehmenden Beobachtung war für die Unterscheidung von Phasen der völligen Teilnahme, der teilnehmenden Beobachtung, der beobachtenden Teilnahme und auch

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der nicht teilnehmenden Beobachtung von Bedeutung (Halbmayer und Salat 2005: 15-16). Präsentationsparadigma Rashomon Zum Schluss des Methodenteils komme ich auf den Film ›Rashomon‹ von Akira Kurosawa von 1950 zu sprechen (Kurosawa 2010 [1950]). Fachhistorische Bedeutung hat der Film im Rahmen der polyphonen Ethnographie der Repräsentationsdebatte erlangt (Kohl 2012: 127). Da ich Teil der zu untersuchenden Organisationskultur war, hatte ich den Vorteil Hintergründe zu durchschauen, doch gab es auch den Nachteil, dass ich die wissenschaftliche Distanz erst erarbeiten musste. Hier war der Film ein Vorbild, um jederzeit die Aufmerksamkeit gegenüber subjektiven Wahrheiten zu wahren, indem er ein und dasselbe Verbrechen aus unterschiedlichen Perspektiven glaubhaft darstellt und aus verschiedenen Erzählebenen beleuchtet. In meiner Arbeit finden sich dann auch zahlreiche Parallelen zum Film. Es gibt ein zentrales Thema, die Verlagsübernahme, über die verschiedene Personen auf verschiedenen Erzählebenen berichten. Und auch meine eigene Rolle wird hinterfragt, entweder als Regisseur oder als Forscher, der durch das Nähe-Distanzproblem in Interessenkonflikte verwickelt ist, wie die Figur des Holzfällers im Film. Heider sagt über den Film: »one of the fascinations of the film has been its intentional ambiguity« (Heider 1989: 450), so kann ich in Anlehnung daran vielleicht sagen: Ein Faszinosum der Dissertation ist es, dass sie vorsätzlich mehrdeutig ist. Die Forschungsergebnisse Systemunterschiede Die mit den beschriebenen Methoden geschaffenen Quellen konnte ich nun auswerten und habe im Text zu einzelnen Themen jeweils mehrere Stimmen zusammengefasst. Zunächst konnte ich grundlegende Systemunterschiede der aufeinanderstoßenden Verlagsphilosophien feststellen. Frau Kellschmidt berichtete: Spontan fällt mir dazu ein, dass das Menschen sind [im alten Verlag], die das Gefühl hatten, dass sie wissen, wie das funktioniert. Die wissen, zu wem sie gehen müssen, also auf 295

einer sehr persönlichen Ebene, weil es so ein gewachsener Familienbetrieb ist. … Und dann kam jemand mit dieser betriebswirtschaftlichen, volkswirtschaftlichen Managementperspektive ... da guckt sich jemand aus der Adlerperspektive das System an und zeichnet dieses System auf (i10: 351-367). Es lassen sich ein erfahrungsbasiertes von einem System des Prozessmanagements unterscheiden, die ich im Weiteren in den Kategorien ›das Unternehmen als Familie‹, ›innerbetriebliche Steuerung‹ und ›Kraft der Geschichten‹ charakterisiere. Das Unternehmen als Familie Über das alte Verlagssystem sagt Frau Baum: Diese Tradition, 30 Jahre Familienunternehmen … ein ganz klein bisschen verstaubt kam mir das Ganze schon vor, so nach dem Motto, das machen wir schon immer so und deshalb machen wir das so … was nicht negativ sein muss (i05: 50-64). Die Besonderheit des alten Verlags sieht sie in der familiären Struktur: Mein Erklärungsansatz für das Ganze … für mich war Stadler [der Verleger] halt der Übervater, und die ganze Managementreihe, das waren … Kinder … und der Rest waren … Enkelkinder oder entferntere Verwandtschaft (i05: 101121). Die Voraussetzung dafür, dass so ein betriebliches Familienleben möglich wird, sieht sie darin, dass: fast jeder … in einer Art Familie aufgewachsen [ist]. Und da gibt es die verschiedenen Reifestadien, die du durchmachst … also Reifestadien von Familien im Vergleich zu Reifestadien von Unternehmen und dem eigenen Lebenszyklus, Kind, Jugendlicher und so weiter und Alter (i05: 971-999). Frau Baum bezieht sich hier auf den Familientherapeut Robin Skynner, dessen Aussagen in der Feststellung gipfeln: »Eine Firmenkultur erinnert in vielem an eine Familienkultur« (Skynner und Cleese 1995: 117).

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Auch bei Max Weber lassen sich in dessen Klassifikation von patriarchalischer und charismatischer Macht viele Aspekte finden, die die Theorie der Verlagsfamilie unterstützen: Prototyp der patriarchalen Herrschaft ist die Herrschaft des Hausvaters über die Familie, die an die von jeher geltende Tradition glaubt. Analog ist der Unternehmer der Vater und die Angestellten sind die Hauskinder (Elbers 2008: 26-28). Oder auch: »Voraussetzung ist eine im Kindesalter gelernte Abhängigkeit, ergänzt durch ein Gefühl der Hingabe an den idealisierten Helden« (Elbers 2008: 28-30). Die Interviews bestätigten das Vaterbild. Der Verleger des alten Verlags Felix Stadler wurde als Beschützer gesehen und vermittelte eine familiäre Atmosphäre und Vertrauen, zum Beispiel durch Geburtstagsgeschenke, Hochzeitsgeschenke oder gemeinsame Feste. Die Gruppe der Kinder bestand aus leitenden Angestellten und Personen aus dem direkten Arbeitsumfeld des Verlegers. Durch ritualisierte Treffen mit dem Verleger bzw. Vater war der Kontakt gefestigt und die Hierarchie von oben nach unten geklärt, was sich etwa in Sitzordnungen bei Besprechungen äußerte. Die dritte Gruppe, die der Enkelkinder oder entfernten Verwandten, bewegte sich bereits in einer gewissen Ferne zum Großvater. Um fehlenden persönlichen Kontakt auszugleichen, gab es bereits bei den Einstellungsgesprächen verbindende Elemente – wie eine kluge Auswahl zur Familie passender Charaktere oder symbolische Kommunikationsmittel, wie Kommentare in grüner Tinte auf Dokumenten –, die jeder als Zeichen des Verlegers verstand. Die Vorteile des alten, patriarchisch und charismatisch geprägten Systems waren große Stabilität und starker Zusammenhalt sowie eine ausgeprägte Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter. Nachteilig wirkte sich die Bevormundung der Mitarbeiter aus, was zu einem geringen Selbstbewusstsein der Einzelnen führte. Am 1. Juli 1998 geschah das für viele völlig Unerwartete. Der Verleger und Patriarch verließ den Verlag bzw. die Familie.

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Das Unternehmen als ›Jungenbande‹ Als der Verlag von Dr. Peter Schubert übernommen wurde, sah Susanne Baum in erster Linie Orientierungslosigkeit bei der Belegschaft. Um das neue Management für sich einordnen zu können, sucht sie nach Begriffen: Um bei dem Familiending zu bleiben, das war eine Rasselbande von Pubertierenden, die hatten keinen Vater, die hatten immer den großen Bruder, den Schubert, das war für mich dann ne Jungenbande (i05: 437-443). Das bisherige Vater-Kinder-Enkelkinder-Schema sieht Frau Baum ersetzt durch ein Schema von Verleger und Kronprinz, Führungsriege entsprechend den Vasallen und Angestellten als ›entfernte Verwandte‹. Vor allem der charismatische Herrschertyp, wie ihn Max Weber beschreibt, lässt sich in dem System der Jungenbande wiederfinden: »Die charismatische Herrschaft zeigt sich prototypisch im Verhältnis von Anführer und seiner Gefolgschaft, die an die außeralltäglichen Fähigkeiten des Herrschers glauben« (Elbers 2008: 28-30), was ein Zitat eines Interviewpartners bestätigt: »Ich konnte mir nicht vorstellen, wer diesen Job hätte besser machen können. Er war für mich das große Vorbild« (i13: 348-355). Die patriarchischen Elemente jedoch gingen verloren, der neue Verleger konnte und wollte sie nicht übernehmen. Das Verlegerbild des Kronprinzen spiegelt die starke Abhängigkeit vom Konzern, dem eigentlichen König, wider. Intern hatte der Verleger des neuen Verlags Dr. Peter Schubert nach Frau Baums Meinung die Funktion des Bandenchefs für die Jungenbande. Von den Angestellten wurde dieser Kronprinz respektiert, da er früh versuchte, persönliche Kontakte aufzubauen. Doch blieb der Umgang miteinander distanziert. Die eigentliche Jungenbande bestand aus drei von außen kommenden Managern, die vorher keinen näheren Kontakt hatten, nun jedoch als Bande wahrgenommen wurden. Sie kennzeichneten sich durch ihr äußeres Erscheinungsbild, einen ähnlichen Sprachjargon und ein Verhalten, das auf den Bandenchef eingeschworen war. Nach unten, zu den Angestellten, sandte die Jungenbande Abgrenzungssignale in Form hoher Gehälter, neuer Dienstfahrzeuge und einer Ablehnung des bisherigen Buchprogramms. Zwar versuchte die neue Leitung, bisherige Angestellte ins neue Management einzubinden und durch neue Arbeitsverträge Gemeinsamkeiten zu schaffen, doch brachte eine große Entlassungswelle einen Bruch in allen 298

Bereichen Die Entlassungen, ausbleibende Erfolge, gegenseitige Ressentiments, zu knappe Geld- und Zeitressourcen, ein Wechsel im Buchprogramm und das Ausbleiben der Konsolidierung einer eigenen Unternehmenskultur führten zu einer großen Unsicherheit in der Belegschaft. So überraschend wie Verleger Felix Stadler zwei Jahre zuvor das Haus verlassen hatte, so überraschend ging auch Verleger Dr. Peter Schubert. Der ›Konzern‹ übernahm einhundert Prozent des Verlags. Die innerbetriebliche Steuerung Der Begriff ›Controlling‹ tauchte in den Gesprächen immer wieder auf, meist im Sinne eines fehlenden Controllings. Um dieses mir relativ fremde Thema zu bearbeiten, konnte ich für Experteninterviews zwei ehemalige Verlagsmitarbeiter und Wirtschaftsexperten gewinnen, Dr. Rainer Lange und Dr. Richard Schröder. Sie konnten ›Sonderwissen‹ (Froschauer und Lueger 2005: 226, die sich auf Hitzler 1994: 14 beziehen) nachweisen, das »dem alltäglichen Wissen überlegen ist« (Meuser und Nagel 2005: 71). Beide Experten verfügten über eine feldinterne reflektierende, aber auch über eine externe Perspektive. Dr. Rainer Lange Dr. Lange konnte im Interview einen seiner Meinung nach klaren Weg der wirtschaftlichen Entwicklung des Verlags nachzeichnen, ihm fehlte darin vor allem das Controlling und somit Transparenz. Im Interview mit Dr. Schröder wurde der Begriff Controlling durchleuchtet und wir konnten ein völlig eigenes Controllingverständnis des alten Systems herausarbeiten. Die Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ende der 1970er Jahre sieht Dr. Lange als die »goldene Zeit der Verleger von Spezialliteratur« (i25: 45-47). Danach drehte sich der Markt; nicht mehr die Befriedigung großer Nachfrage stand im Vordergrund, sondern das Warenüberangebot und der Wettbewerb. Die Wendezeit brachte zwischen 1990 und 1993 einen Verkaufsboom, der sich bald als Strohfeuer erwies und strukturelle Probleme des Buchhandels der Vorwendezeit wurden wieder deutlich. Im Bleibtreu Verlag sieht Dr. Lange die Entwicklung zu einem ›Gemischtwarenladen‹ in den 1980er Jahren, der sein Profil verlor. Für die Wendezeit spricht Lange sogar von einer »Verzettelung«, die »sowohl im Marketingbereich als auch im Programmbereich« (i25: 112-114) vollzogen

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wurde, mit den Folgen eines Preisverfalls und eines zu hohen Personalstands. Tragischerweise hielt sich trotzdem »noch immer der Mythos, geprägt [von] Bleibtreu als glänzend positionierte[m], gut gehende[m] Verlag … Tatsächlich«, so Langes Meinung, »stand Bleibtreu vor dem Verkauf unmittelbar vor der Pleite« (i25: 337-341). Für die Zeit des Verlags unter dem neuen Verleger Schubert bemängelt Lange, dass »sowohl Konzern als auch Schubert … vor der Übernahme schlampig gearbeitet [hätten] « (i25: 448-449), wobei er vor allem die fehlende konkrete strategische Planung meint. Nach Langes eigenem Plan hätte er »den halben Laden aufgelöst … mit dem Risiko, das Unternehmen an die Wand zu fahren, aber mit der Chance, es zum Erfolg zu führen« (i25: 227-229). Und auch für die Schubertzeit sieht er eine Schwäche im Festhalten am Mythos des erfolgreichen Verlags: »Unter modifizierter Fortsetzung des Mythos, das lautete dann … Wir schaffen es und erreichen auch die 100 Millionen DM [Jahresumsatz]« (i25: 373-375). Nach zwei Jahren verließ der Verleger Dr. Peter Schubert den Bleibtreu Verlag wieder. Lange sieht den Grund darin, dass Schubert inzwischen andere Geschäftsinteressen gehabt habe und, dass die Banken keine Kredite mehr gewährten (i25: 853-854). Die Hauptschwächen des Verlags sieht Dr. Lange im fehlende[n] Controlling, oder wie auch immer man es bezeichnen mag, jedenfalls etwas, was in der Lage gewesen wäre, den Verlag detailliert abzubilden … es gab also nichts, was nur im Ansatz den Namen Controlling verdient hätte (i25: 375-380). Unabhängig von Dr. Lange fand ich über ›Controlling‹ verblüffende Aussagen wie: »Jeder hat seine eigenen Vorstellungen darüber, was Controlling bedeutet oder bedeuten soll, nur jeder meint etwas anderes« (Preißler 1998: 12). Oder etwas griffiger, ›Controlling‹ bedeute »Vorgänge und Ereignisse im Griff zu haben« (Ziegenbein 2012: 32). So war es mein Wunsch, im nächsten Interview mit Dr. Richard Schröder mehr über Controlling zu erfahren. Dr. Richard Schröder Schröder betonte, dass es Anfang der 1960er Jahre, als Stadler Junior den Betrieb übernahm, noch gar kein Controlling gab. Es hieß ›Kostenrech-

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nung‹. Er vergleicht die Entwicklung am Beispiel des Marketing: »Marketing brauchte man damals nicht in dem Maße, weil die Nachfrage größer war als das Angebot« (i26: 265-270). Eine Situation, die sich allerdings schon bald änderte: »das hörte in den 1970er Jahren auf … da merkte man, die Nachfrage geht zurück« (i26: 272-273). Controlling lasse sich als: »Steuerung vom Ziel her« beschreiben: Controlling fängt an … mit der Zielplanung. Sie brauchen ein Ziel: Wir wollen 100 Millionen Umsatz machen, das kann durchaus das Ziel sein. Das Ziel muss heruntergebrochen werden, auf die einzelnen Verlagsschwerpunkte … Jeder Bereich muss für sich geplant werden (i26: 284-292). Anhand der Liquiditätsplanung, eines Teilbereichs des Controllings, erklärt Schröder die Controllingpraxis: Die Liquiditätsplanung muss ein Jahr vorher gemacht werden … Da haben Sie die Planung, daraus ergeben sich die Sollwerte für jeden einzelnen, eigentlich für jede einzelne Kostenart, Personalkosten – die werden ja alle daraus abgeleitet, und dann fangen Sie an zu arbeiten und daraus ergeben sich Daten, und die stellen Sie dann nur noch nebeneinander und dann machen Sie eine Abweichungsanalyse … Dann sehen Sie anhand der Zahlen den Deckungsbeitrag im Soll …. [und man stellt die Frage: ] was können wir tun? (i26: 301311). Damit diese Analyse rechtzeitig zu Ergebnissen führen kann, »machen Sie [das] am besten monatlich und nicht jährlich, sondern monatlich, damit Sie auch gegensteuern können« (i26: 308-309). Das Wissen, das Schröder in seiner Zeit beim Bleibtreu Verlag erworben hatte, reicht seiner Meinung nach nicht aus, um eine Einschätzung der wirtschaftlichen Lage des Verlags abgeben zu können: »Ich könnte nicht beurteilen, ob Bleibtreu ein Sanierungsfall war … das könnte ich nicht durch Zahlen belegen.« Den Grund dafür sieht er darin, dass er nicht weiß, »ob es Berichte gab … wie man es aus dem Controlling kennt. Ob es ein monatliches Berichtswesen gab, ob das erstellt worden ist, ob das besprochen worden ist, wenn ja, in welchen Kreisen« (i26: 39-43). Im Interview versuchten wir dann nachzuvollziehen, wie es im System Stadler zu wirtschaftlichen Entscheidungen kam, wenn es denn angeblich 301

kein Controllingsystem gab. Nach den Erkenntnissen von Schröder funktionierte das System Stadler über tägliche Listen über Verkaufszahlen. Die Zahlen waren so komplex, dass ein Außenstehender nur rudimentäre Auskünfte über den Erfolg erhielt. Diese Zahlen, kombiniert mit dem großen Gespür des Verlegers für den Markt, bildeten die Basis für die Strategie des Verlags. Sie wurden in kleinen Besprechungskreisen diskutiert und kommuniziert. Die klare Hierarchie von oben nach unten und das Vertrauen der Mitarbeiter in die Person des Verlegers sowie die Tradition des Hauses ließen keine Zweifel an den unternehmerischen Entscheidungen aufkommen und wirkten systemstabilisierend. Um aus diesem durch das Wissen und das Gespür Einzelner gesteuerte System ein in Zahlen anwendbares System zu erhalten, wurde mit einem Multiplikationsfaktor gearbeitet, was im Verlagswesen üblich ist, jedoch, gerade in der immer schneller fortschreitenden Marktentwicklung, auch große Risiken birgt. Der nachfolgende Verleger Dr. Peter Schubert hatte keine Chance, dieses sehr persönlich geprägte System zu verstehen und im gleichen Stil fortzusetzen. Wichtige Wissensträger aus dem alten System standen nicht mehr zur Verfügung. Schubert wollte und musste ein eigenes Steuerungssystem einführen, ein prozessgesteuertes System, das für alle transparent sein sollte. Jedoch scheiterte dies in der zur Verfügung stehenden Zeit. Das Geld ging aus – weder der Konzern noch die Banken trauten der Entwicklung und zogen sich zurück. Die Kraft von Geschichten oder Erzählungen über Erzählungen Auch im Kapitel ›Die Kraft der Geschichten‹ berichten die Teilnehmer der Ereignisse, jedoch soll auf einer Metaebene die Funktion der Geschichten erforscht werden. Auch hier dient der Rashomon-Film, indem sich unter dem Rashomon-Tor Personen über die Vorfälle austauschen, als Vorbild. Ich orientiere mich an Arist von Schlippe und Torsten Groth (2007), die von »zentripetaler und zentrifugaler Kraft von Geschichten« in Unternehmen sprechen. Die erstere fördert den Zusammenhalt im Unternehmen, die zweite, die zentrifugale Kraft, treibt das Unternehmenssystem auseinander. Für die Analyse unterteile ich die Historie des Verlags in drei Bereiche. Zunächst die Überlieferungen der Gründungsgeschichte, dann den Bereich ab den 1960er Jahren, den einige der Mitarbeiter noch selbst miterlebt haben, und zuletzt die Verlegerschaft von Dr. Peter Schubert. Die Gründungsgeschichte wurde vor allem durch den Verleger selbst institutionalisiert: er erzählte sie immer wieder zu besonderen Anlässen. Im 302

Laufe der Zeit wurde sie auch, immer vollständiger, schriftlich niedergelegt. Sie beinhaltete vor allem ökonomische Highlights und die faktische Geschichte, beispielsweise Informationen über Erfolgstitel, Wachstum, technische und kaufmännische Innovationen sowie Zukäufe und Standortwechsel. Ein kleinerer Teil der Gründungsgeschichte, eher Dinge des Alltags, überlieferte sich mündlich in Anekdoten. Aus der zumeist mündlich überlieferten jüngeren Zeit des Verlags erfuhr ich vieles über die familiäre Atmosphäre der 1960er und 1970er Jahre, die autoritären, spannungsgeladenen 1980er Jahre und die Auflockerung der Verhältnisse in den 1990er Jahren. Aus der Zeit ab 2000, der Zeit des Verlegerwechsels, stammen Erzählungen über das distanzierte Verhältnis zwischen Management und den Angestellten. Prägend waren in dieser Ära die Entlassungen und der wirtschaftliche Misserfolg. Aus den Erzählungen lassen sich die vorherrschenden Wertvorstellungen der unterschiedlichen Epochen analysieren. Aus der Gründungsgeschichte ist das Bewusstsein für ›Tradition‹ ersichtlich, basierend auf der generationenübergreifenden Verlagsgeschichte. Ständiges Wachstum führte zu dem Wert Erfolg im Selbstverständnis. Ideenreichtum führte zum Wert der Originalität. Die enge Zusammenarbeit von Familie und Angestellten, gefördert durch gemeinsame Veranstaltungen, stand für Familiarität. Ein häufiger Ortswechsel stand für Flexibilität. Auch in der Zeit unter Felix Stadler galten diese Werte weiter. Die ›Tradition‹ war ungebrochen, es gab die Aussicht auf deren Fortsetzung in der nächsten Generation. Der Erfolg in Form von personellem und wirtschaftlichem Wachstum setzte sich verstärkt fort. Der Ideenreichtum des Verlegers garantierte den Bestand der Originalität. Die weiterhin gemeinsam erlebten Feste und Veranstaltungen erhielten die Familiarität. Und auch die Flexibilität war symbolisiert durch häufige Umzüge, wenn auch nur im eigenen Haus. Was die Erinnerungen aus dieser jüngeren Verlagszeit allerdings auch aufdeckten, waren Geheimniskrämerei und fehlende Transparenz bezüglich der tatsächlichen Geschäftssituation. Doch anscheinend wirkte sich das nicht negativ auf den Zusammenhalt des Systems aus – das Vertrauen in die Geschäftsleitung konnte dies offenbar ausgleichen. Die gewachsene Unternehmensgröße und die veränderten Ansprüche der Belegschaft führten in den 1990er Jahren zu Änderungen in den ideellen Unternehmenswerten. Die durch die Geschäftsleitung angestoßene Entwicklung führte letztlich zu einem Betriebsrat und insgesamt zu mehr Selbstwertgefühl und Mitspracherecht. 303

Der neue Verleger Dr. Peter Schubert legte besonderen Wert auf vermehrte Transparenz. Mit den zunächst nur negativen Nachrichten konnten die patriarchisch beschützten Mitarbeiter nur schlecht umgehen. Außerdem verhinderte der distanzierte Umgang zwischen Management und Belegschaft einen verständnisvolleren Umgang miteinander. Die überlieferten Werte gingen verloren. Die Tradition des Familienbetriebs war gebrochen. Der Erfolg blieb aus. Eine Familiarität war noch nicht wieder hergestellt. Die Originalität ging mit dem Ausbleiben der Ideen des alten Verlegers verloren. Die Flexibilität, die vorher schon eventuell eine Scheinflexibilität war, wurde als solche entlarvt und man strebte mehr Urbanität an, um die Vernetzung zu steigern und damit flexibler zu werden. Über die Geschichten im Betrieb lässt sich sagen, dass sie die im Unternehmen geförderten Werte, die die Mitarbeiter schätzten und die Grundlage für ein stabiles Unternehmenssystem waren, weiter trugen. Sie strahlten damit eine zentripetale, den Zusammenhalt fördernde Kraft für den Betrieb aus. Die Geschichten der späteren Epoche zeigen die Veränderung der Werte bis hin zu ihrem Zerfall. Sie wurden zu Trägern der zentrifugalen, das System zerstörenden, Kraft. Der Wert, mit dem der Verleger Schubert eine positive Ausstrahlung vermitteln wollte, die Transparenz, war jedoch ein Wert, der ›traditionell‹ nicht ernst genommen wurde. Ergebnisse Neben der Beantwortung der Forschungsfragen möchte ich vier Ergebnisse der Arbeit festhalten. Ich erkannte, dass die betriebseigenen Werte wie Tradition, Erfolg, Flexibilität, Originalität und Familiarität in einer patriarchal und charismatisch gesteuerten Ordnung auch für mich galten. Ich war tief verwurzelt im System und musste einen Weg finden die wissenschaftliche Distanz herzustellen, was durch Selbstreflexion, Erkenntnisse im Forschungsprozess und die Anwendung ethnologischer und sozialwissenschaftlicher Methoden gelang. Die Entwicklung einer Systematik zur Unternehmenskulturforschung ist im Werden. Eingebettet in eine durch Lloyd Warner in den 1930er Jahren begründete ethnologische Forschungstradition konnte ich mit dem iterativen Forschungsprinzip der Grounded Theory-Methode Quellen erzeugen

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und auswerten. Der Forschungsfokus lag auf einem Bruch in der Unternehmenskultur und auf den subjektiven Erzählungen der Befragten und deren kollektivem Gedächtnis. Ausgewählte Kategorien deuten das ›selbstgesponnene Bedeutungsgewebe‹ an. Der Film ›Rashomon‹ mit seinen vielfachen Erzählperspektiven und Erzählebenen unterstützt die Wahrung der Distanz und gibt ein Präsentationsschema vor. Die Unternehmenskulturen lassen sich mit Hilfe von drei Kategorien beschreiben. Interviewausschnitte, die Familientheorie von Robin Skinner und die Theorie der patriarchischen und charismatischen Herrschaftstypen von Max Weber ermöglichen eine Unterscheidung in ein Familiensystem und ein System einer Jungenbande. Durch Experteninterviews lässt sich ein zunächst nicht erkennbares Controllingsystem als ein System in starker Abhängigkeit von der Persönlichkeit des alten Verlegers nachweisen. Und anhand von Geschichten, die im Betrieb kursieren, lassen sich stabilisierende und destabilisierende Kräfte nachvollziehen. Die Forschungsantworten Die zu Beginn formulierten Forschungsfragen kann ich folgendermaßen beantworten: Was ist vor und nach der Unternehmensübernahme geschehen? Es trafen zwei unvereinbare Systeme aufeinander. Ein erfahrungsgeprägtes System traf auf ein Management der Prozesssteuerung, welches synonym einerseits als Familie, andererseits als geführt durch eine Jungenbande bezeichnet wurde. Wertvorstellungen gingen dadurch verloren. Auch die Steuerung wechselte von einem patriarchisch zentral geführten alten Verlag zu einem neuen Verlag, der offensichtlich zu komplex gedacht war, um sich in der kurzen Zeit entfalten zu können. Die Untersuchung der Funktion der erzählten Geschichten verdeutlicht die Stabilität des alten Systems und die Fragilität des neuen. Lassen sich die Phasen unter verschiedenen Besitzern als unterschiedliche Kulturen beschreiben? Ich habe in Teilaspekten, die sich in den drei beschriebenen Kategorien spiegeln, begonnen, das je eigene ›selbstgesponnene Bedeutungsgewebe‹ darzustellen und somit den Anfang zweier Kulturbeschreibungen gemacht. Die alte Kultur strahlte Werte wie Tradition, Erfolg, Flexibilität, Originalität und Familiarität aus. Die neue Kultur hat ihre Werte noch nicht gefunden. War das Aufeinandertreffen der Unternehmenskulturen mitverantwortlich für das Scheitern des Verlags? Die Arbeit zeigt, dass offensichtlich zum 305

Zeitpunkt der Verlagsübernahme nicht sorgfältig genug gearbeitet worden ist. Das heißt, dass nicht das Aufeinandertreffen der Unternehmenskulturen an sich verantwortlich für das Scheitern des Verlags ist, sondern dass die Unverträglichkeit der unterschiedlichen Kulturen zu wenig berücksichtigt worden ist. Die Vielfalt der Perspektiven zeigt, dass es vermutlich keine letztgültige Wahrheit für den Untergang des Verlags gibt. Doch soll die Arbeit mögliche Varianten zeigen und zu Überlegungen über weitere animieren, wie Volker Gottowik schreibt: »Der Ethnograf … entwirft eine mögliche Version und bringt damit auch seine schöpferische Kraft zum Ausdruck« (Gottowik 1997: 319). So sollte der »Mythos von immer anderen Seiten beleuchtet …« (Schlatter 1989: 13) werden. Und wie der Experte Lange ausdrückt, nachdem er das Wichtigste gesagt hatte: »So, jetzt fangen wir noch mal an!« (i25: 11). Literaturverzeichnis Alfonso, Carolin und Martina Henkelmann 2010. Business Anthropology – ein neuer Arbeitsbereich für Ethnologen? Ethnoscripts 12 (2), 3-11. Assmann, Jan 2002. Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C. H. Beck. Bernard, H. Russell 2002. Research Methods in Anthropology: Qualitative and Quantitative Approaches. Walnut Creek: AltaMira Press. Bönisch, Edgar 2014. Der Bleibtreu Verlag: vom Familienunternehmen zur gescheiterten Übernahme. Betriebsethnologische Betrachtung des Aufeinanderstoßens verschiedener Unternehmenskulturen. Frankfurt am Main: Kula Verlag. Carstensen, Christian 1999. Das ›Handbook-Office‹: Organisationsethnologische Studie eines Redaktionsbüros. Frankfurt am Main. Elbers, Matthias 2008. Der patriarchale Unternehmer aus soziologischer Sicht. In: Sabine Strick (Hg.) Die Psyche des Patriarchen. Frankfurt am Main: Frankfurter Allgemeine Buch. Froschauer, Ulrike und Manfred Lueger 2005. Expertinnengespräche in der interpretativen Organisationsforschung. In: Alexander Bogner, Beate Littig und Wolfgang Menz (Hg.) Das Experteninterview: Theorie, Methode, Anwendung. Opladen: Leske und Budrich, 223-240.

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Peter J. Bräunlein

Hieronymus Köler d. Ä. (1507-1573) und die Neue Welt Eine imaginäre Begegnung

Die Entdeckung des Fremden – Prolog Meine erste Begegnung mit Hieronymus Köler fand Anfang der 1990er Jahre statt. Ich arbeitete am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, um eine Ausstellung vorzubereiten, die den Behaim-Globus, der 1992 500 Jahre alt wurde, würdigen sollte.1 Neben Kartographie und nautischen Instrumenten spielten dabei die wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen Portugals und Spaniens ein Rolle, aber auch die Bedeutung Nürnbergs in dieser Zeit. Zu thematisieren war dabei die europäische Expansion des 15. und 16. Jahrhunderts und nicht zuletzt ging es um Formen der europäisch-überseeischen Begegnung zwischen den ›Wilden‹ und den ›Zivilisierten‹, wie der Historiker Urs Bitterli (1976) seine damals vielgelesene Studie betitelt hatte. Der Nürnberger Hieronymus Köler war in diesem Zusammenhang ein interessanter Zeitzeuge, der in den 1530er Jahren auf die iberische Halbinsel gereist war, in Sevilla mit Wissbegierde die Nachrichten aus der Neuen Welt vernahm und den Entschluss fasste, selbst an einer Expedition dorthin teilzunehmen.2 1

Der Globus wurde 1492 auf Initiative des Nürnbergers Martin Behaim (14591507) verfertigt und vom Rat der Stadt Nürnberg finanziert. Die Ausstellung ›Focus Behaim Globus‹ wurde vom Dezember 1992 bis Mai 1993 gezeigt (vgl. Focus Behaim Globus 1992). 2 Diese Episode aus Kölers Lebensbeschreibung wurde bereits 1874 veröffentlicht. Allerdings wurden nur die Nürnberger Archivalien ausgewertet (vgl. Welser 1874).

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Zwar blieb es bei dem Versuch Kölers, die Neue Welt zu betreten, doch erfahren wir aus seinen Aufzeichnungen einiges über die Vorbereitung des Unternehmens, über Erwartungen und Begehrlichkeiten der Beteiligten und wir lesen sogar etwas über Aussehen und Lebensweise der dort lebenden Indianer. Köler hatte solche nicht mit eigenen Augen gesehen, sondern von Seeleuten und zurückgekehrten Siedlern von ihnen gehört. Dass er sich selbst nicht an kolonialen Raub- und Mordzügen beteiligt hatte, machte ihn sympathisch. Hieronymus Köler bekam einen zwar kleinen, doch ehrenvollen Platz in der Ausstellung zugewiesen (Focus Behaim Globus 1992: 837). Meine Neugierde war geweckt und gleichzeitig das Bedürfnis, ihm mehr Aufmerksamkeit zu schenken als dies zunächst möglich war. Kölers Beschreibungen schienen mir eine wertvolle Quelle für eine Imaginationsgeschichte des Fremden zu sein. Der/die/das Fremde hatte Konjunktur in den 1980er Jahren. Die Entdeckung des Gegenstandes ›Fremdheit‹ und die Einsicht in die Notwendigkeit, Fremdverstehen zu erlernen, war ausgelöst worden durch das Phänomen Migration. Politisch wurde dementiert, was längst unübersehbar war: Die Bundesrepublik war Einwanderungsland geworden. Die Rede von der ›multikulturellen Gesellschaft‹ machte die Verhältnisbestimmung ›Wir‹ und ›die Anderen‹ zum Thema in der öffentlichen Debatte und der Akademie. Das Verstehen des Fremden beschäftigte Sozial- und Kulturwissenschaften, Geschichts- und Literaturwissenschaften, aber auch Künstler, Sozialarbeiter und Museumspädagogen. Aus einem allgemeinen ›Wir‹ und die ›Anderen‹ wurde schließlich ›Europa und die Anderen‹.3 Diese Thematik wurde in den 1980er und frühen 1990er Jahren publikumswirksam in großen Ausstellungen bearbeitet. Das ›Fremde‹ wurde dabei vorwiegend ästhetisiert und historisiert.4 ›Exotische‹ Welten wurden durch die Brille 3

Die Dissertation von Felicitas Schmieder (1991) und die Habilitationsschrift von Folker Reichert (1990) sind dafür zwei Beispiele. 4 Die Institution der Berliner Festspiele hatte hier die Rolle des Trendsetters. Der Trend setzte 1982 ein mit der Ausstellung ›Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas‹. Es folgten weithin Ausstellungen wie ›Europa und die Kaiser von China‹ (Berlin 1985), ›Exotische Welten – Europäische Phantasien‹ (Stuttgart 1987), ›Europa und der Orient, 800-1900‹ (Berlin 1989), ›Japan und Europa, 1543-1929‹ (Berlin 1993). Die durchweg historiographisch konzipierten Ausstellungen sparten die Gegenwart aus. Im Vordergrund stand die Kategorie

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europäischer Phantasien.5 Man könnte dies im Rückblick als verzögertes Feedback auf Edward Saids (1978) vieldiskutierte Orientalismus-These verstehen, wäre die Thematisierung von Machtverhältnissen nicht so offenkundig ausgeblendet gewesen. Das änderte sich mit dem ›KolumbusJahr‹ 1992. Die 500-Jahr-Feier der ›Entdeckung‹ Amerikas wurde an vielen Orten der Alten und Neuen Welt zelebriert. War nicht das, was die Besatzung der Santa María in der karibischen Inselwelt erlebte, die Begegnung mit dem maximal Fremden? Handelte es sich dabei nicht um einen historischen Modellfall, der 500 Jahre später unter dem Zeichen der Globalisierung als besonders lehrreich erschien? Zwar waren auch hier die Großveranstaltungen (Weltausstellung in Sevilla und in der National Gallery of Art in Washington) bemüht, Kunstschätze zu präsentieren und Kolonialismus und Ausbeutungsgeschichte in den Hintergrund zu stellen, doch stimulierte das Thema unvermeidlich Machtfragen und die Reflexion der ›eigen-fremd‹-Dichotomie.6 Die Behaim-Ausstellung in Nürnberg stand zwar im Windschatten des Kolumbus-Jahres, war aber gleichwohl von der allgemeinen Debatte um Fremdverstehen erfasst.

›Exotismus‹, deren wechselnde Moden abgehandelt wurden. Damit wurde der vereinnahmende Blick der Europäer auf die Anderen hauptsächlich ästhetisierend abgehandelt. 5 Eine aufwendige Ausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen in Stuttgart stellte die wechselnden Phasen europäischer Exotismusfaszination in den Mittelpunkt (vgl. Exotische Welten 1987). 6 Die Weltausstellung in Sevilla stand unter dem Motto ›Kunst und Kultur um 1492‹. Damit war nicht nur die ›Entdeckung‹ Amerikas Thema, sondern man wollte in dieser Mammut-Schau einen globalen Querschnitt der Weltkulturen um 1492 darstellen. Gezeigt wurden Exponate aus Europa, Alt-Amerika, der islamischen Welt und dem Fernen Osten (Indien, China). Eine fast identische Idee verfolgten die Ausstellungsmacher der National Gallery of Art in Washington. Das dort gezeigte Projekt trug den Titel ›CIRCA 1492 – Art in the Age of Exploration‹ und befasste sich, vorwiegend kunsthistorisch, mit drei Regionen: Europa, Amerika und China. Vergleichsweise bescheiden präsentierte sich die Ausstellung ›Amerika 1492-1992: Neue Welten – Neue Wirklichkeiten‹ im Martin-GropiusBau in Berlin.

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Diese Debatte der 1980er Jahre kreiste, zumindest im intellektuellen Milieu und befeuert durch Stimmen postkolonialer Kritik, um die grundsätzliche Frage, ob Fremdverstehen überhaupt möglich sei, oder ob das Fremde nicht bereits im Moment des Erstkontaktes kannibalisiert werde. Ist nicht im Blick des Entdeckers ein hegemonialer Gestus eingeschlossen? Wird das Unvertraute nicht unweigerlich nostrifiziert? Sind Textzeugnisse solcher Begegnungen mit dem kulturell Fremden unentrinnbar immer nur Spiegel des Eigenen? Diese zugespitzten Positionen belebten die Diskussion und die Forschung zur Ästhetik und Politik des Fremdverstehens, zu Wirklichkeitswahrnehmung und Repräsentationsstrategien. Imagologie und Xenologie waren ambitionierte Versuche, Fremdheitsforschung gar in eigenständigen Disziplinen zu befestigen.7 Insbesondere die Ethnologie als ›Wissenschaft vom kulturell Fremden‹ (Kohl 1993) sah sich aufgefordert, über Möglichkeiten und Grenzen des Fremdverstehens nachzudenken. Vorauszusetzen war dabei eine Projektionsfläche von Abwehr und Verlangen, die sich zwischen Fremdes und Eigenes schiebt, und die Einsicht, dass schreibaktive Ethnologen fremde Realitäten nicht nur dokumentieren, sondern machtvoll mitgestalten.8 Ethnologisch inspirierte Literaturwissenschaft wandte sich einer bis dahin eher unbeachteten Gattung - der des Reiseberichts - zu und analysierte Schreibund Bildstrategien, um Fremderfahrung und Fiktionalität ins rechte Verhältnis zu setzen (wesentliche Impulse liefert hierfür Brenner 1988a, 1990). Reiseberichte von Kolumbus bis Lévi-Strauss waren demnach als Texte zu lesen, die perspektivisch gebunden sind und Fremderfahrung nur als konstruierende Texterfahrung zugänglich machen (siehe hierzu Kiening 1996: 71). Zu diesem Zeitpunkt hatte allerdings die Realgeschichte den historisierenden, konstruktivistisch-hermeneutischen Umgang mit Fremdheit be-

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Das Projekt einer literaturwissenschaftlichen Imagologie ist weitgehend in der interkulturellen Hermeneutik aufgegangen. Xenologie ist überwiegend ein Projekt des kamerunischen Politologen Léopold-Joseph Bonny Duala-M‘bedy geblieben (vgl. Dyserinck und Syndram 1988, Hufnagel 1993, Duala-M‘bedy 1977, SchmiedKowarzik 2004). 8 Die ›Writing Culture‹-Debatte rückte dies unmissverständlich ins Bewusstsein (vgl. Clifford und Marcus 1986).

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reits überholt. Die massenhafte Begegnung mit real existierenden Fremden, die nicht als fremd gelten durften, nämlich mit jenen Bürgern, die aus der ehemaligen DDR in den Westen strömten, konfrontierte mit unerwarteten Herausforderungen. Zu Beginn der 1990er Jahre, angesichts pogromartiger Ausschreitungen in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen erhielt das Thema Fremdheit eine gänzlich andere Einfärbung.9 Zehn Jahre später, am 11. September 2001, wurde die Dichotomie ›fremd-eigen‹ explosionsartig dramatisiert und gilt seither als bedrohlicher Antagonismus. Xenologische Hermeneutik und sozialpädagogische Visionen einer multikulturellen Gesellschaft bestanden längerfristig diesen Härtetest nicht. War es in den 1980er Jahren noch die Begegnung mit dem Fremden, die Faszination entfalten konnte, so sind es seither Clash-Szenarien, die Angst machen.10 Nicht das Fremde, sondern Überfremdungsfurcht und das Kreisen ums Eigene stehen dabei im Mittelpunkt. ›Deutschland schafft sich ab‹ oder ›die Deutschen werden ersetzt‹ sind die populistischen Kampfschreie der Gegenwart.11 Die Abwehr des und der Fremden bestimmt das politische Tagesgeschäft. Der wissenschaftliche Blick ist davon nicht unbeeinflusst. 9

Zwischen dem 17. und 23. September 1991 wurden im sächsischen Hoyerswerda ein Wohnheim für Vertragsarbeiter und ein Flüchtlingswohnheim angegriffen. Vom 22.-26. August 1992 wurde die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter in RostockLichtenhagen rassistisch motiviert attackiert. Am 23. November 1992 erfolgte ein Brandanschlag auf ein von türkischen Familien bewohntes Haus in Mölln, Schleswig-Holstein, der drei Menschenleben kostete. Am 29. Mai 1993 starben fünf Menschen türkischer Abstammung in den Flammen ihres Hauses in Solingen, das von Neonazis angesteckt worden war. 10 Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums wurde nicht nur das ›Ende des Geschichte‹ (im Sinne der Systemgegensätze Kapitalismus-Kommunismus) ausgerufen, sondern auch die Prognose eines nahenden ›Clash of Civilizations‹ durch den Politikwissenschaftler und PentagonBerater Samuel Huntington (1996). Wiewohl Huntingtons Thesen als wissenschaftlich unhaltbar kritisiert wurden, waren sie politisch ›gut zu denken‹ und beförderten bekanntermaßen eine eigene Wirklichkeit. 11 Thilo Sarrazins Buch ›Deutschland schafft sich ab‹ erschien 2010 und ist, mehrfach aufgelegt, eines der bestverkauften Sachbücher hierzulande. Die Redewendung von der ›Ersetzung‹ der einheimischen Bevölkerung durch Fremde gehört zum Vokabular der europäischen Rechtspopulisten, das mittlerweile in den USA

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Eine Textstelle aus dem Jahr 1988 mag dies verdeutlichen. Der Germanist Peter J. Brenner, der wesentlich zur Erforschung der Gattung Reisebericht beigetragen hat, schreibt in seinem lesenswerten Artikel ›Die Erfahrung der Fremde‹: »Dem Einfluß des Fremden, der vor allem durch Migrationsbewegungen virulent wird, wohnt ein kulturelles Innovationspotential inne, das sich auf den verschiedensten Gebieten, vom Alltagsleben bis zur Wirtschaftsordnung entfalten kann. Der Fremde wird aufgrund der spezifischen Voraussetzungen, die er in eine Kultur einbringen kann, zum Ferment des wirtschaftlichen und kulturellen Wandels; anders als die eingesessenen Mitglieder eines Kulturkreises ist er nicht durch Traditionen und mentale Gewohnheit gehemmt und kann deshalb eine innovierende Kraft entfalten, die unter dem Signum des neuzeitlich-aufklärerischen Fortschrittsgedankens als positiv empfunden werden muß« (Brenner 1988b: 26-27). Dreißig Jahre später ist jegliche Unbefangenheit im Umgang mit solchen Zeilen sowohl bei Leser wie Autoren geschwunden. Sie wirken womöglich provozierend, sind zumindest befremdlich. Was hat diese weitschweifige Rückbesinnung auf den Zeitgeist der 1980er Jahre mit Hieronymus Köler zu tun? Gedächtnisarbeit, so scheint mir, hat seinen legitimen Platz in Festschriften. Das intellektuelle Klima jener Dekade, in der auf produktive Weise über das Fremdverstehen nachgedacht wurde, inspirierte auch Mark Münzels Arbeiten, die – auf höchst originelle Weise und durchaus gegen den Zeitgeist gebürstet – Möglichkeiten des Fremdverstehens ausloten.12 Seine Mehrfachexpertise in Ethnologie und Literaturwissenschaft ist hierbei befruchtend und regte dazu an, mich erneut mit Hieronymus Köler zu befassen und über dessen imaginäre Begegnung mit einer Neuen Welt nachzudenken. übernommen wird. Bei den Ausschreitungen in Charlottesville (USA) am 12.8.2017 riefen Neonazis ›Jews will not replace us‹ (https://www.theguardian.com/us-news/2017/aug/16/charlottesville-neo-nazis-vice-news-hbo [18.08.2017]). Die Ersetzungsrhetorik geht vermutlich auf den französischen Philosophen und Vordenker des Front National, Renaud Camus, zurück, der in »Le Grand Remplacement« vor einem »großen Bevölkerungsaustausch« warnt (http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/renaud-camus-thesensind-bei-front-national-salonfaehig-13809272.html [21.09.2017]). 12 Stellvertretend für die rege Publikationstätigkeit Mark Münzels seien hier nur zwei Beiträge genannt, die um das Verstehen indianischen Denkens kreisen (Münzel 2000, 2002).

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… zu wandern, herrn zu dienen, mer zu erfaren, sehen und lernen … Das bewegte Leben des Hieronymus Köler Hieronymus Köler lebte in einer Zeit, die gemeinhin und nach europäischem Schulbuchstandard als Epochenschwelle gilt. Am 28. Januar 1507 in der freien Reichsstadt Nürnberg geboren, ist er Kind der sich entfaltenden Neuzeit. Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt, Humanismus, Renaissance und Reformation sind pathosgetragene Eingangsakkorde dieses Zeitalters. Diese Akkorde brechen sich in dem bewegten Leben Kölers auf die eine oder andere, mitunter überraschende Weise. Wir erfahren davon aus seinen autobiographischen Aufzeichnungen, die von der deutschbritischen Historikerin Hannah Amburger Anfang der 1930er Jahre in Teilen ediert wurden.13 Seine Mutter Agnes (gest. 1540), eine geborene Ebner, stammt aus Salzburg, der Vater Hans (1463-1539) ist Tuchhändler. Die Kölers gehören nicht zum Patriziat der Stadt, doch gewiss zu den ehrbaren Familien. Hieronymus besucht drei Schulen, darunter auch jene des hochangesehenen Schreib- und Rechenkünstlers Johannes Neudörfer (1497-1563). 1524, im Alter von siebzehn Jahren tritt er seine erste Anstellung als Diener im Haushalt eines Juristen an. Sein Arbeitergeber Frieß ist Schöffe am kaiserlichen Kammergericht. Just in dieser Zeit werden die reformatorischen Gedanken Luthers in dieser Stadt publik gemacht, u.a. durch den Ratsschreiber Lazarus Spengler (1479-1534) und den Dichter Hans Sachs (1494-1576). Der städtische Rat besetzt bedeutende Pfarrämter (St. Sebald, St. Lorenz, Heilig-Geist-Spital) mit Theologen, die Luther nahestehen und führt 1525 die Reformation ein,

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Amburger (1931) wurde zu dieser Arbeit angeregt von dem Germanisten Robert Priebsch (1866-1935), der an der University of London lehrte und u.a. Spezialist für mittelhochdeutsche Handschriften war. Hannah Stephanie Margaretha Amburger (1904-1971) wurde mit dieser Studie 1928 von Priebsch promoviert und lehrte später an der Bangor University in Wales. Sie starb 1971 im gleichen Jahr wie ihr Ehemann Raymond Stuart Parker (1898-1971, siehe hierzu http://ofb.genealogy.net/famreport.php?ofb=NLF&lang=de&modus=&ID=I186747&nachname=AMBURG ER; [03.08.2017]).

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als erste Reichsstadt überhaupt.14 Der junge Hieronymus Köler schließt sich, durchaus begeistert, dem lutherischen Bekenntnis an. 1526 nimmt er an einer Handelsexpedition nach Italien teil und lernt Italienisch. Allerdings wird er nicht in einem Handelskontor tätig, wie man erwarten könnte, sondern dient als Stallmeister bei drei verschiedenen Herren. Nach seiner Rückkehr nach Nürnberg arbeitet er als Ladengehilfe, muss diese Stelle jedoch aufgeben als sein Herr die Stadt verlässt. Er bewirbt sich als Feldschreiber für den Türkenfeldzug Ferdinands I., allerdings erfolglos.15 In den kommenden Jahren ist er als Schreiber in Forchheim und Nürnberg tätig. 1531 wird er in die Bergbaustadt Schönbach/Eger geschickt16 und nutzt diese Reise, um anschließend in Wittenberg Martin Luther und Philipp Melanchthon zu sehen und predigen zu hören. Der Vierundzwanzigjährige ist beeindruckt und fertigt Aufzeichnungen der Predigten und Lehrgespräche an.17 Gerne wäre er noch länger dort geblieben, bey 14

Im Falle Nürnbergs erfolgt die Einführung der Reformation unstrittig als topdown-Vorgang. Die politische und intellektuelle Elite der Stadt ist hierbei die treibende Kraft. Als sich aus dem Milieu der Armen und Bettler Widerstand formiert und dort die radikalen Ideen Karlstadts und Müntzers Anhänger finden, weist der Rat die Störenfriede umgehend aus der Stadt. Zwei Rädelsführer werden hingerichtet (Seebaß 1979: 109). Zur Einführung der Reformation als ein nicht nur reichsstädtisches, sondern in erster Linie städtisches Phänomen siehe Reinhardt (2017). 15 1526 in der Schlacht bei Mohács hatten die Osmanen unter Süleyman I. die Ungarn vernichtend geschlagen und deren König Ludwig II. getötet. Der Habsburger Ferdinand I., der sich als legitimer Nachfolger betrachtete, führte 15271529 den sog. Krönungsfeldzug, um seinen Anspruch auf die Herrscherkrone über Böhmen und Ungarn gegen Johann Zápolya durchzusetzen. Die Türkenfeldzüge mit wechselndem Schlachtenerfolg kosteten zwischen 1527 und 1532 geschätzte 200.000 Menschenleben (Buchmann 1999: 96). 16 Schönbach, heute Luby, liegt im böhmischen Teil des Vogtlands, heute Tschechien. Im 16. Jahrhundert ist der Ort europaweit die bedeutendste Lagerstätte für Quecksilbererze, speziell für den begehrten Farbstoff Zinnober. Köler ist offenbar auf Kosten des Stadtrats nach Schönbach geschickt worden, erklärt aber nicht seinen Auftrag (Amburger 1931: 174). 17 Köler erwähnt ausdrücklich: Und waß ich für gantzs gute leer, lection und predig von inen gehört, deren etliche hab ich aufgezaichnet, die sein in einem gelben pergamenem buch eingeheft und verzaichnet zu finden (Amburger 1931: 221). Diese Aufzeichnungen sind nicht erhalten.

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gelerten leuten zu Wittemberg, umb mer zu sehen und lernen, doch es fehlen ihm die nötigen Lateinkenntnisse und das Geld (Amburger 1931: 224-225). Üblich wäre es für einen Mann seines Alters, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Köler hat jedoch anderes im Sinn. In dieser Zeit der blüenden jugend … begaben sich allerley bedenken und gewerb, auch hairat halber umb mich. Aber indem erhueb sich vil boeßes geschrays des erbfeindes, daß Türckenkriegs, und alhie kunftiges sterbensleuft, gedacht ich, das mein zeit zu hayraten noch nit wer, sondern vil mer zu wandern, herrn zu dienen, mer zu erfaren, sehen und lernen (Amburger 1931: 225). Wissbegierde und Reiselust sind die treibenden Kräfte hinter Kölers Entscheidung gegen die Sesshaftigkeit.18 1533, nach einigen Monaten in Frankfurt am Main, die er als ›Zaunmacher‹ zubringt, reist er über Köln nach Antwerpen und wird dort für den Nürnberger Kaufmann Hans Paur tätig. Köler erkrankt schwer an vierteglich fiber, das ich lenger denn ein gantzes jar hett, wurde ich gantzs tödtlichen krank. Da mir aber unser herrgott half, begab ich mich hernach in seer gefehrliche reyße, aber Gott der almechtig half mir abermals in allem gnediglichen auß (Amburger 1931: 225).19 Kölers Weiterreise von Antwerpen nach Lissabon ist wiederum durch deutsche Kaufmannsnetzwerke befördert. Die Schiffsverbindung Antwerpen-Lissabon ist zudem eine der wichtigsten Verkehrs- und Handelsachsen dieser Zeit (van der Vee 1990: 28). Hans Paur vermittelt ihn an seinen Agenten Eberhard Eberdeis, den Köler auf Geschäftsreisen begleitet. Die zwischenzeitlich erfolgenden Angebote, als Diamantschneider in Villafranca zu arbeiten oder als Büchsenmeister in der spanischen Armee, lehnt

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Neugierde auf die Neue Welt ist auch bei dem Zeitgenossen Philipp von Hutten (1505-1546) ein Motiv seiner Venezuela-Reise. In einem Brief an seinen Vater (vom 31.03.1539) schreibt er: »Weiß Gott kein Geitz Gelds hat mich bewegt, diese Reiß zu thun dann allein ein sonderlicher Lust, so ich vor langer Zeit gehabt, dünckt mich auch, wäre nicht mit Ruhe gestorben, wo ich Indien nicht erst gesehen« (Briefzitat aus Schmitt und von Hutten 1996: 126). Zum Zusammenhang von Neugierde und Welterfahrung in der Frühen Neuzeit siehe Krüger (2002). 19 Mit dem genannten Viertagefieber ist vermutlich Malaria quartana, eine Krankheitsvariante neben Malaria tertiana und Malaria tropica, gemeint. Malaria, das sog. Sumpf- oder Wechselfieber, war bis ins 19. Jh. in den Feuchtgebieten Europas, auch nördlich der Alpen und an der Nordsee verbreitet (Reith 2011: 23).

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er ab.20 Stattdessen wird er von Eberdeis an den einflussreichen Kaufmann Lazarus Nürnberger (1499-1564) in Sevilla weitervermittelt. Nürnberger hat 1517 selbst an einer Handelsreise nach Ostindien teilgenommen und verfügt über beste Kontakte. Er handelt mit Gewürzen und Zucker, importiert Perlen und Edelsteine aus Amerika und exportiert Bücher, Textilien und Metallwaren nach Amerika, ist im Sklavengeschäft aktiv und vertritt Interessen oberdeutscher Handelshäuser, die in Silberbergwerke in Mexiko und Peru investieren und auf Kuba Kupferminen betreiben.21 Im Frühsommer 1534 kommt Köler nach Sevilla und bleibt in Nürnbergers Haushalt vier bis fünf Monate (Otte 1963/1964: 145). Nürnberger nimmt ihn überaus gastfreundlich auf, gleich seinem eigenen Sohn, wie Köler vermerkt. Zunächst rät er ihm, sich einer Flotte ›nach der Magellanstraße‹ anzuschließen.22 Allerdings zieht sich die Planung, und da zwischenzeitlich die Augsburger Welser eine Expedition nach Venezuela vorbereiten, redet ihm Nürnberger zu, sich dort anwerben zu lassen. Der eben ernannte Gouverneur von Venezuela Jörg Hohermuth braucht neue Leute. Gelockt wird Köler mit üppiger Entlohnung und dem Versprechen, ihm das Richteramt in ›Indien‹ zu übertragen. Stürme auf hoher See verhindern mehrfach die Atlantiküberquerung und Köler nimmt von der Idee Abstand, sein Glück in der Neuen Welt zu suchen. Im Dezember 1534 ist er in Antwerpen und reist über Köln und Frankfurt zurück in seine Heimatstadt, die er Anfang 1536 wieder betritt. In Nürnberg und seiner näheren Umgebung bleibt er sesshaft bis zu seinem Tode im Jahr 1573. Unmittelbar nach seiner Rückkehr am 14. Februar 1536 heiratet er Barbara Münsterer, Schwester des in Wittenberg lehrenden Rechtsgelehrten 20

Beide Berufe setzen besondere Kenntnisse voraus. Zudem umfasste die Berufsgruppe der Büchsenmeister ihrerseits Spezialisierungen, wie Stückgießer, Büchsenmacher, Büchsenschäfter, Pulvermacher (vgl. Leng 1996: 302-321). Offenbar verfügte Hieronymus Köler über ausreichend handwerkliches Geschick, welches diese Angebote verständlich macht. 21 Zu den wirtschaftlichen Aktivitäten von Lazarus Nürnberger in Lissabon und Sevilla sowie zu seiner Bedeutung für den Amerikahandel siehe ausführlich Otte (1963/1964). 22 … wollt er mich per armada nach dem Stretzo Mauillian schicken (das ist von Seuillia bey 3000 meylen) (Amburger 1931: 232). Es muss sich wohl um die Flotte des Pedro de Mendoza gehandelt haben, die jedoch erst im August 1535 lossegelte (Otte 1963/1964: 145).

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Dr. Sebaldus Münsterer (1495-1539), und verschwägert sich dadurch mit Philipp Melanchthon, was ihn mit Stolz erfüllt.23 In Nürnberg übernimmt er amtliche Tätigkeiten und wird Genannter des Großen Rats.24 Als ihn der Stadtrat zum Schatzmeister für einen Türkenfeldzug nach Österreich schicken will, ohne mein begerd und wissen, wie er anmerkt, rät ihm seine Frau dringend von dieser Unternehmung ab und Köler fügt sich: Also hab ich im namen Gotzs geschehen müssen lassen (Amburger 1931: 250).25 Offenbar kann Köler in der folgenden Zeit an seine erste Anstellung im Haushalt des Juristen Frieß anknüpfen und sicherlich nützen ihm seine früheren Erfahrungen als Schreiber, denn er arbeitet fortan in Verwaltung und Rechtsprechung als Schöffe26 am Nürnberger Bauerngericht, am 23

Münsterers zweite Schwester Katharina ist mit Melanchthon verehelicht. Sebaldus Münsterer ist gebürtiger Nürnberger, der ab 1515 in Leipzig studierte, 1527 in Wittenberg promovierte und dort weltliches Recht lehrte. Köler hatte bei seinem Wittenbergbesuch im Oktober 1531 den Kontakt zu Münsterer und dessen Schwester hergestellt. Köler verfertigt 1564 für Münsterer rückblickend ein Familienbuch und schreibt über ihn als besonder Freunthlicher lieber Schwäger und Der erwirdig und hochgelert doctor Sebaldus Munsterer … mein, Jheronimus Cöler, lieber herr schwager seliger gewesen ist (Amburger 1931: 198, 224, 273). 24 Der Große Rat der Stadt bestand zwischen 300 und 500 ehrbaren Bürgern, die jedoch nur selten tagten. Der Große Rat hatte Gerichtsfunktion und die wichtigste Aufgabe bestand in der jährlichen Wahl des Rats. Der ›Kleinere Rat‹ rekrutierte sich aus vierunddreißig Patrizier-Ratsherren und acht Vertretern des Handwerks. Noch einflussreicher war der ›Innere Geheime Rat‹, ein Gremium, bestehend aus sieben Ratsherren, das im Stadtstaat die Geschäfte erledigte (vgl. Fleischmann 2008). 25 Köler betont einerseits, dass er sich für den Feldzug nicht selbst gemeldet hat, bemerkt andererseits, dass er doch gantzs willig und gern gezogen wer, zumal diese Berufung doch ehrenhaft sei. Allerdings habe die freuntschaft meiner hausfrauen das nit zugeben oder bewilligen … wöllen, und so sah er sich genötigt seine Schwager Jörg Geuder und Hans Münsterer zu bitten, für ihn beim Rat vorzusprechen und diesen umzustimmen. 26 Das Stadtrecht Nürnbergs war nicht kodifiziert, sondern wurde mündlich, d.h. von Schöffe zu Schöffe, tradiert und basierte auf Urkunden (betreffs Schulden, testamentarischer Verfügungen, Inventuren, Immobilien, Eheverträgen u.a.m.), die in Gerichtsbüchern gesammelt wurden. Ein Schöffe benötigte, anders als ein Richter des kodifizierten bzw. römischen Rechts, kein Universitätsstudium. Durch die Gründung der Universität Altdorf Ende des 16. Jahrhunderts gewann mittels

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Stadtgericht und am Forstgericht über den Lorenzer Wald, als Buchhalter und Aufseher städtischer Baustellen, als Pfleger im nahegelegenen Engelthal, als Richter in Wöhrd, als Amtmann auf der Nürnberger Veste, schließlich sogar als Stadtrichter der Reichsstadt, wiewohl er sich widersetzt, Hinrichtungen vollstrecken zu lassen (Amburger 1931: 179). Ohne Frage ist Köler ein wohl geachteter Bürger Nürnbergs, wie sein beruflicher Aufstieg bis zum Stadtrichter verdeutlicht. Freiwillig übernimmt er Aufgaben als Vormund und Testamentsvollstrecker. Bei fünfzehn Taufen wirkt er als Pate und ist sicherlich darüber hinaus bestens vernetzt. Seine Aktivitäten als Stifter zeigen ihn zudem als jemand, der die Ehrbarkeit seiner Familie in das Stadtgedächtnis einzuschreiben weiß.27 Das private Glück wird allerdings immer aufs Neue getrübt durch die Todesfälle seiner Ehefrauen Barbara Münsterer (gest. 1539), Birgitta Groland (gest. 1552), Charitas Nützel (gest. 1560) und Ursula Müllner (gest. 1565). Seine fünfte Ehefrau Ursula Derrer, die er 1565 heiratet, überlebt ihn um acht Jahre. Als Köler, 66-jährig, am 31. Januar 1573 stirbt, leben noch acht seiner siebzehn Kinder. … wir menschen alhie in diesem jammertalen anderst nit sind dann als die pilgram … Die Aufzeichnungen des Hieronymus Köler Aus der Hand des Hieronymus Köler haben sich Aufzeichnungen erhalten, die sich in Nürnberg (Germanisches Nationalmuseum) und London (British Museum/British Library) befinden.28 Neben autobiographischen Niederschriften zu seinen Reisen und beruflichen Tätigkeiten handelt es sich gelehrter Gutachten das römisch-kanonische Recht an Einfluss, ohne jedoch das Ortsrecht der Reichsstadt abzulösen (vgl. Schultheiß 1972). 27 Die im zweiten Markgrafenkrieg zerstörte Stadtkirche zu Wöhrd wurde auf sein Betreiben wieder aufgebaut. Für die Kirche St. Bartholomäus stiftete Köler 1557 ein Glasfenster mit seinem Wappen und jenen seiner drei (bis dahin) verstorbenen Frauen. 28 Im Germanischen Nationalmuseum finden sich Köler-Archivalien unter den Signaturen 2908 (Ein allt Geschicht- und Wappenbuch) und 2910 (Familienbuch der Nürnberger Köler). In der British Library findet sich die illustrierte Version des Köler‘schen Familienbuchs unter Addendum 15217.

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um amtliche Verzeichnisse, Rechnungen, Briefe, Geburts- bzw. Tauflisten, heraldische Erörterungen, Abschriften aus Chroniken, Kalenderaufzeichnungen der Eltern und ein Reiseitinerar.29 Die Aufzeichnungen werden von seinem Sohn Hieronymus dem Jüngeren (1542-1613) fortgeführt. Köler verbindet mit seinen dokumentierenden und archivierenden Bemühungen die Absicht, ein Familienbuch zu erstellen. Diese Idee verfolgt er auf mehr oder weniger systematische Weise und beginnt damit gleich nach seiner Rückkehr von der iberischen Halbinsel. Die älteste erhaltene Handschrift trägt die Jahreszahl 1537 auf dem Titelblatt (Amburger 1931: 181). Seine früheste Erinnerung, die er zu Papier bringt, rührt aus dem Jahr 1511. Der kleine Hieronymus ist vom Nürnberger Fastnachtsumzug, dem Schembartlauf, beeindruckt: Ao 1511 wassen drey linthwurm, die gedenk ich, als ich 4 jar alt was (Amburger 1931: 173).30 Inhaltliche Schwerpunkte der Biographie Kölers lassen sich an zwei Lebensabschnitten festmachen: den bewegten Lehr- und Wanderjahren, die ihn bis nach Südspanien führen (1507-1536), und den sesshaften Jahren in Nürnberg und näherer Umgebung (1537-1566). Der erste Teil folgt stilistisch weitgehend dem Muster des Reiseitinerars, das auf die Gattung des Pilgerberichts zurückzuführen ist.31 Gewählt werden die Ich-Form und die 29

Bei dem Reiseitinerar handelt es sich um Benedikt Kölers Beschreibungen seiner Italien- und Palästinareise, die dem Manuskript Add. 15217 beigefügt sind. Benedikt Köler (1585-1632) ist der einzige Sohn von Hieronymus dem Jüngeren. Der Maler und Schreibkünstler Benedikt, der letzte Köler, dessen Aufzeichnungen sich im Familienbuch finden, unternahm seine Pilgerreise im Jahr 1613. Eine detaillierte Auflistung des Köler-Nachlasses in Nürnberg und London findet sich bei Amburger (1931: 192-203, zu Benedikt Köler siehe S. 191). 30 Der Nürnberger Schembartlauf wurde alljährlich zur Fastnachtszeit abgehalten. Der Umzug war von fantasievoll bekleideten Maskenträgern und einem Wagen geprägt, auf dem jährlich wechselnde Motive gezeigt wurden. Dokumentiert sind die Umzüge in aufwendig gestalteten Schembartbüchern. Der älteste Umzug ist für das Jahr 1449 belegt, der letzte für das Jahr 1539. Da man sich in diesem Jahr über den weithin bekannten protestantischen Prediger Osiander lustig machte, hatte der Rat der Stadt humorlos alle zukünftigen Umzüge verboten (vgl. Roller 1965). 31 Günther Wolf untersucht deutschsprachige Pilgerberichte zwischen 1320 und 1500 und unterscheidet drei Typen des Pilgerberichts: den unpersönlichen Pilgerführer, das Itinerar, den literarischen Reisebericht. Kölers Reisebeschreibungen

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Betonung des Selbsterlebten, des ›mit den eigenen Augen‹ Gesehenen. Aufgelistet finden sich genaue Angaben zurückgelegter Wegstrecken, Reiseausrüstung, geschäftliche Verhandlungen und Beziehungen zu Personen vor Ort. Das Verknüpfungspartikel ›item‹ leitet sehr häufig inhaltlich zusammenhängende Abschnitte ein. Im zweiten Teil dominieren hingegen das Berufliche, die ausgeübten Ämter und die sozialen Netzwerke in der Stadt, sowie chronikalisch die Familiengeschichte, Todesfälle, Geburten, neue Eheschließungen, Beziehungen zur angeheirateten Verwandtschaft. 1560, im Alter von 53 Jahren, beschließt er, eine Reinschrift anzufertigen, gewissermaßen das Prachtexemplar des Familienbuchs vorzulegen. Als Vorbild dient ihm das Geschlechterbuch des Patriziers Konrad IV. Haller von Hallerstein, das mit beeindruckenden vergoldeten und versilberten Wappen illustriert ist. Darin findet sich auch ein Abschnitt über die KölerFamilie nebst Wappen.32 Bemerkenswert ist der Umstand, dass die Handschrift nicht von Hieronymus Köler selbst stammt. Hannah Amburger vermutet, dass sein Sohn Hieronymus (der Jüngere) mit der Schreibarbeit beauftragt wird (Amburger 1931: 183). Wer Autor ist, daran wird allerdings kein Zweifel gelassen: Ich Jheronimus Köler genant, bürger, in Nürnberg geborn, hab dis buch aus alten briefen und büchern zesamen gelessen und getragen (Amburger 1931: 252). Bemerkenswert sind zudem die zahlreichen kolorierten Zeichnungen, die von Hieronymus Köler d. Ä. verfertigt sind, jeweils überschrieben mit dem Vermerk, aus der Erinnerung, per memoriam. Oberflächlich betrachtet könnte man das, was Köler für erinnerungswürdig befindet, für ein Sammelsurium halten. Regelmäßige Beschreibungen

lassen sich weitgehend mit den Konventionen des Itinerars verbinden. In jedem Fall trifft auch für Köler zu, obgleich kein Pilger im engeren Sinne, was Wolf als charakteristisch für schreibende Pilger bemerkt: »Die Itinerare der adligen und bürgerlichen Pilger erfüllen die Funktion, die fromme Tat zu dokumentieren und die eigenen Nachkommen zur Nachahmung anzuregen« (Wolf 1989: 106). 32 Das Geschlechterbuch des Konrad Haller von Hallerstein wurde 1533-1536 verfasst und ist dem Rat der Stadt gewidmet. Es bietet eine Genealogie der einflussreichen Nürnberger Geschlechter und hatte damit eine sozial- und stadtpolitische Bedeutung. Angehörige des Rates ebenso wie die Genannten konnten es einsehen. Es hat sich im Staatsarchiv Nürnberg erhalten (HS 211, vgl. Heinrich 1877). Der Abschnitt über die Köler-Familie findet sich auch als Abschrift unter den KölerArchivalien im Germanischen Nationalmuseum unter Sig. 2908, 31ff. (Amburger 1931: 205).

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seiner Bekleidung, die personelle Zusammensetzung des kaiserlichen Kammergerichts, Gästelisten von Familienfeiern, detaillierte Wegstreckenangaben von kleineren und größeren Reisen, Landschaftseindrücke, Münztabellen, die Erläuterung der Ursachen von Schnee- und Gerölllawinen, die Speisekarte der Hochzeitsfeier seiner Schwägerin, kalendarische Aufzeichnungen von Taufen, Geburts- und Todesfällen, Schilderung von Prozessionen und Stadtfesten, der Verlauf der Anmusterung durch die Welser, detaillierter Aufbau und Abfolge von Exerzierparaden. Das scheinbar Kuriose wird gewürdigt, weil es einer Grundhaltung entspringt, der Neugierde auf die Welt. Zudem ist der Spiegel, den der schreibende Köler von sich und seiner Welt liefert, der Spiegel sozialer Beziehungen und hierarchischer Ordnungen. Selbst-Wahrnehmung und ihre textuelle Darstellung sind historisch gebunden. Das Ich des Verfassers, seine Selbstcharakterisierung, tritt analog zu einem gemalten (Selbst-)Porträt zwangsläufig ›stilisiert‹ in Erscheinung. Es spiegelt »die historische Mentalität des jeweiligen Verfassers wider und ermöglicht im besten Fall Einblicke in seine individuelle Gedanken- und Gefühlswelt« (Rutz 2002). Unbestritten ist das, was Köler seinen Nachkommen zum Andenken festhielt, kulturhistorisch aufschlussreich. Die häufigen Schilderungen seiner Kleidung etwa dienen der Textil- und Kostümforschung als wichtige Quelle,33 die detaillierte Beschreibung eines Festumzugs in Bergen op Zoom bietet Erkenntnisse für die Theater- und Brauchtumsforschung,34

33

Kölers Aufzeichnungen werden kostümgeschichtlich ausgewertet, u.a. von Zander-Seidel (1990), Burde (2005). 34 Köler beobachtet am 4. Mai 1533, dem Sonntag nach dem Gedenken an die Kreuzauffindung durch Kaiserin Helena, eine Festprozession in Bergen op Zoom, an der zahlreiche Schiffswagen mit geistlichen Szenen teilnehmen. Hans Rupprich erkennt im Motivprogramm den Kontext der Kreuzauffindungslegende und charakterisiert das Geschehen als geistliches Straßenschauspiel (vgl. Rupprich 1955). Die Beschreibung der Festprozession findet sich bei Amburger auf S. 226-228. Amburger schreibt fälschlicherweise von einem Fastnachtsumzug (1931: 189).

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seine fünf Ehen und siebzehn Kinder werfen Licht auf Familienleben, Vaterrolle, Erziehungsideale.35 Grundsätzlich lassen sich Kölers Aufzeichnungen als wertvolle Quelle für die Autobiographie-Forschung nutzen,36 für Form und Funktion des Familienbuchs heranziehen,37 ebenso wie für die Topik-Forschung zu frühneuzeitlichen Reiseberichten.38 Kölers Vorhaben, seine Erinnerungen in einem Familienbuch abzubilden und für die Nachfahren zu erhalten, ist nicht ungewöhnlich.39 Stadtbekannte, einflussreiche Familien wirken hierbei stilbildend. Dokumentiert werden damit die historische Kontinuität einer Familie und ihre soziale Vernetzung. Familienbücher sind in erster Linie »Medien der Statuslegitimation« oligarchischer Eliten (Rohmann 2004: 73), ebenso »kommunikatives wie materielles Substrat sozialer Beziehungen« (Rohmann 2007: 120).40 Dieserart Statuslegitimation, so zeigt Gregor Rohmann, erfolgt in »Wechselwirkung von Tugendhaftigkeit, familiengeschichtlicher Erinnerung und gesellschaftlichem Status« (Rohmann 2004: 73).

35

Unter diesem Gesichtspunkt wird Kölers Nachlass von Völker-Rasor (1993) ausgewertet. 36 Unter diesem Aspekt befasste sich Amburger (1931) mit der Edierung und Kommentierung der Köler-Archivalien (vgl. auch Schmid 2006: 62). 37 Dies tut Rohmann »mit seer grosser muhe vnd schreiben an ferre Ort« (2007, 2004). 38 Wolfgang Neuber (1991: 151-153, 200, 343, 357) hat in seiner umfangreichen Studie zur Topik der deutschen Amerika-Reiseberichte auch Kölers Autobiographie herangezogen. 39 Frühneuzeitliche Familienbücher stellen eine durchaus zeittypische Gattung dar und haben sich vielfach erhalten. Velten nennt zahlreiche Beispiele aus Nürnberg und Augsburg des 16. Jahrhunderts (1995: 36, 48-52). An den Anfängen des Familienbuchs stand die Methode kaufmännischer Buchführung. Wer über die Bewegungen des Kontostandes täglich Rechenschaft ablegt, für den liegt es nahe, auch Rechenschaft über sein eigenes Tun und Denken abzulegen. Die frühesten Belege stammen aus Italien des 14. Jahrhunderts (siehe hierzu Neuber 2011). 40 Rohmann charakterisiert die soziale Funktion von Familienbüchern folgendermaßen: »Sie speichern Vernetzungswissen, vernetzen die Produktion und Rezeption dieses Wissens und sind selbst Gegenstand des Austauschs. Sie tragen so dreifach zur Konstitution sozialer Netzwerke bei. Familiengeschichte ist im 16. Jahrhundert nicht Kurzweil genealogischer Dilettanten, auch nicht bloß ein ›weicher‹ Faktor der verwandtschaftlichen Identitätsstiftung, sondern Medium, Motor, ja: Substanz der sozialen Wirklichkeit« (2007: 120).

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Im Ideal der Tugendhaftigkeit verbindet sich der diesseitige mit dem jenseitigen Horizont. Tugendhaftigkeit ist gottgefälliges Verhalten, das Segen für das irdische Dasein hervorbringt. Das Wissen um das tugendhafte Handeln der Vorfahren soll den Nachkommen als Richtschnur dienen. In dem Entwurf einer Vorrede zu seinem Wappenbuch formuliert Köler dementsprechend: Hiemit ermane und bit ich meine nachkomende kindlein und leibserben meines stamen und namens der Cöler, sy wollen unsern Herrgott vor augen haben, den vorchten … und hüeten sich vor leichtfertigen bösen leuten, haben acht auf gute geschlecht, erbarkeit und tugend, bitten Gott, heyraten auch darnach, so wirt inen Gott der herr, unser heyland, gnedigklichen, wie auch mir, und etwan merers oder höhers aus allen widerwertigkeiten leibs und der seelen heraus helfen und sy entlich wol erhalten (Amburger 1931: 256257, Rohmann 2004: 73). Tugend ist hier vor allem auch der Umgang und die Verbindung mit ehrbaren und tugendhaften anderen Familien. Dabei ist Tugend allerdings »nicht etwa eine ethische Kategorie, sondern eine gesellschaftliche Qualität, die den Familien der Oligarchie per se innewohnt. Teilhabe an der durch ihre Ehrbarkeit konstituierten Oligarchie ist unmittelbar tugendhaft und gottgefällig« (Rohmann 2004:73). Neben der diesseitigen gesellschaftlichen Dimension von Tugend steht gleichwertig die religiöse, genauer die christlich protestantische. Das irdische Dasein als Jammertal und der Lebensweg als eine Pilgerreise, die mit dem ewigen Leben belohnt werden möge, sind hier einschlägige Leitmotive, die Köler seinen Nachkommen mitgeben möchte. Und das wir menschen alhie in diesem jammertalen anderst nit sind dann als die pilgram, immerdar von einem tuen und lassen und von einem ort zum anderen umbweberen, bis wir endlichen dahin kommen, da wir im himlischen leben ein immerwerende und bleibende statt haben, dessen zur gedechtnus will ich allen meinen nachkommenden zum furbild, etlicher meiner gestalt, kleidung und verwandlung, auch zum tayl dienst und rays meiner jugend anzeigen, der hofnung, daraus gedult, erbarkeit und gutter sitten sich zu bevleißigen und dester bess er gotsvorcht zu lernen (Amburger 1931: 214). Das Ortt und Innsell, darnach wir uns rüsten heist Vinizolla … Hieronymus Kölers Venezuela-Abenteuer Einen besonderen Stellenwert in Kölers Aufzeichnungen nehmen die Schilderungen seiner geplanten Venezuela-Fahrt ein. Dies gilt einerseits für 325

den Historiker, der an der europäischen Lateinamerika-Kolonisation interessiert ist. Dies gilt andererseits für Köler selbst, der aus dieser Erfahrung rückblickend ein Lehrbeispiel für tugendhaftes Verhalten macht. Die Schreibhand wird geführt von seiner protestantischen Grundüberzeugung. Den realgeschichtlichen Hintergrund des Abenteuers stellt die aufsehenerregende Eroberung des Inkareiches 1532-1533 durch Francisco Pizarro dar. Hernando Pizarro, Halbbruder des Francisco, kehrt am 9. Januar 1534 zurück nach Sevilla, um am 20. Januar die Nachricht von diesem sensationellen Ereignis seinem König Karl V. zu übermitteln. Das mitgebrachte Gold und Silber bringen König und Hofstaat zum Staunen. Von Sevilla aus, dem Nachrichtenzentrum des iberischen Reiches, verbreitet sich die Kunde davon in alle vier Himmelsrichtungen. Ganz offensichtlich sind die Männer Pizarros allesamt zu märchenhaftem Reichtum gelangt. Begehrlichkeiten werden geweckt, in der Neuen Welt scheint das Gold auf der Straße zu liegen. Der Mythos vom Goldreich, Eldorado, ist bald in aller Munde.41 Sehr wahrscheinlich ist es der sichtbare Erfolg Pizarros, der das Augsburger Handelshaus der Welser dazu veranlasst, 1534 eine Armada auszurüsten. Bereits seit 1528 ist den Welsern durch eine Kronverfügung, Asiento, die Provinz Coro bzw. Venezuela zur Statthalterschaft übertragen worden, inklusive attraktiver Nutzungsrechte (Monopol der Goldschmelze, Steuerfreiheit, Recht auf die Besetzung hoher Ämter).42 Im Gegenzug verpflichten sich die Welser, dreihundert Kolonisten anzusiedeln, »fünfzig in Deutschland geborene deutsche Bergmeister« zu beschäftigen (Schütz 1988: 43), drei Festungen zu erbauen, eine stabile Verwaltung zu errichten und Missionsarbeit sicherzustellen.43 Letztlich erfüllen sich die 41

Die Sage von Eldorado berichtet von einem Inka-Würdenträger, dem ›vergoldeten Kaziken‹, der, von Goldstaub bedeckt, einmal jährlich in einem See Gold und Smaragde opfert, und taucht erstmals 1535 in Quito auf. Seine realen Ursprünge lassen sich auf Rituale der Muisca-Kultur im kolumbianischen Hochland zurückführen. Neben dem Eldorado-Mythos im engeren Sinne setzte sich die Phantasmagorie eines Goldreichs im weiteren Sinne ab Mitte der 1530er Jahre durch. Das von Pizarro erbeutete Gold wirkte als Initialzündung (zum EldoradoMythos vgl. Schmitt 1987: 30-33, dort weitere Literaturhinweise). 42 Der Vertrag in deutscher Übersetzung in Schütz 1988: 37-47. 43 Die Privilegierung des Augsburger Handelshauses ist als Kompensationsleistung für deren Verdienste um die spanischen Krone zu verstehen. Die Welser (und

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Erwartungen der angeworbenen Kolonisten nicht, denn die Gouverneure und Feldhauptleute verfolgen ausschließlich zwei Aktivitäten: Menschenraub zum Zwecke des Sklavenhandels sowie Beutezüge ins Landesinnere.44 Ab 1540 werden die Welser nicht mehr gebraucht. Mit der Ermordung Philipp von Huttens 1546 ist das Kolonialunternehmen des oberdeutschen Handelshauses beendet.45 Die näheren Hintergründe und Folgen des Welser Engagements in Südamerika, das von mehreren deutschen Augenzeugen dokumentiert ist, können hier nicht erläutert werden.46 Wichtig ist der Umstand, dass Hieronymus Köler sich just zu einem Zeitpunkt in Sevilla aufhält, als das oberdeutsche Handelsunternehmen in Erwartung riesiger Gewinne um Teilnehmer für ein Kolonialunternehmen wirbt. Geplant ist die Rekrutierung von 1200 Mann in drei Abteilungen unter der Führung des Philipp von Hutten, Georg Hohermuth von Speyer und Nicolaus Federmann. Die Truppen werden in dem Hafenort Sanlúcar de Barrameda zusammengestellt. Dort finden Aufmärsche und Waffenübungen statt. Der bestens vernetzte Lazarus Nürnberger macht seinem jungen Gast die Unternehmung schmackhaft und Köler meldet sich. Fruchtbare, silberreiche und goldreiche Inseln locken, aber auch die Bedingungen, sich dem Fugger) traten als Kapitalgeber im Zuge der Kaiserwahl im Jahr 1519 auf. Sie fungierten somit als ›Kaisermacher‹ und der erwählte Kaiser des Heiligen römischen Reiches Karl V. verschuldete sich nachhaltig. Zur Welserunternehmung in Venezuela (siehe Haebler 1903, Walter 1986, Häberlein und Burkhardt 2002). Den neuesten Forschungsstand, unter Erschließung spanischer Primärquellen, bietet Denzer (2005). 44 Nachweisbar sind 1005 Indianer-Sklaven, die von den Welsern zwischen 15291538 außerhalb Venezuelas verkauft wurden. Die Lizenz zur Einfuhr von 4.000 afrikanischen Sklaven war durch eine Zahlung von 20.000 Dukaten erworben worden (vgl. Denzer 2002: 304). 45 Warum sich ein ›Multi-Branchen-Konzern‹ wie das Welser Handelshaus, das über ein bestens funktionierendes Handelsnetz verfügt, nur auf die eine wirtschaftliche Strategie, der Ausbeutung der Indianerkultur festlegt, wiewohl sich in Venezuela durchaus auch andere wirtschaftlichen Möglichkeiten anbieten, ist eine diskutierte Forschungsfrage (vgl. Denzer 2005: 18-19). 46 Verfasst wurden Berichte von Nikolaus Federmann (1506-1542), Titus Neukomm (ab 1534 Faktor der Welser in Venezuela) und Philipp von Hutten (15051546). Siehe hierzu Knefelkamp (1993) bzw. Schmitt und von Hutten (1996).

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Unternehmen anzuschließen, sind verlockend. Die ehrbaren Herren Bartholomäus und Anton Welser, so schreibt Köler, verhießen mir doppelsold und darneben gute partiden (sam sollt ich noch mittlerzeit ir richter in irem Indien werden) … Zu dem sagt mir segnor Jörg Koch sonderlich zu, ich bedörft mich weder zu inen versprechen noch verpflichten, solt inen allein dise rais dienen. Also kam ich zu inen (Amburger 1931: 232).47 Die Aussicht auf ein Richteramt, doppelten Sold und die Zusage des Welser-Bediensteten Jörg Koch, dass es nur um eine Reise ginge und keine weiteren Verpflichtungen einzugehen wären, sind attraktiv. In der Registrierbehörde sind Bürgschaften von Vertrauenspersonen gefordert, die seine Eltern kennen, und beschwören, dass diese gutt leuth und Cristen seien. Köler findet in Lazarus Nürnberger und anderen Deutschen honorige Bürgen.48 Nachdem festgestellt ist, dass die Bewerber als Untertanen der Kirche des Kaisers geboren sind, erfolgt die Vereidigung. Sechshundert Ausreisewillige versammeln sich in einem Barfüßerkloster und leisten dem Gouverneur einen Eid, im zu helffen streitten wider die Indianer, umb eher und gut zu erlangen, auch die Indianner mitt dem schwert zu erobern und [zu] Cristen zu machen und dem gobernattor, auch kayserlicher Majestät bevellich unterthenig zu machen (Amburger 1931: 238). Der Missionsauftrag ist wesentlicher Teil der Unternehmung, wie Köler des Öfteren hervorhebt. Die angedachte Bekehrungsstrategie wird bei der Beschreibung einer Parade von Klerikern erläutert. Item es waren verordnet etliche sorten priester und ordensleut gegen den Vinizölern und Indianern, dergestalt, da wir ins land kemen, in dreytayl zu tailen, aufs freundlichst und lindest uns gegen inen zu erzaigen, nemblich mit scheinparlichen dingen, als die priester in iren chorröcken mit fenlein und etlich in meßgewanten, kertzen, liechtern, marstrantzen, vergulten pildern und tafeln in iren henden, dergleichen die Predigermünich mit puechern, paternostern, die Barfußer aber mit kellichen und dergleichen, darmit vermainend, das arm nackent volk zu bekeren und also die Christenheit zu meren, ja, 47

Bartholomäus V. Welser war von 1519-1551 der Vorstand des Augsburger Handelsunternehmens. Das Spanisch-Amerika-Unternehmen wurde von ihm und seinem Bruder Anton betrieben. 48 Er schreibt: Do wurd auch ich sampt meinem vatter, mutter und der statt Nürmberg für gut eingeschriben, des gab mir zeugnus senor Latzerus Nürmberger, Hanns Lönner von Marck Erelpach (Amburger 1931: 237). Spanien steht in dieser Zeit unter dem Eindruck der Inquisition und man will sicher gehen, dass die Auswanderer im Dienste der Krone weder Juden noch sonstige Ketzer sind. Offenbar spielt der Konfessionsstreit in Südspanien eine weniger wichtige Rolle als nördlich der Alpen.

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gold und silber von inen zu bekomen war die mainung. Per memori (Amburger 1931: 233). Das ›arme nackte Volk‹ soll durch Freundlichkeit, Betörung der Sinne und durch die Sprache der Bilder und anderer beeindruckender Ritualobjekte für das Christentum gewonnen werden. Resümierend nennt Köler den Endzweck der Bekehrung: Gold und Silber. In einer früheren Textfassung dieser Klerikerparade macht sich Köler mit Ausführlichkeit über die Möglichkeiten der Indianermission Gedanken. Das mitgebrachte Bildwerk, Kirchengezeug nennt es Köler, muss die Götzenbilder ersetzen und dient katechetischen Zwecken. Dem Bild wird offenbar ebenso viel Überzeugungskraft wie dem Wort zugetraut, wiewohl vorgeschlagen wird, zur Missionsarbeit einheimische Dolmetscher einzusetzen. 6 Münich, obsserfantzer barfüsser49 orden mit büchernn und Crucifixenn etc. disse geistlichen Vetter50 soll göttlicher Meynung und mit listen diss Indianische Volk an sich gewennen, auff das sy sich tauffen lassen und mitt der zeitt den cristlichen gelauben lernnen durch ettliche auss anderen Insullen, Indianische Totmetzsten51 (so auch spanischs kunden), ob sy die besser une eher versten lernnen möchtten, dan uns, die hetten wir mitt iren Tarschssen52 und Kirchengezeug, wie obgemeltt, mit gemaltten tafflen und bildern, die sollten sy lernen erkennen, nach wem sy pildtt weren, wass Cristus und die Heilligen sein, warumb er und sy gelitten, wass Evangelium und die geschrifft inheltt und enttlich, wie sy sellig mügen werden un ein ewigs leben nach dissem haben. Wie dan bey uns Cristen auch gepredigtt und ire lange voraltte vorellttern und vorfaren ettwan auch geglaubett und in irem sterben aprobbirtt haben (Welser 1874: 330). Bemerkenswert ist die Auffassung Kölers, wonach die Vorfahren der Indianer – ire lange voraltte vorellttern und vorfaren – ursprünglich Christen gewesen seien. Dahinter steht die Annahme von der Einheit des Menschengeschlechts und einer Uroffenbarung des einen Schöpfergottes (Bitterli 1976: 108).

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›obsserfantzer barfüsser‹ meint Barfüßermönche der Observanzbewegung, die sich durch Beachtung (Observanz) der strengen Ordensregeln auszeichnet. 50 ›Vetter‹ = Väter. 51 Welser liest (vermutlich fehlerhaft) ›Totmetzsten‹. Das Wort leitet sich ab von ›tolmetzen‹ = übersetzen, erklären, verdolmetschen (von Lexer 2017: 1460). 52 ›Tarschsse‹ von ›tarsche‹, ›tartsche‹, ›tarze‹ = kleinerer länglichrunder Schild (von Lexer 2017: 1404).

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Abb. 1: Prozession von Ordensleuten in San Lucar mit Banner und liturgisches Gerät 330 (© The British Library Board, Add. 15217, f.33v).

Ob Indianer wirklich Menschen sind oder eher in die Kategorie wilde Tiere fallen, ist zu Lebzeiten des Hieronymus Köler durchaus eine offene Frage. So fühlt sich Papst Paul III. genötigt, 1537 in seiner Bulle Sublimis Deus immerhin ausdrücklich zu erklären, dass die Indigenen keine Tiere, sondern vernunftbegabt und damit in der Lage seien, die christliche Botschaft zu verstehen (Reinhardt 1985: 65). Theologisch debattiert wird außerdem über die Frage der Erlösungsfähigkeit der ›Indios‹. Die altkirchliche Idee einer Praeparatio Evangelica wird hier aktiviert, wonach der göttliche Logos das Evangelium vorbereitete lange ehe Christus in diese Welt geboren wurde.53 Ab Mitte des 16. Jahrhunderts kommt die Idee einer Urevangelisierung durch den Apostel Thomas (oder Bartholomäus) auf.54 Wir wissen nicht, worauf Köler seine Annahme gründet, dass die Vorfahren der Indianer bereits Christen gewesen seien, doch dürfte sich eher das Konzept der Praeparatio Evangelica nahelegen. Es korrespondiert mit der lutherischen Providentiallehre und entspricht einem intuitiven Gerechtigkeitsbedürfnis.55 Folgt man dieser Idee, oder jener einer Urevangelisation, sind die Indianer Irrgläubige, deren Gottesdienst, aus welchen Gründen auch immer, sich zum Götzendienst pervertiert hatte. Welche Konsequenzen sich daraus für den Missionsauftrag ergeben, ist im 16. Jahrhundert konfessionell uneinheitlich. Luther selbst entwickelt weder eine Theologie der Heidenmission noch ruft er zu einem Missionsunternehmen als Gegengewicht zur römischen Mission auf. Christenpflicht ist grundsätzlich die Verkündigung von Gottes Wort. Jeder Christ ein Evangelist – dieses Diktum gilt unter Heiden 53

Die Vorstellung geht auf den Kirchenvater Eusebius von Caesarea (260/64339/40) zurück und ermöglicht es, das Judentum und antike Denker wie Plato und Sokrates als ›protochristlich‹ einzuschließen (Reinhardt 2009: 58). 54 Die Thomaslegende lässt sich zuerst in Brasilien nachweisen. Sie wird kreolisiert und entfaltet Wirkung bis weit ins 19. Jahrhundert (vgl. Delgado 2002: 421). Die Indianer Nordamerikas wurden von den Puritanern als Abkömmlinge der zehn verlorenen Stämme Israels betrachtet (vgl. hierzu Brunotte 2000). 55 Mit der Denkfigur einer Praeparatio Evangelica wird ein Gerechtigkeits-Paradox aus dem Weg geräumt. Was geschieht mit Menschen im Jenseits, die ein im christlichen Sinn integeres Leben führten, aber nie die Möglichkeiten haben konnten, sich taufen zu lassen? Die Vorstellung, dass solche Menschen der Hölle anheimfallen, widerspricht jedem Gerechtigkeitssinn. Köler, mit Rechtsfragen vertraut, dürfte somit der Praeparatio Evangelica zugeneigt gewesen sein.

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ebenso wie in der eigenen Gemeinde. Dafür ist allerdings kein Missionsamt nötig und der Gedanke, dem Wort Gottes mit dem Schwert Nachdruck verleihen zu müssen, ist dem Luthertum dieser Zeit fremd. Dies gilt nicht zuletzt aufgrund des Vorsehungskonzepts, wonach es Gott überlassen sei, seine Heilsbotschaft allen Ungläubigen zugänglich zu machen.56 Diese Haltung ist keine Selbstverständlichkeit. Schließlich wird im ersten Römerbrief (18-21) argumentiert, dass alle Heiden den Zorn Gottes auf sich ziehen. Gott sei in seinem Schöpfungswerk evident, was jedem vernunftbegabten Menschen einleuchten müsse. »Daher sind sie unentschuldbar … Denn sie haben Gott erkannt, ihn aber nicht als Gott geehrt und ihm nicht gedankt. Sie verfielen in ihrem Denken der Nichtigkeit, und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert« (Delgado 2012: 185). Franziskanische Missionstheologen erkennen daraus eine ›unentschuldbare sündige Vernunft‹ der Heiden, werden zu Anklägern indianischer Religion und verstehen sich zudem als Werkzeug von Gottes Zorn.57 Nichts davon findet sich bei Köler. Vielmehr, so empfiehlt er, müsse man mit diesen ›wilden Leuten‹ behutsam umgehen, um das Gute aus ihnen hervorzulocken. Disse wilde leutt diss und alles guttes anzureitzen, muss man gemach mitt inen umbgeen. Sie hätten schließlich bislang allein gelebt und keinerlei Ahnung von der Lebensart der Spanier. Beim ersten Anblick von Ross und Reiter, so illustriert Köler die Naivität der Indianer, habens nitt andtterst gemaynndtt, dan Ross und man sey ein Ding. Er rät dazu, sie mit Ködern zu locken, 56 Hinzu kommt die territoriale Verfasstheit des Protestantismus in Landeskirchen.

Die Verbreitung der lutherischen Lehre in dem jeweiligen politischen Territorium war vordringlich. Eine länderübergreifende Organisationsstruktur fehlte (Gensichen 1976: 54-55). 57 Die franziskanische Religionstheologie, so legt Delgado dar, lief darauf hinaus, »die Indios in eine schreckliche Kollektivschuld zu verstricken und in den Spaniern das historische Werkzeug zu sehen, um an jenen das Gericht bzw. den Zorn Gottes vorwegzunehmen«. Der Jesuit José de Acosta (1539/40-1599/1600) betont zwar auch, dass die Indios »unentschuldbar« den Täuschungen des Teufels erlegen und dem Götzendienst verfallen seien, doch distanziert er sich von all jenen, die im Götzendienst der ›Indios‹ eine Rechtfertigung für den Eroberungszug der Spanier sehen wollen. Bartolomé de Las Casas (1484/85-1566)-schließlich kritisiert sowohl die These von der Unentschuldbarkeit der ›Indios‹ als auch die Anmaßung der Spanier. Seine Apologie der aztekischen Religion mündet in die Aussage, dass sogar Christen von ihr lernen könnten (Delgado 2012: 191, 193, 197).

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wie man es bei Vögeln macht. Man muss sy gewennen mit schellen Margarittas58 und anderen glenzslichen Dingen, inen fürwerffen und schenken und fein also anezen59 und loken, wie ein vogell, biss sy der leutt ein wenig gewonnen, man muss auch ettwan ir einen, so sy mitt gutten nitt wöllen, fachen (fangen), in auff unser manir klaiden und wider in zu inen lassen lauffen, auff dass sy sehen, das wirs mitt inen nitt böss maynnen (Welser 1874: 330). Sollten sie sich dennoch verweigern, müsste man zu anderen, gewalttätigeren Mitteln greifen. Köler steht solchen Methoden distanziert gegenüber und macht klar, es sind die geistlichen Väter, katholische Ordensleute also, nicht er selbst, die Brachialgewalt, ja sogar Mord und Totschlag billigen. So sy dannoch nitt wöllen, sagen obgemeltte Vetter60 mög man woll in sy brechen und inne ein jeder nach einer gutten peutt trachtten, wie man dan thutt, man jagtt inen nach mitt Hunden und pferden (wie volgendtt angezeigett wirdt) und allem gerumpell, man schlechtt und scheust in sy, wie die wüettenden Hundtt zu todtt,61 nympt inen ir gold und Edellgestein mitt gewaltt, damit man reich wird, land und leutt überkum. … Wie cristlich aber solches fürnemen sey, bevelich ich einem yeden verstendigen zu urtaylen, mit solchem Rauben und Würgen soll es dann heissen, die Cristenheit meren und kayer Mjtt. das Volk untherthenig zu machen, gott schicks zum pesten. Amen (Welser 1874: 330-331). Zunächst bekommt Köler die Aufgabe eines Quartiermeisters und Aufsehers in der Truppe von Nicolaus Federmann zugeteilt. Angesichts der zu erwartenden kriegerischen Auseinandersetzung mit den Indianern werden alle Männer an der Waffe ausgebildet. Es formieren sich Fußsoldaten mit Rundschilden, Büchsenschützen und Armbrustschützen, zu denen auch Köler gehört. Allerdings sind die Arbeitsbedingungen nicht gut. Also mustertt man uns offt, gab uns aber nye kein geltt, beschwert sich Köler (Welser 1874: 323). Zunehmend durchschaut er die fragwürdigen Modalitäten des Kontrakts. Das eroberte Land ist dem Gouverneur zu übereignen und ihm sind für die Überfahrt acht Dukaten zu entrichten. Wer die Summe nicht besitzt, ist gezwungen, sich zu verschulden und seinem Gläubiger obendrein vier Dukaten Schuldzins zurückzuzahlen. Zweifel ob der Rentabilität des 58

Gemeint ist wohl das perlmuttglänzende Mineral Margarit, auch Perlglimmer genannt. 59 ›anezen‹ = durch Futter anziehen, anlocken, erläutert Welser (1874: 330). 60 ›obgemeltte Vetter‹ = oben erwähnte Väter. 61 Welser übersetzt: »Man schlägt und schiesst sie wie wüthende Hunde todt« (1874: 331).

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Unternehmens kommen auf: Ja fir so vill must er von im geben, das er zuletztt nitt vill behaltten hett (Welser 1874: 324). Geschäftsmännisch rechnet Köler die zu erwartenden Kosten und Risiken durch. Die Lebenshaltungskosten seien dort um das zwanzigfache höher als zuhause. Sechseinhalb Liter Wein kosten hundert Dukaten, ebenso viel Mehl fünfzig Dukaten. Wenn dann einer krank werde oder es nichts mehr zu kaufen gibt, mus man wurtzell, krautt und solich Ding essen, das uns hie zu landtt unmöglich ist (Welser 1874: 325). Kurzum, das Land sei für einen Deutschen so ungesund, dass es dort keiner länger aushalte. Bereits während der Musterungszeit in Sanlúcar de Barrameda werden die Abmachungen nicht eingehalten. Zugesichert sind dreimal pro Woche ein Pfund Fleisch (für drei Personen), viermal pro Woche ein Pfund Fisch (für drei Personen) und genug Zwieback, welches geding uns aber hernach nitt wurd gehaltten (Welser 1874: 325). Nichtsdestotrotz leistet Köler den Fahneneid und ist gewillt, per las Indias aufzubrechen. In einem gesonderten Text informiert Köler seine Leser, wohin es gehen soll: 62 Das Ortt und Innsell, darnach wir uns rüsten heist Vinizolla, ligtt von hie, der statt Nürnberg, bey dreyundzwaintzig hundertt teudtsch meilen gegen Orienns zu und zweyhundttertt meill von der silberreichen und gesunden Insell E.N. Ria de la platta, da so vill der Greifen Vögell sindtt; ligtt auch fünfhunderttertt meill von Peruo, der goldreichen fruchttparen und guttlendigen Innsell etc. und ist an ir selbst (wie man vermaynndt) bey fünffhundttertt meillen umb sich gross begriffen, wie woll mans noch nitt eigendtlichen weist (Welser 1874: 329). Einerseits ist Köler mit den Entfernungsangaben um Präzision bemüht, andererseits macht er seinen Lesern deutlich, dass das Wissen davon keineswegs gesichert sei. Die überseeischen Ländereien Spaniens, gleich ob Venezuela, Peru oder die Río-de-la-Plata-Region, gelten zu diesem Zeitpunkt als ein Inselreich.63 Die angeblichen Goldvorkommen locken, doch 62

Venezuela-Beschreibungen sind in zwei Fassungen erhalten. In den Köler-Archivalien des Germanischen Nationalmuseums, die Johann Michael von Welser edierte, und im Londoner Coeler Kodex. 63 Bekannt sind die drei Kontinente Europa, Asien und Afrika. Alle Ländereien, die nicht mit einer der kontinentalen Landmasse verbunden sind, werden als ›insula‹, gleich welcher Größe, bezeichnet (siehe Jahn 1993: 261, zu Kölers Aufzeichnungen S. 221). Zwar hatte der florentinische Seemann Amerigo Vespucci in einem seiner Briefe bereits 1503 von ›Mundus Novus‹ geschrieben und der Kartograph Martin Waldseemüller, davon beeindruckt, stellte auf seiner Karte ›America‹

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sind die Goldinseln64 noch nicht ganz in der Hand Spaniens und zudem ein gefährliches Gebiet, bewohnt von kriegerischen Indianern und aufständischen Kolonisatoren.65 Dort sind viele Menschen, auch Deutsche, umgekommen, gibt Köler zu bedenken, dan man verhofft, vill golds und Edellsgesteins alda mittler zeitt zu bekomen (Welser 1874: 329). Die Beschreibung Kölers von Land und Leuten im fernen ›Las Indias‹ beruht auf Informationen, die in Sevilla kursieren. Seeleute, zurückgekehrte Siedler, vielleicht auch deutsche Bergleute dienen als Auskunftspersonen. Köler wird sicherlich abgewogen haben, was er für bare Münze nimmt, als Übertreibung oder Fantasieprodukt erachtet. In seinem Vorgehen, Wissenswertes mitzuteilen, hält er sich an einen Kriterienkatalog, der so oder ganz ähnlich bereits bei den ersten Berichten über die Bewohner der westindischen Inseln erkennbar ist. Hautfarbe, Körperbau, Haarfarbe, Bekleidung, Essgewohnheiten, Waffen, Religion, Behausung, Umwelt (vgl. dazu Menninger 1995: 134). Um (sich und) seinen Lesern das Verständnis zu ermöglichen, wird das Fremde mit dem Vertrauten verglichen. Der Körperbau der Indianer mit jenem der ›Mohren‹ und Türken, die fremde Tierwelt mit der heimischen.

1507 als Kontinent dar. Doch das Beispiel Kölers zeigt, dass sich neue geographische Kenntnisse ungleichzeitig und allmählich durchsetzen. Erst Ende des 16. Jhs. ist das ptolemäische Weltbild endgültig veraltet aufgrund der Atlaspublikationen von Abraham Ortelius und Gerhard Mercator (hierzu Zögner 1992). 64 Zum Topos der Goldinsel in den Nachrichten aus der Neuen Welt (siehe Kiening 2003: 363). 65 In dem Vertrag, der den Welser zahlreiche Privilegien in Venezuela zusichert, erläutert Karl V., warum er die Welser für die Kolonisierung auserwählte: »weil Ihr eine gewisse Kenntnis von jenem Gebiet und seiner umliegenden Gegend habt und wißt, daß die dortigen Indios kriegerisch und Pfeilschützen sind, und daß ein Teil von ihnen sich im Aufstand befindet, zusammen mit gewissen Christen und anderen Leuten, die an der Ermordung des Gouverneurs Bastidas beteiligt waren, um das besagte Gebiet zu befrieden und Unserem Dienste zu unterwerfen …« (Schütz 1988: 41). Rodrigo de Bastidas war der erste Gouverneur von Sta. Marta. Er wurde von unbotmäßigen Gefolgsleuten ermordet, die nun, aus der Sicht der Krone, in einem rechtsfreien Raum marodierten. Der Kaufmann García de Lerma sollte den Aufstand niederschlagen und dazu bedurfte es der Waffenhilfe durch die Welser.

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Kölers Interesse am Aussehen, Schmuck und Kleidung der Indianer korrespondiert mit der Detailfreude, mit der er sein eigenes Aussehen immer wieder beschreibt. Die Insel ist volkreich, schreibt Köler, ihre Einwohner sind von einer dunklen gelben Farbe und haben vierecketten angesichtten [sind] schwachs leibs und nitt wie die Barbariscus, Weissen, moren oder türcken stark gross leutt … sy haben geren wollechtt und der maiste tail schwarzes langes Harr vor dem angesichtss, kein bartt, sy ziren ir harr mit Rossschwenzen66 und ettwan ir arm und halss mitt Dürckossen und anderm edlen gestein, sy behangen sich auch voll pappigaisfedern umb di scham, ettlich thun auch schaffsfell67 an, wass tapffer unther inen geachtet wirdtt, machen ein loch dadurch, zichens an Hals herab uber den laib und keren das Rauch68 heraus und binden mitt laubwerk Raissig oder Widen umb den leib, sy gen auch sunst man und weib alda nackendtt unther einander, tragen Köcher und bogen, darmitt sy schiessen vergiffte pfeill, ettlich haltten sich allein der schleudern und steinwerffens und andere iren prügell oder Kolbenstecken etc., das ist ir weer (Welser 1874: 329). Die fremde Tierwelt beschreibt Köler analog zur vertrauten. Es gibt u.a. Hühner, Hasen und Gemsen, die aber irgendwie anders sind als zuhause. Diese Andersartigkeit ist allerdings nicht formulierbar, wiewohl Köler einige der mitgebrachten fremdartigen Tiere in den Straßen Sevillas mit eigenen Augen bestaunen kann (so auch Ferraris und Wagner 1993: 78).

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Pferde wurden durch die Kolonisten nach Venezuela gebracht. Ob die hier genannten Rossschwänze dementsprechend eine neue Mode unter den Indianern darstellte, ist unklar. 67 Ob bereits die ersten Kolonisten Schafe nach Venezuela brachten und Indianer deren Felle nutzten, ist unklar. Kölers Anmerkung, dass das Tragen von Schaffellen unter Indianern als tapfer geachtet wurde, lässt möglicherweise auf entsprechende Raubzüge schließen. Fraglich ist, ob hier Köler das Stereotyp vom ›wilden Mann‹ reproduziert. Dieses ikonographische Muster vom ›wilden Mann‹, das bereits ab 1505 mit den Illustrationen von Vespucci Briefen, auf den ›wilden Indianer‹ übertragen wird, ist allerdings nicht zwingend mit Fellbekleidung verbunden (vgl. Frübis 1995, zum Motiv des ›Wildmenschen‹ S. 26-29). 68 Das Adjektiv ›rauch‹ im Sinne von ›beharrt, zottig‹ setzt sich im 16. Jahrhundert durch. In der Kürschnerfachsprache sind ›Rauchwaren‹ gegerbte Tierfelle (vgl. Adelung 1970: Sp. 967).

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Abb. 2: Bewaffnete, nackte ›Vinizöler‹ mit Waffen und Soldaten der Welser. Ins Auge fallen gewaltige Gefäße aus Gold und umherliegende Edelsteine (© The British 337 Library Board, Add. 15217, f.39v).

Es hatt auch Jn dissen landen Scharmunckel,69 Affen, meerkatzen, hannen vnd hennen, auch hassen, Gaiss vnd Gembssenn, doch als einer andern artt, dan mans hie Zu landt hatt, deren Zu Zeitten, auss Lass Jndias mit frembdem volck etc. gebracht werdenn.70 Von Nahrungsgewohnheiten geht Köler nahtlos über zu religiösen Gebräuchen. Wass sy von Wurtzlen, Kreuttern und sunst von Früchtten, auch papigaien und tiren und vischen zur speiss nyessen, pratten sy zwischen zweyen steynen an der sunnen und haben ir speiss fast alle gemeynn und deren genug, aber böss faulls Wasser ist ir getranck und betten stern, sun und mon an, ettlich schlangen und würm, haben der maiste taill ire wonung in gepirgen und Höllernn, ir thürgestell haben sy gemeinlich mitt goltt uberzogen, und ir gefess zum Wasser ist etwan lautter goldtt gefatzenirtt71, wie unser yrdene Krüg hie zu landtt seindtt. Sy machen auch ettwan ubttgöttische bildt von lautterm goldtt in gestaltt des bösen geists, eren sy, fallen vor inen nider und haltt sy hoch, wie ich dan auch dieser abgott einen gesehen hab. Gott erbarme sich dieser armen leutt aller. Amen (Welser 1874: 329-330). Gold ist offenbar in Fülle verfügbar. Sogar Gebrauchsgegenstände wie Wasserkrüge oder Türrahmen sind aus Gold und Gold dient religiösen Zwecken. Köler beschreibt eine religiöse Praxis, die viel später unter dem Begriff ›Naturreligion‹ wissenschaftlich kategorisiert wird.72

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›Scharmunckel‹ dürfte auf das Mittel-Niederländische ›Scharminkel‹ bzw. ›Siminkel‹ = Affe zurückzuführen sein. Scharminkel/Siminkel wiederrum wurzeln im Lateinischen simiunculus bzw. simius = der Affe (vgl. https://en.wiktionary.org/wiki/scharminkel [24.8.2017]). 70 Köler Handschrift in der British Library, Sign. Add. 15217, Bl. 40v, hier nach Ferraris und Wagner 1993: 78. 71 ›gefatzenirtt‹ vermutlich von ›Fason‹ bzw. ›fasonieren‹ = Form/ Form geben, formen (vgl. Schweizerisches Idiotikon Bd. I, Sp. 1063, https://digital.idiotikon.ch/idtkn/id1.htm#!page/11063/mode/1up [03.09.2017]). 72 ›Naturreligion‹ lässt sich frühestens in Johann Gottfried Herders ›Älteste Urkunden des Menschengeschlechts‹ (1774-76) nachweisen. Dort ist der Begriff synonym mit ›natürlicher (Vernunft-)Religion‹. Im Evolutionismus des 19. Jahrhunderts wird die Verehrung von Naturgegenständen zur ältesten Religionsform schlechthin erklärt. Der Begriff machte im deutschsprachigen Wissenschaftskontext (F.M. Müller, Hegel) Karriere und hat in der Rede von Naturvölkern seine Spuren hinterlassen. Wissenschaftlich sind beide Begriffe heute obsolet geworden (vgl. Kohl 1998, Müller 2001).

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Abb. 3: Fischende und Gartenbau treibende Indianer. Die Goldgefäße sind Alltagsgegenstände. Die Höhleneingänge sind goldgeziert. Im Hintergrund ›Gemsen‹ oder ›Steinböcke‹, im Vordergrund ein Affe (© The British Library Board, Add. 15217, f.39). 339

Die frühneuzeitliche Auffassung, was unter Religion zu verstehen sei, kreist um beobachtbares zeremonielles Verhalten, vorgefundene Architektur und Objekte. Glaubensinhalte sind zweitrangig.73 Kultstätten, Kultbilder und Kulthandlungen, immer in Analogie zur christlichen oder antiken Praxis gedacht, entscheiden darüber, ob die neu gefundenen Menschen überhaupt Religion haben oder nicht.74 Die Verehrung von Sternen, Sonne und Mond ist für die zeitgenössischen Leser zwar abwegig und theologisch zu verurteilen, aber nicht abstoßend. Der zusätzliche Hinweis jedoch, dass auch ettlich schlangen und würm angebetet werden, lässt keinen Zweifel zu, mit welchen Leuten man es hier zu tun hat, mit ›Götzenanbetern‹. Schlangen und ekelerregende Würmer werden in christlicher Wahrnehmung und Bildsprache Luzifer zugeordnet. Noch eindeutiger weisen die rituellen Handlungen in diese Richtung: Goldene Abgötter in Gestalt des bösen Geistes werden hochgehalten und die Menschen fallen vor ihnen auf die Knie. Solch einen Abgott, so versichert Köler seinen Lesern, habe er selbst gesehen. Wie unschwer erkennbar, reproduziert Köler das alte Muster des Idolatrievorwurfs, das sich aus Exodus 32, 1-4 (Tanz um das goldene Kalb) und Mose 20, 2-5 begründet. Auf das dort formulierte Bilderverbot spielt Köler direkt an: »Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas 73

Religion wurde dabei nicht im engeren Sinne definiert. Doch lässt sich das zeitgenössische Verständnis von ›Religion‹ aus dem verwendeten Wortfeld erschließen, wie dies Jonathan Z. Smith am Beispiel des spanischen Jesuiten und Missionars José de Acosta (1539/40-1599/60) zeigt. Religion ist das, was in Riten verwendet wird (que usan), ist Brauchtum (costumbre), Aberglaube (superstición), Glaubenshaltung in Verbindung mit Handlungen: Tat (hecho), Ritus (rito), Idolatrie (idolatría), Opfer (sacrificio), Zeremonie (ceremonia), und Feste (fiestas y solemnidades). Die Konzentration auf rituelles Verhalten, führte dazu, das Mythen oder auch Glaubensvorstellungen entweder ignoriert oder, wie bereits bei Kolumbus, als antigüedades, Altertümer galten, die nicht zu tiefergehenden Reflexionen veranlassten (vgl. Smith 1998: 270). 74 So findet Kolumbus bei den Einwohnern karibischer Inseln keine Religion: »Sie huldigen weder einer Sekte noch einem Götzendienst«, schreibt er 1493 in einem Brief. Columbus betrachtet dies allerdings als Vorteil für die Missionierung (Delgado 2012: 183184). Weitere Beispiele für die Wahrnehmung von Religionslosigkeit, weil Kultlosigkeit, bei Reinhardt (2009 54-55).

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am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen.« Die Dämonisierung fremder Religion als ›Götzendienst‹, die deren Zerstörung erforderlich macht, wird von Hernán Cortés in ikonoklastischer Raserei am Beispiel der Aztekenreligion durchgespielt und setzt sich als Wahrnehmungsmuster im Verlauf der Conquista durch.75 Auch der Protestant Köler wird in diesem Muster bestätigt. So übersetzt Luther im ersten Buch der Chroniken (16, 26) »Denn aller Heiden Götter sind Götzen« und unterstreicht die Heilsnotwendigkeit der Kirche mit dem Diktum: »Extra Christum omnes religiones sunt idola« (Delgado 2012: 182, weitere Belege bei Feil 1986: 241). Die Feststellung, dass es sich bei den Einwohnern Venezuelas um Götzendiener handelt, führt bei Köler nicht dazu, sie zu verdammen oder Sklaverei und Mord zu rechtfertigen. Er bittet vielmehr Gott, sich dieser armen Leute zu erbarmen. Das frühzeitig aufgekommene Bild des Indianers als Menschenfresser begegnet uns auch bei Köler. Er ordnet den Kannibalismus jedoch nicht in den Katalog seiner Sachbeschreibungen ein, wie es bei Gestalt, Kleidung, Nahrungsgewohnheiten und religiösen Gebräuchen der Fall ist. Hier

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Ein anschauliches Beispiel für diesen Vorgang bietet die Statuette des aztekischen Gottes Huitzilopochtli, die als exotisches Objekt unter der Bezeichnung ›Abgott‹ und ›Götzenbild‹ in der Städtischen Sammlung Nürnbergs ihren Platz fand. Im Blick der gelehrten Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts wurde in der Kleinplastik des aztekischen Gottes ein Affe gesehen, der die Werke Gottes eben nur nachzuäffen imstande ist. Aus Huitzilopochtli wird Vitzliputzli und schließlich Fitzebutz, allesamt Wortschöpfungen, in denen die Zuschreibung des Teuflischen mitschwingt (vgl. Anders 1992).

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nennt er seine Informationsquelle, nämlich mehrere »Zeittung[en] aus Las Indias«.76 Vermutlich sind es deutschsprachige Flugblätter.77 Ittem, als ich Iheronimus Köler disser Zeitt in Hispaniga war, seindt Zeittung aus Las Indias komen, dass an ettlichen ortten alda der gebrauch ist, so ymandtt altt oder tödttlich kranck wird, welches sy dan wol erkennen mügen, so kumen seine liebste und negste freunth, schneiden im fluchs die Kellen ab und helffen im also von der martter, zertaillen seinen leib, kochen und fressen in, was uber pleibtt, henkens in Rauch, ich hab disser messer selbst zwey gehabtt und zu Cölln gelassen …. Sy spaltten auch ir holzs alda mitt, dan sy schneiden woll und haben sunst kein eissen werk etc (Welser 1874: 333).78 Kannibalen treten im Zuge der Amerikaerschließung frühzeitig als Medienphänomen in Erscheinung. Stilbildend wirkt hier Amerigo Vespuccis ›Mundus Novus‹-Schrift, die von 1502-1503 bis Mitte des 16. Jahrhunderts in mindestens sechzig Ausgaben gedruckt wird (Neuber 1991: 239-240). Darin wird anschaulich von Vielweiberei und Menschenfresserei berichtet,

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Es ist davon auszugehen, dass sich nur ein Teil der damals gedruckten Neuen Zeitungen erhalten hat. Nachweisbar sind Flugschriften über die Eroberung von Mexiko ab 1522. Über die Eroberung Perus informiert die Flugschrift »La conquista del Perú llamada la Nueva Castilla«, die 1534 in Sevilla gedruckt und sogleich übersetzt wurde (Neuber 1991: 234-236, siehe auch Reichert 1999: 674). Hieronymus Köler erwähnt selbst eine ihm bekannte Flugschrift zum Tod von Francisco Pizarro. Dieser wurde 1541 ermordet und daher wird Köler diese Zeitung in Nürnberg in Händen gehalten haben. Er schreibt: Auch kam neue zeitung her, wie … [Hernando] Pisaros bruder (welcher dan Perua erstlichen gewonnen hat) in India von den Indianern uberweltiget worden wer und zu tod geschlagen, sambt seinem pferd am gestade des meeres gefunden. Welches dan der inndianner gebrauch ist, so sy ein volk uberweltigen, so werfen sy die getöt ans gestatt, da die schilff ankommen, zur vorcht der andern (Amburger 1931: 241-242). Es handelt sich um eine ›Zeitungsente‹. Pizarro war von Anhängern seines Rivalen Diego de Almagro ermordet worden. 77 Kölers mangelnde Spanischkenntnisse und seine Kontakte in die oberdeutsche Gemeinschaft in Sevilla, unter der nicht wenige Buchdrucker sind, machen dies wahrscheinlich. 78 Unklar bleibt, wie genau die Stelle seindt Zeittung aus Las Indias komen zu verstehen ist. Handelt es sich tatsächlich um Druckwerke aus Venezuela, die daher besonders glaubwürdig sind, weil sie dort, vor Ort, verfasst wurden, oder sind es Flugschriften, die über Zustände in jenen Ländern berichten?

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was das Sensationsbedürfnis der Leser bedient und die Verkaufszahlen befördert.79 In der Zusammenfassung seiner Zeitungslektüre schildert Köler - wenig sensationsheischend - die Altentötung als humane Sterbehilfe durch liebevolle Freunde und Verwandte.80 Teile der getöteten Alten und Kranken werden gekocht verspeist, die nicht verzehrten Reste durch Räucherung haltbar gemacht. Die Strategie Kölers, sich (und seinen Lesern) das Ganze realistisch auszumalen, erfolgt auf der Objektebene. Indianermesser, die er sich als Souvenir erwirbt, bestätigen die Evidenz des Flugblattberichts. Kölers Zeitungsbericht weicht ab von einem anderen weit verbreiteten Muster, wonach es Fremde, gefangene Feinde oder Christen sind, die grausam getötet, zubereitet und verzehrt werden. In aller Regel wird das Abscheuliche dieser Sitte hervorgehoben (vgl. Pinheiro 2004: 76). Köler indes zeigt keine Abscheu, er bewertet nicht, sondern erklärt uns vielmehr, dass die Altentötung doch letztlich das Leiden der Todkranken abkürze. Menschenfresserei, dies legt sich nahe, erfolgt aus Gründen von Trauer und Pietät. Köler informiert über diesen merkwürdigen Brauch in zweiter Linie, um Spektakuläres über die fremden Indianer mitzuteilen. In erster Linie geht es um ihn selbst. Er möchte seinen Lesern die Motive erläutern, die ihn nach Venezuela führen: Neugierde und Abenteuerlust.

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Annerose Menninger (1955) hat das Kannibalen-Stereotyp rezeptionsgeschichtlich untersucht und dabei die These aufgestellt, dass es sich hierbei um eine rein medial erzeugte Fiktion handelt, die durch keinerlei Augenzeugenberichte gestützt werde. Menningers These steht in Korrespondenz zu William Arens (1979), der den wissenschaftlichen Zweifel am Phänomen Kannibalismus etablierte. Mark Münzel hingegen sieht in der Dekonstruktion der Berichte über Kannibalismus vor allem eine Lieblingsbeschäftigung der Kritik am colonial discourse in der postcolonial theory (vgl. Münzel 2008: 86). Mittlerweile geht man aufgrund archäologischer und medizinethnologischer Befunde von der Möglichkeit des Endokannibalismus, d.i. der rituelle Verzehr von Angehörigen, aus (so etwa für Brasilien Conklin 2001, für Neuguinea vgl. die Diskussion bei Steadman und Merbs 1982). 80 Von der Altentötung als einer Sitte der ›Anderen‹ berichtet bereits Herodot. Mark Münzel (2016) hat sich in Bezug auf die Inka und Aché-Indianer Paraguays mit entsprechenden Überlieferungen und unzulässigen Verallgemeinerungen auseinandergesetzt.

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Disse und andere Wunder werk haben mich dahin brachtt im Dienst vorgemeltter Herrschafft, das ich mich mitt vorgenantter Rott81 pr. Venizole auffgemachtt hab, dan sy (die Welser) dürffen auss Spaniga dahin sellen (segeln) lassen auff iren Kosten und abenthewr … (Welser 1874: 333). Kölers Abenteuer beginnt mit der Einschiffung am 18. Oktober 1534 in Sanlúcar de Barrameda, dem spanischen Amerikahafen. Er besteigt die Sta. Trinidad und in seiner Truppe befinden sich u.a. ein schlesischer Bergmann, ein Zinnoberbrenner aus Antwerpen, ein deutscher Buchdrucker, ein Diamantschleifer aus Augsburg, mehrere Flamen und ein »brobbierer« aus Brüssel (Welser 1874: 325).82 Nach 200 Meilen auf hoher See setzt ein heftiges Unwetter ein, das wir uns manigmal verlorn schetzten, und auf 21. Octob. das groste turment und fortuna, das wir uns für tot schetzten und uns alle Gott bevalchen und gelübt teten. Wir wisten nit, wo wir waren, der tag verwandelt sich in die nacht. Das gewülken zoche sich herab auf das meer und das meer hinauf in die wolken, und fiel so grausam wasser vom himmel, das unser ein tayl schir auf dem schif ertrunken weren (Amburger 1931: 239).83 Der Sturm treibt das Schiff zurück an Land und man erreicht den Hafen Cádiz. Auch der nächste Versuch scheitert und man ist erneut gezwungen umzukehren. Der Schiffskapitän quittiert den Dienst und lässt es sich an Land gut gehen. Man findet einen neuen, dem zunächst die Bezahlung verweigert wird. Die Stimmung unter den Seeleuten verschlechtert sich. In somma sommarum bös regiment was unter den marineros von kursiv?? allerley sprachen, ein tail Schottis, ein tail Englischs, Fleming und der maiste tail Bisgayer und Sponiart und Tallianner (Amburger 1931: 239), allerley 30 menschen, der verstünd keiner den andern in der nott (Amburger 1931: 239). Der erfahrene Kapitän, der bereits nach Indien gereist war und mehr als achtzehnmal das ›spanische Meer‹ überquert hatte, verzagt angesichts des tosenden Sturms, so dass er sich mer dan einmal vor angst hinter den mastbaum verkroch und sein harr ausrauft (Amburger 1931: 240). Dieser Seemann, den Köler ausführlich in seiner Kritik zu Wort kommen lässt, hatte solches 81

›Rott/e‹ = Abteilung eines Heeres (militärischer Sprachgebrauch, vgl. Deutsches Rechtswörterbuch online: http://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drwcgi/zeige?index=lemmata&term=rott [26.8.2017]). 82 Ein ›Probierer‹ ist der amtliche Erz- und Münzprüfer (so bei Amburger 1931: 239). 83 Berichte von gewaltigen Unwettern kommen in vielen Reisebeschreibungen der frühen Neuzeit vor (hierzu Kiening 2003: 372).

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noch nie in seinen fünfundzwanzig Jahren auf See erlebt. Die Obrigkeit erzwinge die Ausfahrt im Oktober und November, ganz gegen die Natur. Das sei früher von Königen und Kaisern verboten worden, damit nicht so viele Menschen ums Leben kämen und Schiffe verloren gingen. Dies gelte nicht mehr, so versinkt und ertrinkt man … und verlacht sy darzu … (Amburger 1931: 240). Es sind Gouverneure und Kapitäne, die Seeleute zu ihrem eigenen Schaden überreden und letztlich umbringen. Hieronymus Köler vollzieht einen Gesinnungswandel. Da ich nu dis und anders meher, so gut nit ist, erfuer, besach ich, wie ich dieser schweren pürden los würd, lies mich und hanns Fries an land setzen, dieweil vor uns und hernach viel Spaniart waren ausgetreten. So sucht unser yeder remedi, wie er der ding los würd … (Amburger 1931: 240). Kölers Wunsch um Ausmusterung stößt auf Widerstand und erst nachdem er, wie alle anderen unwilligen Seeleute, eine Ablösesumme zahlt, hat er die Bürde los. Köler macht seinem Unmut Luft und nennt nun den Dienst ein fretterey, schmarotzerey und schinterey.84 In Cádiz begegnet er Mathes Mayr, einem frommen Mann aus Augsburg, der bereits in Calicut, dem Indien des portugiesischen Königs, und auch im ›Indien der Welser‹ gewesen war. Mayr warnt ausdrücklich davor, nach Venezuela auszureisen. Die Lebensbedingungen seien für Deutsche sehr hart und man würde kaum mehr als zehn Jahre dort überleben. Wer dort bliebe, müst zuletzt in geschwülst verschmachten. Solchermaßen wurd ich von vilen leuten gewarnt … wiewol mir die Welschsserischen zuvorn und Latzero Nürmberger all ding vil besser zu versten hetten geben (Amburger 1931: 240). Köler, dem Sturm und Todesnähe die Augen öffnen, rechnet ab. Er äußert grundsätzlichen Zweifel an der kolonialen Unternehmung, sieht dahinter nichts als Habgier, die durch den Missionsauftrag lediglich verschleiert wird.

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›fretterey‹ = Schererei (vgl. Amburger 1931: 240).

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Abb. 4: Ein Heerlager der Spanier. Ein (fell-?) bekleideter Indianer wird von zwei Soldaten gepackt, dahinter Goldgefäße und nackte Indianer mit Pfeil und Bogen. In den Bäumen sind Papageien (© The British Library Board, Add. 15217, f.40). 346

Da ich aber alle dück und untreu erfuer, gedacht ich, wie ein köstlich ding es wer, auch wie gottlich, ein wening zu haus mit danksagung genossen, dan sich in solche große gefer zu begeben, in ein land, das nit gesunt, da auch weder zu drinken noch zu essen ist, allein bös wasser, wurtzel und kraut, auch da man die armen leut uberpoltert, erwürgt und inen das ir nympt, allein umb ein wening schentliches goldes und silbers willen. Darnach will man sagen, ey, man mus dis volk mit dem schwert zum cristlichen gelauben nöten, auch sy dem kayser untertenig machen, zu merung der cristenheit, ich besorg aber, es wird gegen Gott einer andern schweren rechenschaft bedorfen (Amburger 1931: 240241). Eine Paulusstelle (1 Timotheus, 6,7) kommt ihm in den Sinn: wir haben nichts in diese welt bracht, wir werden auch nichts daraus nehmen, und er folgert daraus die christliche Weisheit, wir werden noch alle genuch haben, so der tod kompt, hat ein yeder genuch, kein mensch ist so arm, er hat genuch und, wie man spricht, es bleibt im noch uber. Derhalben sag ich pillig dem almechtigen, ewigen und gütigen Gott mein leben lang gros lob, eher und dank, das er mir von obberürten dingen so genediglichen geholfen hat. Es gee mir halt hinfür wie Gott will. Amen (Amburger 1931: 241). Es schließt sich eine Gewissenserforschung Kölers an. Die Gründe, die ihn zu disser schweren reis und andern geferlichkeiten gebracht hätten, so erklärt er, seien es nicht wert, erzählt zu werden. Köler versichert jedoch, es ist aber keiner meiner gutten und gehaymen freund, er wirt es selbst wissen und wol rechnen können. Wenn einer sich in Gefahr begibt, müsse er sich nicht wundern, wenn es ihm nicht wohl ergehe. Da Gott ihn aus seiner gruntlosen barmhertzigkeit wunderparlichen von allen meinen widerwertigkeiten bishero geholfen hat und helfen wirt, würde er um kein Geld in der Welt auf diese Erfahrung verzichten (Amburger 1931: 241).85 Deshalben ein yeder junger gesell ein exempel und ebenpild nehmen soll, das nit allein hier, sondern auch anderstwo gut brot essen ist, allein welcher Gott vor augen hat und sich darein zu schicken weist (Amburger 1931: 241). Als Köler seine Erinnerungen zu Papier bringt, geschieht dies im Milieu der protestantischen Reichsstadt Nürnberg. Köler schreibt von der ersten

85

Der Vorwurf von Wolfgang Treue, Köler habe mit seiner vorgeblichen Venezuela Reise seine Leser beeindrucken wollen (und sie daher täuschte), ist unsinnig. Ganz im Gegenteil: Köler nutzt sein Scheitern, um daraus ein Lehrstück für seine Leser zu machen (Treue 2014: 271-272).

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bis zur letzten Zeile als überzeugter Anhänger Luthers. Der Protestantismus-Enthusiasmus der ersten Reformationsgeneration formt sein Aufschreibe- und Kommunikationsmodell. Darin ähnelt er den anderen Augenzeugen der Welser Unternehmung, aber auch dem Brasilienreisenden Hans Staden (1525-1576), der über seine zehnmonatige Gefangenschaft bei den anthropophagen Tupinambá berichtet.86 Köler verfasst sein Leben als Heilsbericht, der von der Präsenz Gottes in der Welt kündet. Es ist somit eine frohe Botschaft, gleichzeitig aber auch ein Drama, das von Anfechtung und Bewährung eines Christenmenschen erzählt. Wir begegnen Neugierde und Abenteuerlust, Verlockung durch Geld und Gold, Todesnähe, Gottes schützendem Eingreifen, Läuterung. Das eigene Leben wird zum Exemplum, das Gottvertrauen lehren soll. In Momenten der Todesbedrohung durch Krankheit oder angesichts eines tosenden Sturms auf hoher See wird dieses Vertrauen auf die Probe gestellt. Hier muss sich jener von Luther geforderte Fideismus bewähren. Das lutherische Motiv des vorbildgebenden Lebens, getragen von göttlicher Fürsorge, ist das Leitmotiv in Kölers biographischen Aufzeichnungen. In Korrespondenz dazu fügen sich Erwägungen zur Rechtlichkeit menschlichen Handelns ein, die den Bericht der Wanderjahre durchziehen.87 Dies verwundert nicht, da Köler eine Ausbildung im Rechtswesen erfahren hatte und zum Zeitpunkt der Niederschrift als städtischer Amtmann, Schöffe und Richter tätig war. Rechtsbrüche werden deutlich benannt in 86

Auch Hans Staden folgt in seiner Darstellung einem christlichen Erzählstrang: »Aus tiefster Not zur Errettung, dann Schiffbruch, dann Errettung aus Seenot, Gefangennahme und endlich Befreiung« (Münzel 2010: 230). Die Autoren, die von der Welser Unternehmung als Augenzeugen berichten (Titus Neukomm, Nikolaus Federmann, Philipp von Hutten) sind, wie Köler, Protestanten und gehören der Oberschicht an (Neuber 1995: 149). Zu Aufschreibe- und Kommunikationsmodellen von frühneuzeitlichen Reiseberichten als individuelle Erlebnisgeschichte, geographische Regionalbeschreibung und ethnographische Beobachtung siehe Neuber 1995: 153. Christian Kiening sieht in Kontakt- und Konfliktzonen zwischen den Kulturen ›dritte Räume‹ (Bhabha), in denen Sinnstiftungen ausgehandelt werden. In der literarischen Aneignung der Neuen Welt bildeten sich in diesen Räumen hybride Formen erzählerischer, kultureller oder identifikatorischer Art, die in erster Linie Licht auf europäisches Selbstverständnis werfen (Zu den Texten Philipp von Huttens und Titus Neukomms aus dieser Perspektive siehe Kiening 2006: 91-94). 87 Darauf weist Wolfgang Neuber (1995: 151-152) hin.

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seiner Abrechnung mit dem gesamten Welser Unternehmen. Dahinter zeige sich nichts als fretterey, schmarotzerey, und schintterey und falsche Versprechungen. Köler entfaltet hier jedoch kein moralisches Prinzip um des Prinzips willen. Immer bleibt, so Wolfgang Neuber, »die eigene Anschauung und Erfahrung der Ausgangspunkt, von dem aus die Welt beurteilt wird. Nicht die Maxime bestimmt das eigene Verhalten, das Erleben vielmehr wird zur Maxime ausgeweitet, die eine vorbehaltlose Solidarität mit allen ermöglicht, die in gleicher Situation sich befinden. Das betrifft auch die Indianer …« (Neuber 1995: 152). Köler prangert die Unrechtmäßigkeit des missionarischen Eifers an, die sich als Bemäntelung von Goldgier entlarvt. Für das dort begangene Unrecht gegenüber den Indianern werde Gott Rechenschaft fordern. Seine Welterfahrung lehrt ihn, dass Menschen, ihrem Wesen gemäß, allzu häufig Rechtsnormen verletzen. Dies begreift Köler jedoch »nicht als Verletzung göttlichen Rechts, sondern als Ungerechtigkeit allen Mitmenschen gegenüber« (Neuber 1995: 153). Religionshistorisch interessant erscheint der Umstand, dass Köler als protestantischer Reisender im katholischen Spanien unterwegs ist. Der Historiker Eberhard Schmitt schreibt, dass die nationalstolzen Spanier »in jedem Deutschen damals einen Lutheraner« witterten (1992: 61). Leider nennt Schmitt für diese doch ganz plausible Vermutung keine Quellen. Aus Kölers Aufzeichnungen jedenfalls ist davon nichts zu entnehmen. Das mag verwundern. Schließlich tritt Karl V. der Reformation mit Entschiedenheit entgegen und die Welser unterstützen ihn dabei finanziell. Während im Kernland der Reformation heftiger Streit tobt, der Papst von Luther als Antichrist betrachtet wird und dieser für die Papsttreuen als selbiger gilt, ist Kölers Text von diesem Religionskonflikt weitgehend unberührt. Zwar fordern die Welser von allen, die sich dem Venezuela-Unternehmen anschließen, den Nachweis, gutt leuth und Cristen zu sein. Doch offenbar steht dem nicht im Wege, Lutheraner zu sein und aus einer Stadt zu kommen, die sich frühzeitig der Reformation anheimgestellt hatte. Ebenso wenig scheinen die Nürnberger Kaufleute in Sevilla als Ketzer gegolten zu haben. Sie betreiben erfolgreich ihre Geschäfte. Mit welchen Augen blickte Köler in der frühen und dramatischen Phase des Konfessionsstreits auf die spanischen Katholiken? Wenn wir von Kritik am Katholizismus erfahren, dann indirekt, in Kölers Verurteilung der Indianermission, in der es nicht um Gottes Wort gehe, sondern um Habgier. 349

Was lernen wir aus Hieronymus Kölers Aufzeichnungen über das Fremdverstehen? Eignet er sich als Auskunftsperson in Sachen Xenologie und Imagologie? Weniger als eingangs vermutet, muss ich gestehen. Die ersten Berichterstatter aus der Neuen Welt, schreibt Birgit Scharlau, »erschließen sich das Fremde – wie könnte es anders sein – über die Kategorien des schon Bekannten« (Scharlau und Münzel 1986: 16). Das ist bei Köler genauso und zwar nicht nur, wenn er über die Neue Welt schreibt. Doch das, was für einen Reisenden des 16. Jahrhunderts in die Kategorie des Bekannten fällt, ist für uns Nachgeborene keineswegs immer offensichtlich. Somit birgt die Lektüre von Kölers Familienbuch gleichermaßen ethnologische Herausforderungen wie Einsichten. Eigene Fremdheitserfahrungen, etwa die Zeit der Feldforschung, im Rückblick als Heilsgeschichte zu deuten wie Köler es tut, dürfte uns schwerfallen. Für moderne Reisende und Feldforscher erfolgt die Begegnung mit dem Fremden meist im Modus der Melancholie. Darauf hat Hinrich Fink-Eitel hingewiesen. Man flieht dem Widerwillen und Verzagen an der eigenen Kultur in eine fremde, in der Hoffnung dort ein Heilmittel gegen Schwermut zu finden. Die Reise in die Fremde, getrieben von der Suche nach dem »ganz Anderen«, führt indes nicht ins Paradies. Das melancholische Ich ist mit im Reisegepäck und lässt allenfalls »traurige Tropen« erkennen (Fink-Eitel 1994: 61-63). Das Köler‘sche Ich war von solchen Befindlichkeiten gewiss ganz unberührt. Auch das gibt Anlass zu staunen. Literatur Adelung, Johann Christoph 1970. Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Hildesheim und New York: Olms. Amburger, Hannah S. M. 1931. Die Familiengeschichte der Koeler: Ein Beitrag zur Autobiographie des 16. Jahrhunderts. Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 30, 161-289. Anders, Ferdinand 1992. Huitzilopochtli-Vitzliputzli-Fizlipuzli-Fitzebutz: Das Schicksal eines mexikanischen Gottes in Europa. In: Focus Behaim Globus: Katalog, Bd. 1. Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum, 423446. Arens, William 1979. The Man Eating Myth: Anthropology and Anthropophagy. New York: Oxford University Press. 350

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Bernard Poulelaouen

Ethnologie und Politik Ein Weg der Möglichkeiten1 Mark Münzel befasst sich damals wie heute mit der Frage, was bei einem Aufeinandertreffen traditioneller Gesellschaftsformen mit modernen, wirtschaftlichen Herausforderungen passiert. Persönlichkeiten in der französischen Politik, wie Jean-Claude Boulard, Senator und Bürgermeister der Stadt Le Mans (Frankreich) und ehemaliger Student des französischen Ethnologen Georges Ballandier (1920-2016), versuchen in den Arbeiten von Ethnologinnen und Ethnologen, Elemente der Reflexion zu finden, welche auf einige zentrale Herausforderungen zur Zukunft unseres Planeten Antworten geben könnten. Boulard hatte in seinen Bemühungen, einen Dialog mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Gesellschaftswissenschaften zu etablieren, einige frustrierende Erfahrungen gemacht. Ein neuer Anlauf gelang ihm erst anlässlich eines Besuchs Münzels mit einer Studierendengruppe aus Marburg im Musée de l’Homme in Paris (1999), bei welchem auch ich selbst anwesend war, zusammen mit Lucie Rault, der Beauftragten der musikethnologischen Sammlung. Ich war damals Beauftragter für das Restaurierungsprogramm für Musikinstrumente im Museum. Mit Münzel fand Boulard endlich einen Wissenschaftler, der ihn nicht direkt abwies. Es war ein Hoffnungsschimmer für Boulard, nach einer 1

Dieser Text wurde aus dem Französischen von Susann Chuchollek übersetzt, der Direktorin des Centre du Patrimoine de la Facture Instrumentale (CPFI) und ehemalige Studentin der Vergleichenden Kultur- und Religionswissenschaften in Marburg. Die zitierten Texte stammen aus einer persönlichen Recherche von JeanClaude Boulard zu Reiseberichten und Schriften von Ethnologen auf Feldforschung. Er hat die Strahlkraft der Texte besonders herausgearbeitet. Es sei zu bemerken, dass Boulard auch der Autor von mehreren Büchern ist, unter anderem ›Der Meister der Worte oder die Grundlagen der Macht‹ (2002) oder ›Die Reise verkehrt herum‹ (2015).

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Reihe erfolgloser Treffen in Paris. In der Vergangenheit hatte auch ich versucht, ihn – die Politik – bzw. Ethnologinnen und Ethnologen – die Wissenschaft – zusammenzubringen. Noch bevor Boulard Münzel schließlich kennenlernte, reiste ich mit Boulard von Le Mans nach Paris. Wir schickten uns an, im Musée de l’Homme mehrere Forscherinnen und Forscher zu treffen. Boulard hatte mich gebeten, dieses Treffen zu organisieren, da sein Interesse für die Ethnologie seit seinem Studium seine politischen Aktivitäten stets begleitete. Als Bürgermeister von Le Mans hoffte Boulard, einen Dialog zwischen der Politik und der Ethnologie zu initiieren. Dies geschah in der Überzeugung, dass die Ethnologie der Politik Inspiration oder zumindest neue Impulse geben könne. In gewisser Weise wollte er, dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Übermittler oder als Botschafter dienten, die eine Nachricht der nicht-industrialisierten Völker an die Völker der ›modernen‹ Welt sendeten. Nach Meinung Boulards könnten der Umgang mit Wissen, bestimmte Formen sozialer Organisation sowie die Beziehung von Menschen zur Natur innerhalb nicht-industrialisierter Völker eine verlorene Quelle der Inspiration für unser heutiges Leben darstellen. Doch erst mit Münzel ging dieser Prozess voran. Bei einem Aufenthalt von Münzel in 1999 lud ich ihn zu einem Essen ins Büro des Bürgermeisters ein, um über den Zusammenhang zwischen ethnologischer Forschung und politischer Arbeit zu diskutieren. Als Leiter des Centre du Patrimoine de la Facture Instrumentale (CPFI)2 arbeitete ich bereit intensiv mit dem Bürgermeister zusammen. Bei Boulard trafen sich schließlich neben Münzel und mir auch die erwähnte Lucie Rault und Pierre de Vallombreuse, ein prominenter Fotograf indigener Gruppen. Aus unseren Diskussionen entwickelte sich schließlich die Idee, einen Thinktank zu schaffen, dem wir den Namen ›Centre de Ressources des Peuples Premiers‹3 gaben.

2

Siehe http://www.cpfi-lemans.com/ (25.02.2018). Die Benennung unseres Zentrums wurde intensiv diskutiert. Sollten wir von premiers (›ersten‹, ›ursprünglichen‹), ›indigenen‹ oder ›nicht industrialisierten‹ Gruppen sprechen? Da wir keine Bezeichnung fanden, die uns angemessen erschien und von uns einstimmig angenommen wurde, hatten wir uns für peuples premiers (die ›Urvölker‹, ›Ersten‹ oder ›Ursprünglichen‹) geeinigt, bereit uns einer künftigen Kritik zu stellen. 3

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Reisende, Forscherinnen und Forscher haben im Laufe der Jahrhunderte viele Berichte über indigene Gruppen angefertigt. Diese Texte voller Weitsicht und auch mit humoristischen Untertönen wollten wir einem breiteren Publikum und damit der industrialisierten Welt zugänglich machen. Die Verbreitung dieser Texte sollte über das gegründete Zentrum erfolgen, das im Rahmen des CPFI organisatorisch verortet wurde. Den Beginn der Arbeit des Zentrums stellte eine Internetseite dar.4 Aber schauen wir zunächst auf einige Texte, die im Rahmen der Arbeit zum Zentrum geschrieben wurden. In folgendem Auszug beschreibt Boulard seine Motivation zur Gründung des Zentrums: ›Wild, primitiv, archaisch‹: Es fehlte selten an geringschätzenden Bezeichnungen gegenüber den Ersten Völkern. Ureinwohner aus Australien oder Papua-Neuguinea, Guayaki-Indianer aus Amazonien, Maya aus Mexiko, Pygmäen aus Zentralafrika, Karen aus Myanmar und Thailand, San aus der Kalahari – es gibt noch Tausende indigener Gruppen mit ihrer Sprache, Kultur, Tradition, Mythen und einer Geschichte von über 60.000 Jahren. Es sind Völker ohne Staat. Sie haben somit keinen Schutz und meist kein Recht auf Selbstbestimmung: sie verschwinden zunehmend in der generellen Gleichgültigkeit einer Welt, in der dem Schutz historischer Denkmäler oder etwa der Bewahrung der Biodiversität mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht wird als der Bewahrung der indigenen Völker selbst. Einige, wie zum Beispiel die Ureinwohner in Tasmanien, waren Opfer eines radikalen Genozids. Die Kolonisatoren vergaben damals für ein Paar ihrer Ohren Geldprämien. Andere indigene Gruppen, wie die Indianer Südamerikas, erlebten einen fürchterlichen demographischen Aderlass. Vor der Ankunft von Christoph Kolumbus waren sie 4,5 Millionen, am Ende des 19. Jahrhunderts sollten es nur noch 200.000 Indianer sein. Unter den Kolonisatoren hat man damals geprahlt: ›Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer‹. Die Unterlegenheit dieser Völker auf dem Gebiet der Technologie hat unsere Gesellschaften dazu gebracht, erstere mit 4

Siehe http://www.cpfi-lemans.com/peuples/ (25.02.2018).

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einem Blick zwischen oszillierend zwischen Geringschätzung und Gleichgültigkeit oder inspiriert von einer Mythologie des sogenannten guten Wilden, der direkt einem verlorenen Eden entstiegen scheint, auf sie herabzuschauen. Der Zeitpunkt ist gekommen, auf diese Völker einen neuen Blick zu richten. Sie scheinen auf dem Gebiet der Technologie unterlegen zu sein, doch haben sie einen Vorsprung bei vier entscheidenden Fragen, mit denen sich auch unsere Gesellschaften konfrontiert sehen: Das Verhältnis der Menschen zur Natur und der Menschen untereinander. Das Verhältnis in Situationen des Überlebens und gegenüber Vorschriften. Unsere Gesellschaften kennen bei diesen vier Fragen eine Krisensituation: Krise des Verhältnisses der Menschen zu ihrer Umwelt; Krise der Kommunikation zwischen den Menschen; Krise der regulierenden Funktionen; Krise der Überlebensfähigkeit in Situationen von Knappheit. Damit wir die Antworten der Ersten Völker zu diesen Fragen zusammentragen können, wurde ein ›Ressourcenzentrum der Ersten Völker zum Dienste der Völker des 21. Jahrhunderts‹ gegründet. Dieses Zentrum trägt die Schätze der Welt zusammen, in der Form von Antworten und Lösungsvorschlägen, die diese Kulturen bergen, wie Regeln, Traditionen, Mythen und soziale Kreativität der indigenen Völker. Dieses Ressourcenzentrum ist nicht auf die Bewahrung dieser indigenen Kulturen ausgerichtet oder gar auf die Wiederbelebung des Mythos vom guten Wilden. Vielmehr geht es vor allem darum, auf 60.000 Jahre Menschheitsgeschichte rückblickend, über die Zukunft der Völker des 21. Jahrhunderts zu reden, wobei diese modernen Völker auf ihrem Weg einige Ideen mitnehmen sollten, welche von den indigenen Völkern erdacht wurden.5

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Boulard in einem Text aus der Pressemappe zu der Ausstellung ›Le renard pâle au pays des Dogon‹, die 2017 im Stadtmuseum gezeigt wurde. Zur damaligen Ausstellung siehe http://www.cpfi-lemans.com/spip/spip.php?article154 (25.02.2018).

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Die Absicht des neuen Zentrums ist in diesem Ausschnitt gut umrissen. Den indigenen Völkern bzw. ihren Ansichten wird ein Platz gegeben, ihren Blick auf unsere Welt zu teilen. Die Sichtweise der indigenen Völker dient den ›modernen‹ Gesellschaften als Spiegel, um sich so mancherlei zeitgenössischer Verrücktheiten bewusst zu werden, in denen der Profit und der Erfolg einiger weniger in den Vordergrund gestellt wird, oft ohne Rücksicht auf menschliche Beziehungen und auf das Überleben unseres Planeten zu achten. Während unseres Treffens mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Musée de l’Homme in Paris entmutigte Boulard zunächst die Skepsis und das Desinteresse der meisten Forscherinnen und Forscher. Als wir die Büros des Museums verließen und auf dem Bürgersteig vor diesen Häusern standen erinnere ich mich, wie er mir seine Enttäuschung mitteilte über die abweisende Haltung, die man ihm entgegenbrachte. Die Ethnologinnen und Ethnologen seien so engstirnig und so wenig dazu geneigt gewesen, ihr Wissen zu teilen und ihre Forschungen auf einer breiteren Ebene weiter zu verbreiten. An dieser Stelle kann ich nur aus der Erinnerung eine Aussage und einen Eindruck wiedergeben: »Die Politik hat nichts mit der Ethnologie gemein. Jeder sollte das Aktionsfeld des Anderen respektieren.« Seine Enttäuschung war offensichtlich. Die weitere Zukunft hat bewiesen, dass es schwierig sein kann, einen gemeinsamen Weg zu finden. Es ist aber nicht unmöglich und hängt ganz von dem offenen Geist und dem guten Willen eines Jeden ab, jedes Politikers und jedes Ethnologen. Jacques Chirac, damals Präsident der französischen Republik (1995-2007), entschied, etwas gegen den fehlenden Dialog zwischen der Wissenschaft, der Öffentlichkeit und politischen Entscheidungsträgern zu unternehmen, und den Staub im altehrwürdigen Musée de l’Homme aufzuwirbeln. Er schuf ein neues Museum am Quai Branly, am Ufer der Seine in Paris, direkt neben dem Eifelturm. Die musealen Sammlungen wurden aus dem alten Museum am Trocadero herausgeholt und in das neue Musée du quai Branly einquartiert. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Musée de l’Homme wurden vorerst ihrer Studienobjekte beraubt, was alsbald dazu führte, dass ein Generalstreik ausgerufen wurde. Die Kisten voller Sammlungsobjekte kamen in das neue Museum, Objekte wurden neu archiviert und visuell wirkungsvoll in pompösen Ausstellungen in Szene gesetzt. Nicht alles an diesem neuen Museum ist negativ zu bewerten, doch wir sehen hier die gestörte Beziehung zwischen der

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Politik und der Ethnologie und können so die Vorsicht der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gegenüber der Politik besser verstehen. Aber kommen wir noch einmal auf die Entdeckungen zurück, die uns von Reisenden, Entdeckern und Ethnologen im Laufe der Jahrhunderte übermittelt wurden von. Die Guayaki aus Paraguay (Clastres 1972, LéviStrauss 1964) wandten ein besonderes Prinzip der Verteilung an: Um zu verhindern, dass die erfolgreichsten Jäger die besten Stücke für sich zurückhielten und damit eventuell eine Wirtschaftshierarchie etablierten, war es ihnen verboten, die eigene Jagdbeute zu verzehren. Mit dieser Regel wurde eine Neuverteilung der Beute und somit auch der Erhalt der Einheit einer Gruppe mit all der qualitativen Vielfalt ihrer Mitglieder erreicht. Die Guayaki hatten erkannt, dass natürliche Unterschiede eine nicht hierarchische Gesellschaft destabilisieren könnten. Dieselben Guayaki waren auch die Urheber der sogenannten ›Diplomatensprache‹, ›Phrasendrescherei‹ oder ›dem Reden ohne etwas zu sagen‹. Sie hatten die tiefe Bedeutung von Worten und Sprache sehr gut verstanden. Jeden Abend versammelten sich die Indianer um das Feuer und gingen ihren Beschäftigungen nach. Während dieser Zeit redete ein Mann und niemand hörte ihm zu. Es war der Chef der Gemeinschaft. Seine Rede beinhalteten keinerlei Ratschläge, keine Anordnungen und vor allem nichts Neues. Der Chef wurde ausgewählt für seine Redegewandtheit. Er erfüllte die Aufgabe der Erinnerung und Wiederholung. Tatsächlich war es für die Guayaki unentbehrlich zu reden, um nichts zu sagen. Dies brachte die beruhigende Bestätigung für die Mitglieder der Gemeinschaft, dass es nichts Neues gab. In unserer heutigen Welt ist dieses System umgekehrt. Die ›Meister der Worte‹ sind die Medien, die nur an den Neuigkeiten interessiert sind und mitunter, so scheint es, in ihrer Funktion eine destabilisierende Angst erzeugen. Die Lehren dieser Völker, in Berücksichtigung der Evolution unserer Welt, mögen mitunter etwas subversiv erscheinen: Was die Dauer der Arbeit anbetrifft, so hatten die Guayaki ebenfalls einen interessanten Standpunkt. Als neue Technologien in der Gemeinschaft Einzug hielten, so etwa geschehen bei der Axt, mit der man Holz um einiges schneller hacken konnte, versammelten sich alle Mitglieder und eine lange Diskussion entspann sich. Am Ende einer nächtlichen Beratung wurde eine Entscheidung getroffen. Die Axt sollte genutzt werden, nicht um Holz anzusammeln, aber wohl um die Arbeitszeit zu reduzieren. Dementsprechend erfanden die Guayaki den Mythos von der ›Faulheit der Primitiven‹. Märchenhaft ist 364

hier der Gegensatz zum ›Weißen Mann‹, der vom ›Wert der Arbeit‹ isoliert ist und sich nicht vorstellen kann, dass der Fortschritt dazu dient, eher die Arbeitszeit zu reduzieren, und nicht um Güter anzuhäufen. Wir könnten diese Beobachtungen als humoristische Anekdoten ansehen, aber sollten wir sie nicht eher als scharfsinnigen Umgang mit Innovation betrachten? Die Rolle des Tabus erlaubt es beispielsweise, soziale Regeln ohne die Notwendigkeit eines repressiven Apparates durchzusetzen. Die Guayaki hatten keine Polizei oder Gendarmerie, um den Austausch von Jagdwild zu überwachen. Dieser wurde alleine aufgrund sozialen Verhaltens geregelt. Die sozialen Regeln wurden hier vollständig in das soziale Verhalten übernommen. Bei den Fang in Gabun (Lévi-Strauss 1962) erfüllte das Verbot dieselbe Funktion. Es war beispielsweise verboten, das Innere des Elfenbeins zu verspeisen, mit der Aussicht, dass man bei Übertretung des Verbots miterleben würde, wie das eigene Geschlecht so weich werden würde wie das Zahnfleisch eines Dickhäuters. Dieses Tabu schützt nunmehr auch den Elefanten. So wie am Beispiel der Guayaki sehen wir den Irrglauben des ›Weißen Mannes‹ bei vielen Begebenheiten. Der Tod des Kapitän Cook (Boulay 2000) ist ein herausragendes Beispiel. Cook erreichte Hawaii zum ersten Mal im Januar 1778, während des Monofestes zu Ehren des Gottes der Fruchtbarkeit. Cook besuchte die Inseln 1779 ein zweites Mal, wieder zu der Zeit der Feierlichkeiten für Mono im Januar. Für die Autochthonen/Ersten Völker war das Zeichen eindeutig: Da Cook stets zu diesem Zeitpunkt erschien, war er mit der Gottheit verbunden. Er wurde nun mit allen Ehren empfangen, wie ein lebendiger Gott. Er wurde in ein fantastisches, rotes Gewand gekleidet, das eigentlich nur den Göttern vorbehalten war. Cook hingegen interpretierte das Ritual als eine herzliche Willkommenszeremonie. Als die Feier zu Ende ging, setzte Cook die Segel und verließ den Küstenstrich. Er besuchte die Inseln Anfang Januar und verließ die Inseln Ende des gleichen Monats – für die Bewohner ein Beweis seiner göttlichen Herkunft. Er müsste nunmehr im Januar 1780 wiederkehren. Alles hätte so weitergehen können, jedoch havarierte Cooks Flotte und so beschloss er, für die Reparatur nach Hawaii zurückzukehren. So ging Cook ohne Überleitung von einem verehrten Gott über zu einem einfachen Sterblichen, ein Sakrileg in den Augen der Lokalbevölkerung. Am 14. Februar 1779, wurde er von einem Diener des Mono erstochen, um die göttliche Ordnung wiederherzustellen.

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Hier wird deutlich, wie der ›Weiße Mann‹ die Geschichte dieser Völker aufgrund von mangelndem Verständnis ihrer sozialen Regeln durcheinanderwirft, und am Ende gar eine schlecht erdachte Hierarchie errichtet, die durch die Prinzipien des Kolonialismus geleitet ist. Jedoch sollten wir uns nicht darüber täuschen, dass von Zeit zu Zeit, auch dieser gleiche ›Weiße Mann‹, sich für beeindruckende Lösungen der Menschen vor Ort begeistern kann. Die amerikanische Armee beobachtete die Aymara (Lévi-Strauss 1962) auf den Hochplateaus Boliviens und sie bemerkten, dass Letztere eine aus ihrer Sicht merkwürdige Technik anwandten, um Lebensmittel zu dehydrieren, um diese zu konservieren und das Volumen für den Transport zu reduzieren. Die Soldaten passten die Technik an ihre Bedürfnisse an und lösten so ein großes Problem, wie man Lebensmittelrationen im militärischen Alltag verkleinern könne. Wir sehen hier, dass von Zeit zu Zeit die indigenen Völker die industrielle Welt inspirieren können. Aber wie steht es um die Weisheit, die nun das Überleben dieser Völker sichert? Der Indianerhäuptling der Sioux Sitting Bull (MacLuhan 2011) hielt bei Sonnenaufgang Zwiegespräch mit der Natur, wobei er seine nackten Füße im Morgentau wusch. Da sagte er folgende einfache Poesie zur Erklärung der Jahreszeiten auf: »Schaut, der Frühling ist gekommen, die Sonne hat die Erde geküsst, und wir werden alsbald die Früchte dieser Liebe sehen.« – Heute scheint die Nachricht dieses Gedichtes nur schwer Gehör zu finden. Dabei hätte sie eine wunderbare Nützlichkeit, damit die Ökonomen ein Gleichgewicht zwischen unseren Bedürfnissen und dem Respekt der Natur finden. Die Yurok (Lévi-Strauss 1962) etwa schlugen niemals Holz, um es zu verfeuern. Es wurde nur totes Holz verfeuert. Diese Regeln zu brechen, käme einem ›Kannibalismus‹ an der pflanzlichen Welt gleich. Die Diskrepanz unserer Modernität verschleiert zweifellos die Realität unserer Einstellung gegenüber den Indianern Amerikas. 1869 bemerkt Sitting Bull scharfsinnig: Der weiße Mann respektiert seine Schriften nicht. Er bricht seine Verträge, ignoriert Absprachen, vergisst seine Versprechen in Bezug auf das indianische Territorium. Wir finden diese Unterschriften zweifelhaft, die Schrift ist das Werkzeug des Lügners, wir, die das gesprochene Wort für heilig erachten.

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Zu einer Zeit, in der alles auf der Schrift basiert (auch scheint heute die Bedeutung der Schrift durch die Neuerung der Virtualität kaum erschüttert), setzt das Wort, das uns von Forschern und Ethnologen übermittelt wird, eine orale Tradition in den Vordergrund, die getragen wird von Imagination und Vernunft. Als ein Indianer der Cree in Quebec versuchte (Lévi-Strauss 1962), die Regierung zu treffen, schickten ihn die Bürokraten von Büro zu Büro, von Beamten zu Beamten und seine Suche blieb erfolglos. Dies verwunderte ihn jedoch nicht, denn er wusste, dass die Mächte, die die Welt regieren, dem Menschen unbekannt sind. Er sah darin die Bestätigung, dass eben die ›wahren‹ Regierungen unsichtbar bleiben. Die Macht von Gegenwärtigkeit und Stille formen mitunter die Einheit einer Gruppe. Viele Männer und Frauen engagieren sich in der Politik und könnten sich dabei von den Mossi in Burkina Faso inspirieren lassen.6 Wenn dort ein Konflikt aufkommt, versammelt der Dorfvorsteher die Männer unter dem Palaverbaum auf dem zentralen Dorfplatz. Alle reden durcheinander und stellen Fragen. Nur der Vorsteher schweigt und behält sich vor, als Schiedsrichter zu intervenieren und zu richten. Er scheint nur dazu da zu sein, das Wort ›herumgehen‹ zu lassen. Er interveniert nicht, denn er könne so möglicherweise Dorfbewohner ausgrenzen. Und letztlich würde er damit Gefahr laufen, die Gruppe zu schwächen. Das Wichtigste für ihn ist es nicht, zwischen verschiedenen Standpunkten zu wählen, sondern die Einheit der Dorfgemeinschaft zu erhalten. Daher lässt er das Dorf so lange reden, bis sich ein gemeinsamer Diskurs verfestigt hat, damit er die Kohäsion der Gruppe wieder erreicht. Sind die Mossi vielleicht letztlich die Erfinder der Verständigung auf der Suche nach Konsens? Der Verlust des Wertes der Stille ist ähnlich dem Verlust des Wertes der Worte. Dabei ist das, was wir ›Globalisierung‹ nennen, nicht nur ein ökonomischer, sondern auch ein kultureller Prozess. Wir riskieren hier zunehmend, einzelne Lebensbereiche und tieferes Wissen zu verlieren. Amadou Hampâté Bâ (2000) bemerkt, dass der ›Weiße Mann‹ ganz im Gegensatz zu den Peul abstrakte Begriffe benutzt, um die Natur zu beschreiben. Er ist Schriftsteller und Ethnologe aus Mali und gilt als Verteidiger oraler Tradition.

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Basiert auf einem Gespräch mit Boulard. Die Originalquelle konnte bis zur Drucklegung nicht benannt werden.

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Sie reden von Bäumen, aber kennen nicht die einzelnen Namen von Bäumen. Sie reden von Vögeln, aber kennen nicht die Namen der Vögel. Sie sprechen von Pflanzen, kennen aber wiederum nicht die einzelnen Namen der Pflanzen. Für die Peul heißt, einem einzelnen Baum einen Namen geben, jedem Vogel und jeder Pflanze, das heißt die Natur in all ihrer Vielfältigkeit anzuerkennen, in all ihrem Reichtum. Das ist die Voraussetzung für den Respekt. Das Centre de Ressources des Peuples Premiers studiert die Schriften von Reisenden, Forscherinnen und Forschern bzw. Ethnologinnen und Ethnologen nicht nur, um Kulturen, die uns oft vielleicht ›überholt‹ erscheinen, besser kennenzulernen, sondern auch um selbst eine Rolle in dieser feinen Wahrnehmung des Wandels der Gesellschaft einzunehmen, in welcher politische Konzepte wie Toleranz, Verschiedenartigkeit und Kohäsion in so großen Bereichen wie Bildung, Urbanismus, ökonomische Mechanismen integriert werden müssen, aber auch um die Relevanz in diesen Schriften zu finden, die einen positiven Inhalt zu unserer kollektiven Reflexion über unsere eigenen Kulturen des 21. Jahrhunderts beitragen kann. Ohne einen Anspruch auf fertige Antworten zu verfolgen, sollte, diese Suche von Ernsthaftigkeit aber auch von Humor geprägt sein, um glaubhaft zu werden. Und der Verlust von Orientierung in unserer modernen Welt soll dabei eine konstruktive Schnittstelle in dieser langwierigen Recherche darstellen. Das veränderte Verhalten der heutigen Jugend ist ein Punkt, der uns sehr interessiert hat und den man mit dem Verlust von Übergangsriten (van Gennep 1909) in Verbindung bringen kann. Alle Ersten Völker praktizieren Übergangsriten, die das Ende der Kindheit und den Beginn des Erwachsenenlebens markieren. Diese Rituale können komplex sein und beinhalten immer eine Art Mutprobe, der fast immer dieselben Motive zu Grunde liegen: den Schmerz überwinden, Einsamkeit aushalten, Versuchungen widerstehen, Schweigen lernen, Überlebensregeln kennen, unempfindsam gegenüber Hohn oder Spott sein, die Fähigkeit erlernen, bestimmte Episoden seines Lebens aus dem Gedächtnis zu löschen. Unsere Gesellschaften haben praktisch alle Übergangsriten aufgegeben und sich damit begnügt, ein legales Alter festzulegen, an welchem man erwachsen wird. Unsere Gesellschaften, so scheint es, beantworten nicht mehr folgende essentielle Fragen: Wie wird man erwachsen? Wann verlässt 368

man den Status des Minderjährigen? Welche Verantwortung beinhaltet der Übergang ins Erwachsenenalter? Könnte eine Wiederentdeckung von Übergangsriten nicht eine Antwort auf diese Frage sein? Wir sehen hier sehr gut, dass die Frage nach der Stellung der Schule beleuchtet werden muss. Wir wissen aus der Literatur, dass einige Übergangsrituale über einen sehr langen Zeitraum verlaufen können. Die Schulzeit, die in unserer Kultur etwa zwölf Jahre dauert, steht diesen Übergangsriten, die uns oft so merkwürdig erscheinen, nicht nach. Die Frage ist, die man also stellen muss, wie man diesem Übergangsritual ›Schule‹ eine klare Bedeutung geben kann? Wir haben auch über Humor geredet. Betrachten wir nun einige außergewöhnliche Beobachtungen und versuchen wir, deren Relevanz zu ergründen. Zum Phänomen des Tabus haben wir sehr über eine Geschichte gelacht, die eine Begegnung zwischen einem jungen Reisenden und einem Chef der Papua wiedergibt.7 ›Man muss alle Tabus verwerfen‹ bekräftigte dieser Junge, überzeugt, dass diese eine Gesellschaft erstarren ließen. ›Sind Sie sich da sicher?‹ fragte der alte Häuptling. ›Ja, um uns zu befreien, müssen wir alle Tabus verbieten.‹ ›Sehr, sehr gut‹, antwortete der Chef und fuhr fort: ›Um diese Idee zu feiern, lade ich Sie zu unserem gemeinsamen Essen ein, ein Katzenragout, gefolgt von einem Hundebraten!‹ Der junge Reisende, der alle Tabus verbannen wollte, lehnte mit viel Höflichkeit die Einladung ab, mit dem Häuptling zu speisen. Ähnlich geht es in einer Geschichte über Etymologie in der Sprache der Yoruba zu (Lévi-Strauss 1964). In ihrer Sprache bezeichnet das gleiche Wort jeweils ›essen‹ und ›heiraten‹. Es ist gleichermaßen kurios, dass laut kanonischem Recht der Papst eine Ehe annullieren kann, wenn nicht gespeist wurde. Wie bei den Yoruba erlaubt es die Kirche nicht, zu heiraten ohne zu essen … Ebenso solle man vermeiden, eine zu rohe Sprache zu verwenden. Das würde andere schockieren. Die Kunst der Konversation bestehe darin, die Worte vorher zu kochen, sie brauchbar zu machen für die Anwendung. Die Indianer Südamerikas lehren uns, die Worte zu kochen (Lévi-Strauss 1964). 7

Siehe Fußnote 6.

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Wir alle kennen die lehrreichen Fabeln von Jean de la Fontaine (16211695). Schauen wir auch einmal auf die Mythen der Ersten Völker. In deren Geschichten finden wir die gleichen Prinzipien von Vernunft und List. Wir lachen leichten Herzens darüber, aber sind sie in ihrer moralischen Richtigkeit noch aktuell oder klingen sie zu einfach und zu unpassend? Dabei könnten einige dieser Fabeln sogar einige Strategen in der Geopolitik inspirieren. So gibt es bei den Munducurú in Brasilien die Mythe vom Jaguar, vom Krokodil und von der Schildkröte (Tavares de Andrade 2013). Die Affen luden eine Schildkröte ein, mit ihnen Früchte in der Krone eines Baumes zu essen. Sie halfen ihr, bis nach ganz oben in den Baum zu steigen, um sie dann dort allein zurückzulassen. Ein Jaguar kam des Weges und bot ihr seine Hilfe an, um von dem Baum herunterzusteigen. Die Schildkröte lehnte ab. Der Jaguar beschloss an Ort und Stelle zu bleiben, und die Schildkröte stets im Auge zu behalten. Doch schließlich ermüdete ihn das viele Warten und er senkte den Kopf. Als die Schildkröte das sah, ließ sie sich in ihrem Panzer hinunterfallen und spaltete den Kopf des Jaguars. Sie aß den Jaguar auf und machte aus seinen Knochen eine Flöte, auf der sie spielte und ihren Erfolg feierte. Natürlich ist jeder frei, die richtige Moral der Geschichte herauszufinden. Wir sehen, dass die Beobachtung von Ergebnisberichten aus dem Feld eine gewisse Anzahl von durchschlagenden Beispielen bringt, mit denen wir über unsere sogenannte moderne Gesellschaft nachdenken können. An diesem Punkt fordert Jean-Claude Boulard, der Politiker, ganz richtig eine Annäherung zwischen seinen Kolleginnen und Kollegen aus der Politik bzw. Ethnologinnen und Ethnologen, solange noch Zeit dazu ist ist. Gerne erzählt er etwa die Geschichte, warum die Inuit (nach Malaurie 2001) den Tod erfunden haben. Diese Geschichte ist eine Mythe, die unseren eigenen Überlegungen zur demographischen Entwicklung der heutigen Zeit einen Sinn gibt. Vor langer Zeit, vor sehr langer Zeit gab es bei den Inuit noch keinen Tod. Aber die Zahl der Menschen hörte nicht auf zu steigen und zu steigen und so drohte die schwimmende Insel, auf der sie lebten, zu versinken. Die Überbevölkerung bedrohte nun das Überleben der Inuit. 370

Glücklicherweise, in einer Polarnacht, schallte der Schrei einer alten Schamanenfrau über das Packeis. Diese Stimme beschwor einen Namen, der bis dahin unbekannt war: Tod! Hiermit erfunden, machte sich der Tod sofort daran, das Volk der Inuit zu retten. Über diese Legende der Inuit nachzudenken, ist sicher nützlich in einem Moment, wo die Bevölkerung auf der ›schwimmenden Insel Erde‹ zu sinken droht, da sie von 6 Milliarden auf 9 Milliarden anwächst. Eine Reflexion sei berechtigt, gerade unter der Annahme, dass auch demographische Regulation Kriege ersetzen kann. Wenn man das Engagement Mark Münzels kennt, auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Recherche ebenso wie auf dem politischen Gebiet zum Genozid an den Aché-Indianern in Paraguay, wenn man seine Vorliebe für Humor schätzt, der ihm die nötige Distanz zu allen Problemen des Lebens schafft, kann man nachvollziehen, dass er sich für ein solches Projekt wie das Centre de Ressources des Peuples Premiers begeistert. Die Begegnung der beiden Männer, Münzel und Boulard, war für mich sehr inspirierend und motivierte mich, meine Fußstapfen in die ihrigen zu setzen. Die Paläontologin Mary Leakey8 entdeckte in Tansania Fußabdrücke von zwei Erwachsenen und einem Kind in versteinerter vulkanischer Asche. Diese Abdrücke, zwei Millionen Jahre alt, zeigen, dass der zweite Erwachsene aufmerksam seine Füße in die Spuren des Vorgängers setzte. Diese erste der Menschheit bekannte Spur ist auch jene eines Weges, des Unsrigen. Das einzige Problem ist, dass die Fußspuren sich zu einem festen Weg vertiefen. Dazu wird ein Sicherheitssystem errichtet, um uns gegen die Banditen des ›großen Weges‹ zu schützen. Also erfinden wir Nutzungsregeln und mit der Zeit erwachsen die Themen Recht und Macht. Damit die Studien der Ethnologinnen und Ethnologen nützlich sind, ist es notwendig und dringlich, dass ihre Schriften und Worte den politischen Entscheidungsträgern zugetragen werden, um Wege des Lebens und Überlebens zu finden, vorgezeichnet von den Ersten Völkern.

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Siehe http://humanorigins.si.edu/evidence/behavior/footprints/laetoli-footprint-trails (12.03.2018).

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Es ist Zeit, dass ich mich für ein wenig Erholung und einige Überlegungen in meine Hängematte lege, hängend zwischen Himmel und Erde in dieser herrlichen indianischen Erfindung. Literatur Boulay, Roger 2000. Kannibals et Vahinés: Imagerie des Mers du Sud. La Tour d’Aigues: Ed. de l’Aube. Clastres, Pierre 1972. Chronique des Indiens Guayaki. Paris: Plon. Hampate Bâ, Amadou 2000. Amkoullel l’Enfant Peul. Paris: Editions 84. Lévi-Strauss, Claude 1962. La Pensée Sauvage. Paris: Plon. ―― 1964. Mythologiques I: Le Cru et le Cuit. Paris: Plon. Malaurie, Jean 2001. Les Derniers Rois de Thulé. Paris: Terres Humaines. McLuhan, Teresa Carolyn 2011 [1974]. Pieds Nus sur la Terre Sacrée. Paris: Denoël. Tavares de Andrade, JoséMaria 2013. Magie, Ethnomédecine et Religiosité au Brésil. Paris: L’Harmattan. Van Gennep, Arnold 1909. Les Rites de Passage. Paris: Nourry.

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Andrea Beutlhauser

Die Gesänge der N’uritá

Prolog Denn das Verstehen ist kein Zusammentreffen der Vorstellungsweisen in einem unteilbaren Punkt, sondern ein Zusammentreffen von Gedankensphären, von welchen der allgemeine Teil sich deckt, der individuelle überragt. Dadurch wird das geistige Fortschreiten des Menschengeschlechts möglich, indem jede gewonnene Erweiterung des Denkens in den Besitz anderer übergehen kann, ohne in ihnen der Freiheit Fesseln anzulegen, welche zur Aneignung und zu neuer Erweiterung notwendig ist. Wilhelm von Humboldt (1839) Sonntag, 31. Januar und Dienstag, 2. Februar 1943. Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad. Die monatelang geführte Schlacht um die Stadt kostet am Ende über 700.000 Menschen das Leben. Mittwoch/Donnerstag, 3./4. Februar 1943. Tagebucheinträge von Pastor Friedrich Karl Doering aus Brüel/Mecklenburg, Artillerie-Leutnant der Reserve an der Ostfront, Russland, bei Demjansk, später Pawlowo und Jeremejewo, in der Oblast Nowgorod: »Militärische Rückschläge. 16 h Die Meldung aus dem Führerhauptquartier wegen Stalingrad. Erschütternd, die Gestaltung der Meldung und das Lied ›Lied vom guten Kameraden‹. Wen das nicht erschüttert hat, muß ein Herz aus Stein haben. Ich glaube ja auch, daß Deutschland hierdurch aufgerüttelt wird. Werden nicht ganze Bevölkerungsstriche, aus denen die VI. Armee stammt, ziemlich von Männern entblößt sein? … Wie gemütlich ist es bei mir im Bunker, zumal wenn das Radiogerät hier steht. Ich höre, während ich schreibe und lese, Kammermusik und Symphoniekonzert. Wir haben heute verschiedene Feuerüberfälle geschossen, um dem Russen einen kleinen Eindruck zu vermitteln, 373

wie er sich zu verhalten hat. Ich lese, bei einem Konzert von Vivaldi« (Doering 2013: 367-368). Donnerstag, 18. Februar 1943. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels proklamiert vor 3.000 frenetisch jubelnden Anwesenden in Berlin den ›totalen Krieg‹. Einen Tag später schreibt er in sein Tagebuch: »Magda ist auch im Sportpalast gewesen und hat Helga und Hilde mitgenommen … Ich freue mich, daß unsere Kinder schon in so jungen Jahren in die Politik hineingeführt werden. Das kann ihnen für ihr späteres Leben nur dienlich sein … Hoffentlich wird das Wort wahr, das ich an den Schluß meiner Rede gestellt habe: ›Nun, Volk steh auf und Sturm brich los!‹« (Reuth 1999: 1899-1900). Samstag, 20. Februar 1943. Im mexikanischen Bundesstaat Michoacán, 20 Kilometer von der Stadt Uruapan entfernt, arbeiten der Bauer Dionisio Pulido und seine Frau Paula auf ihrem Maisfeld, als sich vor ihnen ein Spalt im Boden öffnet, aus dem es brodelt und zischt. »¡Híjole! Mein Gott!«, ruft Dionisio, Paula bekreuzigt sich. Voller Angst beobachten sie, wie der Spalt immer größer wird und unter schüttelnden Bewegungen Erdschichten emporgeschoben werden. Mehr als zwei Meter hoch ist der Hügel schon nach kurzer Zeit; rotglühende Schlacke und Steinbrocken schießen fauchend aus seinem Inneren. Die Funken brennen Dionisio winzige Löcher in seinen Kittel, versengen Paulas Hut. Für die beiden ist dies ohne Zweifel ein dämonischer Gruß aus der Unterwelt, das reinste Hexenwerk, welches auch der herbeigerufene Pfarrer mithilfe von Gebeten und Weihwasser nicht vertreiben kann. »¡Virgen Santísima, ayúdame!« Doch die heilige Gottesmutter verwehrt den Menschen ihren Beistand; am folgenden Morgen ist der Aschekegel bereits zehn Meter hoch, und er wächst stündlich weiter. Geologen aus aller Welt reisen an, um den Paricutín, wie er nach einem Dorf in der Nähe benannt wird, zu erforschen. Im März 1944 hat er eine Höhe von über 300 Metern erreicht – der Vulkan lässt heiße Asche auf die Felder und Dörfer regnen, träge Lavaströme ergießen sich aus seinem Schlund und zerstören in diesem Jahr den kleinen Ort San Juan Parangaricutiro vollständig; lediglich der Kirchturm ragt aus der erstarrten schwarzen Masse hervor. Am Ende beschützt die Gottesmutter doch noch ihre Kinder: Niemand kommt ums Leben. Montag, 22. Februar 1943. Sophie und Hans Scholl werden in München vor dem Volksgerichtshof durch Roland Freisler wegen ›Wehrkraftzersetzung‹, ›Feindbegünstigung‹ und ›Vorbereitung zum Hochverrat‹ zum Tode verurteilt und noch am selben Tag hingerichtet. 374

Montag/Dienstag, 1./2. März 1943. Die 1773 geweihte und der Güte des Königs Friedrich zu verdankende St.-Hedwigs-Kathedrale in Berlin brennt in der Nacht zum 2. März fast vollständig aus. Der nach Skizzen Friedrichs des Großen und Plänen des königlichen Architekten Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff errichtete Kirchenbau sollte den katholischen Bewohnern Berlins aus Schlesien dienen und erhielt daher den Namen der Schutzpatronin der Schlesier, Hedwig von Andechs, eine Tante der Elisabeth von Thüringen. Bei dem nächtlichen Luftangriff der Alliierten trifft eine Brandbombe die Kathedrale; sie durchschlägt die hölzerne Kuppelkonstruktion, deren herabstürzende, brennende Teile den marmornen Fußboden zertrümmern. Altar und Innenraum werden fast komplett zerstört. Ein einziges Foto dokumentiert diesen Moment: Im nächtlichen Flammenschein hebt sich die Skulptur der Hl. Hedwig auf der Spitze des Giebels, flankiert von einem Engel und der personifizierten Nächstenliebe, dunkel und scharf umrissen gegen den rauchgrauen Himmel ab. Hinter ihr sind Kreuz, Rotunde und Kuppel bereits eingestürzt und zu Asche verbrannt. Donnerstag, 4. März 1943. Tagebucheintrag Friedrich Karl Doering: »Sehr ruhiger Tag, wurde benutzt zum Saunieren und Instandsetzung der Kleidung und des Geräts. Gelesen und geschrieben. Wir warten auf den Abmarschbefehl« (Doering 2013: 381). Freitag, 5. März 1943. Knapp vier Wochen nach der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad findet die Uraufführung des Spielfilms ›Münchhausen‹ im Berliner Ufa-Palast statt; Erich Kästner – obwohl mit einem Schreibverbot belegt – hatte mit einer Sondergenehmigung Joseph Goebbels‘ das Drehbuch verfasst. Bis auf wenige Außenaufnahmen in Venedig wurden die Dreharbeiten 1942 in den Babelsberger Filmstudios in Potsdam vorgenommen. Sonntag, 7. März 1943. Tagebucheintrag der schwedischen Kinder- und Jugendbuchautorin Astrid Lindgren: »Keine größeren Neuigkeiten zu berichten. Besonders merkwürdig die totale Umgestaltung der deutschen Wirtschaft, die alles [Herv. i. O.] Kriegszwecken unterordnet. In den besetzten Ländern fängt man an, ebenso zu verfahren. In diesen Tagen hat es einen heftigen englischen Bombenangriff auf Berlin gegeben, wobei unter anderem Zarah Leanders Villa total zerstört wurde. Viele Hundert Todesopfer … Karin [Lindgrens Tochter] hat bei der letzten Gewichtskontrolle 1 kg zugenommen und wiegt jetzt 29 kg« (Lindgren 2015: 226).

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Sonntag, 28. März 1943. Der 1873 geborene russisch-US-amerikanische Komponist, Pianist und Dirigent Sergej W. Rachmaninow stirbt in Beverly Hills. Montag, 29. März 1943. Aus Dresden werden 32 jüdische Menschen nach Theresienstadt deportiert und kommen noch am selben Tag dort an. Montag, 29. März 1943. Tagebucheintrag Friedrich Karl Doering: »Zeit um eine Stunde vorgerückt. Wecken vorläufig um 6 h, sonst ist es noch zu dunkel. Kapitulanten zum Kursus. Päckchen verschickt. Aufsätze (Erlebnisberichte) durchgesehen. Tagebuch aufgearbeitet vom 25.II. an. Eine Heidenarbeit, aber es muß ja geschehen. Denn Erika freut sich doch sehr darauf! Ich ordne an, daß täglich von 17 – 19 h der Radioapparat zu mir gebracht wird, damit ich die gute Musik hören kann. Und es lohnt sich tatsächlich: ›Andante favorit‹ f-dur [sic] von L. v. Beethoven, gespielt von Elly Ney, Konzert für Cello und Orchester von Schumann, Solist Hoelscher!« (Doering 2013: 389). Montag, 29. März 1943. Geburt von Mark Münzel in Potsdam. Beginn der Sommerzeit; über Berlin und Potsdam ist es bewölkt, aber trocken, die Temperatur beträgt tagsüber um die neun Grad. Samstag, 14. April 1945: ›Bombennacht von Potsdam‹. Am späten Abend werfen britische Lancaster-Flugzeuge etwa 1.700 Tonnen Bomben auf die Stadt ab. Der Angriff dauert eine knappe halbe Stunde. 1.593 Potsdamer kommen ums Leben, 60.000 Menschen werden obdachlos, fast 1.000 Gebäude in der Innenstadt völlig zerstört. Flammen von Nachbargebäuden greifen auf den Turm der Garnisonskirche über; durch die Hitze beginnen die Glocken zu läuten, zum letzten Mal, dann stürzt der Turm zusammen. In Reisebeschreibungen lesen wir oft von dem Schweigen und Düster der brasilianischen Wälder. Dieses ist in der Tat vorhanden, und je länger man hier verweilt, desto mehr befestigt sich dieser Eindruck. Die wenigen Laute, welche die Vögel von sich geben, haben etwas so Schwermütiges und Geheimnisvolles, daß sie mehr das Gefühl der Einsamkeit erhöhen, als das des Lebens und der Munterkeit erwecken. Henry Walter Bates (1924)

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Laut manchen Legenden ist der Gesang des Uirapuru so lieblich, dass alle anderen Tiere des Waldes verstummen, wenn er sein Lied anstimmt. Gastão Cruls (1976) 1. Gesang Dienstag, 1. November 1966. Unsere erste Reise nach Brasilien. Wir werden viele Monate fort sein; unsere Wohnung ist untervermietet, die privaten Dinge bei meinen Eltern eingelagert. Christine ist übermütig und voller Vorfreude, ich habe Reisefieber und kontrolliere ständig die Unterlagen, die Tickets und Karten. Von Frankfurt aus reisen wir mit dem Zug nach Paris und verbringen vor der Abfahrt noch eine Woche bei Christines Eltern. Mittwoch, 2. November 1966. Wir besuchen ein Konzert im Salle Pleyel: das Requiem von Berlioz mit dem deutschen Tenor Ellenbeck, dem Orchestre Philharmonique des Office de Radiodiffusion Télévision Française und dem Düsseldorfer Chor. Mein Schwiegervater hat die Karten besorgt – die musikalische deutsch-französische Koproduktion scheint sein kultureller Fingerzeig auf unsere kürzlich geschlossene Ehe zu sein. Freitag, 4. November 1966. Eine Verabredung mit Claude Lévi-Strauss! Heute Morgen rief ich kurzentschlossen im Collège de France an und stellte mich leicht flunkernd als ›junger Forscher und Ethnologe‹ vor, der den ›großen‹ Professor treffen möchte, um hilfreiche Hinweise für eine Amazonas-Reise zu bekommen. Zu meiner Verwunderung erhalte ich einen Gesprächstermin um 14 Uhr. Auf dem Flur laufe ich nervös auf und ab. Er lässt mich eine halbe Stunde warten, ist dann aber sehr liebenswürdig, schenkt chinesischen Tee ein. Ich habe mein zerlesenes Exemplar der ›Tristes Tropiques‹ dabei, das er mir signiert. In seinem Arbeitszimmer Tausende Bände Literatur aller Art; ich beneide ihn um seine Sammlung und nehme mir vor, zukünftig mehr Bücher zu kaufen. Als ich ihm erzähle, dass ich in wenigen Tagen nach Brasilien aufbreche, um bei den N’uritá zu forschen und anschließend ein halbes Jahr in Recife zu studieren, zieht er die Augenbrauen hoch. »Sie Ärmster!«, ruft er. »Im Amazonas gibt es nur traurige Menschen, Mücken und unerträgliche Hitze. Und was wollen Sie dort noch finden? Es ist ja längst zu spät. Man kann bis ans Ende der Welt laufen und ist doch nur enttäuscht über das, was man vorfindet.« Ich sehe 377

nun selbst wohl völlig enttäuscht aus, ohne bis ans Ende der Welt gelaufen zu sein, denn er klopft mir tröstend auf die Schulter und sagt: »Aber dennoch, junger Mann. Machen Sie rasch Ihre Forschung. Die Welt verwildert jeden Tag ein wenig mehr. Kennen Sie die Geschichte, woher die Moskitos kommen? Nein?« Er lächelt. »Menschenfresser gibt es ja heute keine mehr, denn sie wurden vor langer Zeit verbrannt, weil sie zu böse geworden waren, und aus ihrer Asche entstanden die Mücken und andere schädliche Insekten. Mon jeune ami, ich bin nicht sicher, ob es früher nicht besser gewesen ist, mit den Kannibalen.« Samstag, 5. November 1966. Letzte Reisevorbereitungen. Christines Mutter ist ängstlich. Sie glaubt, dass ihrer Tochter schreckliche Dinge zustoßen werden in ›diesem unzivilisierten Urwald‹. Auch ist sie davon überzeugt, dass wir ›kannibalisiert‹ werden, wie sie sich ausdrückt. Ich erkläre ihr, dass die Zeit Hans Stadens vorbei ist und Bilder von Ethnologen oder Missionaren in siedenden Töpfen, die fröhlich von Wilden umtanzt werden, ins Reich der Märchen einzuordnen sind, zumindest heutzutage. Ich erzähle ihr Lévi-Strauss‘ Mythe von den Mücken. Ich sage: »Madame, ohne Ihre Tochter würde ich es gar nicht wagen, diese Reise anzutreten. Sie ist viel mutiger als ich.« Meine Schwiegermutter sieht mich skeptisch an und hält Christine zum dritten Mal an diesem Tag einen Vortrag über Malaria. Dienstag, 8. November 1966. Abschied von Christines Eltern. Wir fahren mit dem Zug nach Marseille und gehen am Abend an Bord des Passagierund Frachtschiffes ›Lillois‹ der Compagnie Maritime Croiset, die einen Liniendienst nach Südamerika betreibt. Wir reisen III. Klasse nach São Paulo, um das Budget der Stiftung nicht zu sehr zu strapazieren. Ich hoffe sehr, nicht seekrank zu werden. Sonntag, 13. November 1966. Höchst interessante Unterhaltung mit einem Mitreisenden, Pater Josef Franz Mohr, der als Missionar in den Amazonas unterwegs ist. Er horcht auf, als ich ihm meinen Namen nenne – »den habe ich schon mal gehört!« –, und erzählt mir, dass ihn die Kriegswirren zusammen mit seiner Mutter als Kind einige Jahre an den Rhein verschlagen hätten, nach Kesselheim bei Koblenz, wo ein Onkel seines Vaters lebte. »In der Volksschule wurden uns die Namen der im Ersten und Zweiten Weltkrieg vermissten und gefallenen Soldaten vom Lehrer oft vorgelesen.« Mir ist neu, dass ich Verwandte am Rhein haben könnte, und so lausche ich Pater Mohr, der ein bärenhaft aussehender Mann mit tiefer, volltönender Stimme ist, mit großem Vergnügen. Ich notiere: Karl Münzel, Musketier in einem Reserve-Infanterie-Regiment im Ersten Weltkrieg; 1915 bei Gefechten leicht 378

verwundet; Rückkehr nach Kesselheim. Brüder Stephan und Peter gefallen. Karls Söhne Peter und Fritz im Zweiten Weltkrieg gefallen. Ich liege abends in der Koje und denke an die unbekannten Münzels. Ein seltsamer Zufall. Ein Bezug zu meiner Reise in den Amazonas, wo ich die Verwandtschaftsstrukturen der N’uritá erforschen will, neben all den anderen Dingen, die mich interessieren, ihre Mythen und Geschichten, ihre Gesänge und Lieder, ihre Riten und Zeremonien? Ich lese viel – die Brasilien-Klassiker von Theodor Koch-Grünberg und Karl von den Steinen – und bekämpfe so meine anhaltend leichte Übelkeit auf See. 2. Gesang Samstag, 26. November 1966. Seit einigen Tagen in São Paulo. Eine Stadt voller Menschen, die ständig unterwegs zu sein scheinen. Brummend und summend bewegen sich die Massen. Ein riesiger Termitenhaufen. Überall wird gebaut, metallischer Lärm, sich reckende, umherschwenkende Kräne, Häuser wachsen in die Höhe, überragen alles, was die Natur vorgegeben hat. Das Edifício Copan von Niemeyer, in diesem Jahr endlich fertiggebaut. Im Ibirapuera-Park ein kleines Mädchen mit seiner Mutter, es übt Tanzschritte, hüpfend, trällernd: »Um, dois, três, eu canto como um canário, quatro, cinco, seis, la le la, como um papagaio.« Die Mutter klatscht, ruft strahlend zu Christine und mir herüber: »Habe ich nicht eine wundervolle Tochter?« Wir stimmen ihr zu. Das brasilianische Portugiesisch tropft wie dickflüssiger, süßer Sirup in meine Ohren. Ein warmer Singsang. Autos fahren mit Alkohol statt Benzin, über den Straßen und Bürgersteigen schweben trunkene Wolken. Ich mag und kann nicht lange schreiben, will lieber sehen. Christine fotografiert viel. Morgen reisen wir weiter, vom Flughafen Congonhas aus nach Manaus. Sonntag, 27. November 1966. Den rüttelnden Flug mit leichtem Unwohlsein überstanden. Manaus. Eine wunderschöne Stadt, prächtige Kolonialbauten, die teils dem Verfall überlassen sind. Wir gehen staunend durch die Straßen, laufen an dem weltbekannten Opernhaus vorbei, dessen gelb, grün und blau gekachelte Kuppel in den Himmel ragt. Die Fassade bröckelt, Farbe blättert überall ab. In einer Zeitung lese ich, dass das Teatro Amazonas ab morgen als historisches Denkmal geschützt wird. Christine sagt: »Höchste Zeit!« Es ist seit Jahren geschlossen, erzählt uns ein Händler am Fuße der Treppen; drinnen, in der einstmals prächtigen Haupthalle, 379

sollen Faultiere und anderes Getier in den Logen hausen. »Nur Schutt und Scheiße«, sagt der Mann. Die Faultiere sieht man auch draußen in den urwaldartigen Parks und Grünanlagen, sie hängen träge schaukelnd hoch oben in den dichten Zweigen. Abends fällt die Sonne wie ein Stein vom Himmel, wir schaffen es kaum, den Moment zu erhaschen, wenn sie untergeht. Einen Augenblick lang ist es noch hell, dann stockfinster. Die Äquatornähe! Vor dem Dunkelwerden kreischen in den Bäumen unsichtbare Vögel. Montag, 28. November 1966. Wir treffen unseren Dolmetscher und Begleiter, Floridano Santos. Vier Wochen lang wird er bei uns sein. Er ist 30 Jahre alt und arbeitet als Lehrer und Übersetzer für Linguistik-Professor José Luís Manuel Rossi an der im letzten Jahr neu gegründeten Universidade do Amazonas in Manaus. Prof. Rossi hat keine Zeit für ein Treffen, lässt uns aber durch Floridano, der darauf besteht, mit seinem Vornamen angeredet zu werden, ausrichten, er wünsche uns Glück für die Expedition. Floridano ist gesprächig und freundlich. Dienstag, 29. November 1966. Per Schiff weiter nach Orunduba. Ein trostloser Ort, müde aussehende Frauen mit kleinen Kindern lehnen schweigend an Hauswänden, gelbe, struppige Hunde auf den Straßen, sie durchstöbern den Unrat, der überall herumliegt. Wir sind froh, dass wir nur eine Nacht hierbleiben, in einer winzigen Pousada, die von einer mürrischen Kapitänswitwe geführt wird. Aber das Zimmer ist sauber. Mittwoch, 30. November 1966. Am Morgen auf einem altertümlichen, kleinen Dampfschiff – gebaut in Deutschland! – Richtung Teringues. Eine etwas verlotterte Ansiedlung am Fluss tief im Dschungel, erbaut vor über 50 Jahren von Kautschuksammlern. In Teringues stoßen Jesus und Geraldo zu uns. Sie sind, wie Floridano sagt, ›unsere starken Männer‹. Sie reden nicht viel und tragen neben unserem Gepäck am Gürtel große Macheten, die wir ›dringend‹ brauchen werden. Die beiden – ich halte sie für Brüder – verlangen ihr Geld im Voraus. Dafür bringen sie uns zum Dorf der N’uritá und holen uns einen Monat später (hoffentlich!) wieder dort ab. Donnerstag, 1. Dezember 1966. Aufbruch frühmorgens. Jetzt geht es nur noch zu Fuß weiter, fünf Tagesmärsche lang durch den Wald (die Macheten erweisen sich in der Tat als nützlich), meist am Fluss entlang, nachts schlafen wir unter Moskitonetzen. Ich denke an Lévi-Strauss und seine Geschichte über die Mücken. Es sind wahre Vampire. Das feuchte Klima lockt in der Dämmerung Tausende an, und Christine leidet besonders unter den Stichen, die nicht vollständig zu vermeiden sind, obwohl wir uns 380

mit übelriechendem Schutzmittel einreiben und langärmelige Kleidung tragen, trotz der schier erstickenden Hitze. Sämtliches Papier wellt sich, meine Notizbücher lösen sich am Rand auf, bekommen braune Flecken. Obwohl erst vor einigen Wochen in einem Frankfurter Schreibwarengeschäft erworben, haben sie nun ein antikes Aussehen, als stammten sie von meinem Großvater oder jenem Karl Münzel, dem Musketier im Ersten Weltkrieg. Mein von Lévi-Strauss signiertes Exemplar der ›Traurigen Tropen‹, das ich unsinnigerweise auf der gesamten Reise mit mir umherschleppe, mutet inzwischen wie ein Artefakt uralter Zeiten an. Floridano und die beiden stillen Begleiter Jesus und Geraldo (ihre Nachnamen wollen sie uns nicht sagen) ertragen die Hitze allerdings, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Jeder Stoiker wäre begeistert von ihrer Langmut. Zu meiner Überraschung singt Jesus abends immer wieder ein und dasselbe Lied im für mich schwer verständlichen hiesigen Dialekt. Es handelt laut Floridano, der mir das nur widerwillig erzählt, weil er es für ›vulgär‹ hält, von einem ›schönen jungen Mädchen, das sich nackt im Fluss wäscht‹. Mehr will er mir über den Text nicht verraten. Freitag, 2. Dezember 1966. Im Wald tropft es unablässig von den Bäumen, warm und milchig. Die Kleidung ist feucht, die Haare, die Haut. Unsere Füße quellen in den Stiefeln auf und schmerzen. Affen haben es da besser. Wir sehen sie elegant durch die Äste springen, in großen Gruppen, abends veranstalten sie infernalische Brüllkonzerte. Vögel hört man kaum. Einen entsetzlichen Schrecken hat uns ein tierischer Besucher eingejagt, der gestern Nacht mit orange leuchtenden Augen durch das Moskitonetz starrte. Im Schein der Taschenlampe wich das kleine Äffchen zurück, sein Gesicht sah erstaunt und ein wenig melancholisch aus. Sonntag, 4. Dezember 1966. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht denke, dass unsere Begleiter mich lediglich für einen verrückten ›Gringo‹ halten, der zu viel Geld hat und zu viele dumme Fragen stellt, zu Dingen, die für sie selbstverständlich sind und an die sie keinen Gedanken verschwenden. Ich zweifle an der gesamten Reise. Hätte ich einen Tropenhelm auf, wäre ich vermutlich nicht besser als Livingstone. Aber machen der fehlende Tropenhelm und meine hehren Absichten wirklich einen besseren Menschen, einen besseren Forscher aus mir? Wohl kaum. Als ich Jesus und Geraldo vorgestern fragte, ob sie Brüder seien – denn sie sehen sich ähnlich und schweigen auf dieselbe, hartnäckige Weise –, kicherten sie und flüsterten miteinander, als ob sie erst beraten müssten, mir dieses Geheimnis anzuvertrauen. Dann ließen sie mich wortlos stehen. Heute – ich hatte 381

meine Frage längst vergessen – zupft mich Geraldo am Ärmel und sagt: »Meine Frau ist die Schwester von Jesus‘ Frau.« Offenbar erklärt das einiges, ich weiß nur nicht, was, und bin zu verblüfft, um etwas zu erwidern. Floridano sagt kopfschüttelnd: »Was soll man machen? Es sind dumme Menschen, stark, aber dumm. Sie können nicht einmal lesen.« Floridano hingegen kann lesen und schreiben, er unterrichtet Kinder, wenn er keine andere Arbeit hat. Er will uns gefallen, möchte viel von seinem Wissen preisgeben. Immer wieder erzählt er von seiner Mutter, einer N’uritá. Sein Vater war Kautschuksammler, der ihn als Kind mit nach Manaus nahm, wo er zur Schule ging. Erst als junger Mann kehrte er ins Dorf seiner Mutter zurück, ihre Sprache musste er neu lernen. Sechs Monate im Jahr lebt er in Manaus, die übrige Zeit im Dorf. Das Problem ist, dass er im Grunde wenig Interessantes zu erzählen hat. Aber er ist sehr beflissen, und ich will ihn nicht enttäuschen. Ich lobe ihn und schreibe alles, was er über die N’uritá berichtet, in meine braunfleckigen Notizbücher. Morgen werden wir in der Missionsstation ankommen, die in der Nähe des Dorfs liegt. Ich bin aufgeregt, Christine auch. 3. Gesang Montag, 5. Dezember 1966. Es ist schon dunkel, ich schreibe im Licht einer Petroleumlampe. Wir wohnen nun vier Wochen lang im Haus von Pater Freiteros de Barría, der die Missionsstation leitet. Christine schläft in der Hängematte neben mir, wir sind beide erschöpft von den Ereignissen des Tages. Am Nachmittag Ankunft. Feierliche Begrüßungen durch Pater Freiteros und Ixaurío, den Häuptling des Dorfes Un’irxhue. Es sei nach seinem Großvater benannt, erklärte uns Ixaurío, der wie einige andere Männer eine prächtige Federkrone trug. Die Nacktheit der Menschen verwirrt mich mehr, als ich zugeben möchte. Ihre Kleidung besteht aus geflochtenen Bändern, Palmblättern, Peniskapseln bei den Männern, den verschlungenen, geometrischen Mustern auf der Haut, mehr nicht – all das wusste ich, und doch befremdet es mich. Die Kinder sangen, angeleitet von Pater Freiteros, ein Kirchenlied für uns, was mich fast noch mehr verstörte. Er ist Jesuit, bedächtig und sanftmütig. »Rom ist weit weg. Gott ist überall.« Die N’uritá scheinen ihn zu mögen. Sämtliche Bewohner liefen im Laufe der Zeit herbei, um uns aus der Nähe zu betrachten. Manche beiläufig und nicht sehr interessiert, manche neugierig, fast aufdringlich. Ich schreibe 382

»betrachten«, denn nichts anderes war es: Sie sahen uns an, sprachen miteinander und gingen weg, nahmen die Dinge wieder auf, die sie eben getan hatten. Dabei redeten sie leise in ihrer melodiösen Sprache, von der wir kaum ein Wort verstehen, obwohl ich die Literatur über die N’uritá von SJ Jean Baptiste Charbonneau, der die kleine Missionsstation 1920 aufgebaut hatte, sorgfältig studiert habe. Ich hoffe, schnell zu lernen. Wir sind beileibe nicht die ersten Forscher, die sie zu Gesicht bekommen. Floridano sagt, manche können durchaus gut Brasilianisch. In meinem Kopf dreht sich alles. Ich fürchte, dass ich in nächster Zeit nicht viel schreiben kann; es sind so viele Eindrücke, die mich bewegen. Aber ich werde versuchen, keine großen Lücken entstehen zu lassen. Meine Notizen könnten später wichtig sein, Falsches von Wahrem zu trennen, oder zumindest zu erkennen, was ich nach Monaten über diese Erfahrungen denke und wie weit meine Gedanken dann vom tatsächlichen Erleben abweichen. Nie habe ich mich so fern von allem Vertrauten gefühlt, und ich bin überglücklich, dass Christine bei mir ist. Bevor ich das Licht lösche, denke ich an Lévi-Strauss‘ Amazonas-Expeditionen in den 1930er-Jahren: Auch er reiste zusammen mit seiner damaligen Frau Dina Dreyfus, einer Ethnologin – erwähnt hat er sie in den ›Traurigen Tropen‹ nur ein einziges Mal. Dienstag, 6. Dezember 1966. In der morgendlichen Finsternis werde ich geweckt, Floridano rüttelt mich wach. Er flüstert: »Kommen Sie mit!« Ich ziehe mich hastig an und folge ihm stolpernd durch die Dunkelheit ins Dorf. Er führt mich zu einer Hütte, in der sechs Männer am Feuer sitzen. Einer von ihnen ist Ixaurío, die anderen kenne ich nicht. Sie wirken vergnügt, lachen und reden leise, winken mich heran. Zu meiner Verblüffung tragen sie Baumwollshorts und T-Shirts, wie ich selbst, sind nicht halbnackt wie am Tag zuvor. Ich staune. Wollten sie uns ›Forscher‹ so begrüßen, wie wir dies erhofften und erwarteten? Auf ›traditionelle‹ Weise? Floridano zeigt auf die Männer und sagt: »Sie erzählen sich ihre Träume der Nacht. Sie sollen Ihren Traum berichten. Ich übersetze.« Ich bin überrumpelt, sage, dass ich nichts geträumt hätte. Floridano schaut mich an, als wäre ich nicht ganz gescheit. Schnell sagt er etwas zu den Männern, die sich anstoßen, die Augen verdrehen und kichern. Ixaurío ruft einige Worte in meine Richtung. Floridano übersetzt: »Was bist du für ein Mensch, der nicht träumt? Sogar die Tiere träumen.« Freitag, 16. Dezember 1966. Seit zehn Tagen bei den N’uritá. Jeden Morgen gehe ich zu Ixaurío in die Traum-Hütte, die nur von Männern betreten werden darf. Ich habe mich mit Christine beraten und entschieden, Träume 383

zu erzählen, die ich nicht geträumt habe. Der Häuptling scheint erleichtert, er schiebt meine »traumlose Zeit« auf die Reise durch den Urwald, die für einen ›jungen Gringo‹ wie mich wohl zu anstrengend war. Meine Traumgeschichten handeln von Tieren, die ich im Wald gesehen habe, und von den Mustern, die auf die Haut gezeichnet werden. Ich werde täglich besser beim Erfinden der Träume, und das Seltsame ist, dass ich gestern Nacht wirklich geträumt habe: von einem weißen Keramik-Rehkitz, das in meinem Jugendzimmer in Frankfurt auf meinem Schreibtisch stand. Meine Eltern hatten mir die Figur als Geschenk gekauft; ich fand sie abscheulich kitschig. Als ich Ixaurío und seinen Brüdern (denn es sind seine Brüder sowie die Männer seiner Schwestern, was keinen Unterschied macht) davon erzähle, wollen sie wissen, was ein Rehkitz ist. Ich nenne das Wort dafür auf Portugiesisch – cria de corça – und sage: »Kein Tier in diesem Wald ist so wie das Reh.« Das stört sie: Wieso gibt es ein solches Tier hier nicht? Ist dieses criorça nicht wie ein Tapir? Oder wie ein Jaguar? Wie ein Gürteltier? Wie Tamanduaí, der Zwergameisenbär? Christine zeichnet ein Reh, ich zeige ihnen das Blatt, lange betrachten sie es und überlegen. Heute Morgen sagt Ixauríos jüngerer Bruder Arío, er habe von dem criorça geträumt, es hätte wie ein Tapir mit dunkler Katzennase, langen Beinen und weichem Fell ausgesehen: »Dein criorça ist ein weißer Katzentapir. Er saß am Fluss und spielte Nasenflöte.« Mittwoch, 21. Dezember 1966. Vor ein paar Tagen wurde mir ein Geschenk überreicht: einfache Sandalen, die aus einer flachen Sohle und zwei Riemen bestehen, durch die man die Zehen steckt, gefertigt aus dem Gummi eines alten Autoschlauchs – wobei ich keine Idee habe, wie der in diese Gegend gekommen sein kann, denn Straßen gibt es ja nirgends. Alle N’uritá tragen diese Art Schuhwerk (und Baumwollkleider, Hemden oder Shorts; nackt wie am Tag unserer Ankunft waren sie nie mehr). Auch Christine bekam ein Paar. Gemacht hat sie Elenchía, eine junge, schüchterne Frau aus dem Dorf. Wir bedankten uns und schenkten ihr Papier und Buntstifte, die sie freudig entgegennahm und nun zusammen mit den jüngeren N’uritá zum Zeichnen benutzt; sie haben Christine beobachtet und ahmen sie nach. Anfangs fand ich es riskant, ohne feste Stiefel über den Urwaldboden zu laufen: giftige Kröten, Schlangen und anderes Ungeziefer! Nun aber trage ich die Sandalen täglich, schlurfe ein wenig unbeholfen umher, worüber sich die Kinder amüsieren. Gerne klettern sie auf mir herum, drücken sich an mich, zausen mein Haar, das sie so ›weich wie das Bauchfell eines Äffchens‹ empfinden. Christine fotografiert mich mit den Kindern, sie lacht, 384

wohl wissend, dass ich meine geduldigste Miene aufsetze, wenn ich verunsichert bin und nicht genau weiß, wie ich reagieren soll. 4. Gesang Samstag, 24. Dezember 1966: Heiligabend. Pater Freiteros wird abends die Messe lesen. Wenn er uns am Morgen nicht eingeladen hätte, dabei zu sein, hätte ich kaum daran gedacht, so fern sind mir Gedanken an die ›Heimat‹ und ihre Rituale. Mein Kopf ist voller Träume und Lieder der N’uritá, die ich emsig notiere. Morgen gehe ich mit den Männern auf die Jagd. Ich hatte zunächst Bedenken, aber Floridano erklärt mir, dass ich die Einladung auf keinen Fall ablehnen kann, ich würde alle beleidigen. Ixaurío sagt: »Laufe einfach hinter uns her und sei leise, wir zeigen dir, wie wir jagen. Mein Bruder Arío hatte einen guten Jagdtraum, wir werden erfolgreich sein.« Ich bin gespannt. Sonntag, 25. Dezember 1966. Der Wald ist still und dunkel. Vereinzelt zarte, melodiöse Vogellaute oder grollende Geräusche, die ich nicht einordnen kann (werde ich einen Jaguar sehen?), aber ich bin gemeinsam mit Ixaurío und den anderen Männern unterwegs und fürchte mich nicht. Auch Floridano ist dabei, er strahlt und freut sich. Er wird wohl nicht oft zur Jagd eingeladen. Wir gehen so leise wie möglich, um Aríos Traum nicht zu stören – so erklärt es mir Ixaurío. Nach etwa einer Stunde lagern wir am Ufer des Flusses, rasten eine Weile. Die Männer schweigen. Ein scharfes Knacken auf der anderen Seite des Wassers, ich schrecke hoch und starre hinüber. In der Ferne taucht eine Gestalt aus dem dichten Grün auf und geht langsam am Fluss entlang. Deutlich kann ich einen Mann erkennen, dessen Haar rötlich ist – wie das der N’uritá, aber nicht mit Urukú gefärbt, sondern natürlich: ein Europäer oder zumindest ein hellhäutiger Mensch. Auf seiner linken Schulter sitzt ein kleiner bunter Vogel; selbst aus dieser Entfernung sehe ich, dass die Füße des Tieres verkrüppelt sind. Ein leises Murmeln weht über das Wasser, das sich zart kräuselt, der Mann scheint zu sprechen, verhalten und in sich gekehrt. Ich zwinkere, träume ich? Auch Ixaurío hat die Szene beobachtet, aber er rührt sich nicht und ist ganz gleichgültig. Die anderen Jäger sind ebenfalls still und sehen nicht einmal hin, doch sie wirken angespannt, und ich denke: Sie tun so, als ob da gar niemand wäre. Ixaurío gibt das Zeichen zum Aufbruch, wir gehen weiter, in einer seltsam bedrückten Stimmung, die später jedoch schnell verfliegt, als die Jagd beginnt. 385

Später, im Dorf, frage ich Floridano: »Wer ist das gewesen?« Er sagt nach einigem Zögern: »Mascarita.« Mehr ist partout nicht aus ihm herauszuholen. Ich denke noch den ganzen Abend über die Begegnung nach, erzähle Christine davon. Sie meint, dass Mascarita eine Art Geist sein kann, über den die N’uritá nicht reden, weil er gefährlich oder tabu ist. Aber hätte ich ihn dann auch sehen können? Montag, 26. Dezember 1966. Einige Notizen zu gestern. Ich habe die Jagd überlebt, zwei Affen nicht. Als der Moment der Jagd günstig schien, stimmten Ixaurío und die anderen Männer ein Lied an, das mir Floridano übersetzte: Boxherí, Affe, du bist unser Bruder, komm zu uns. Wir kommen zu dir, leise gehen wir, wie der Jaguar, stark und mutig. Wir holen dich zu uns, von den Bäumen herab, schon fällst du, guter Bruder Boxherí. Arío und ein anderer Mann erlegten die Affen, mit Pfeil und Bogen – ruhig und geschickt, jede Bewegung lange geübt. Um den Zorn des Waldgeistes, der über die Tiere wacht und den die N’uritá Noxotío nennen, nicht zu erregen, wurde er besänftigt, mit Gebeten milde gestimmt. Ixaurío sagte fröhlich zu mir: »Noxotío erlaubt nun, dass wir die Affen essen.« Es hat mich dennoch alle Überwindung gekostet. Gebraten im Feuer sahen sie aus wie winzige Kinder, die eine böse Märchenhexe gefangen und geröstet hat, zusammengerollt, mit Kopf und Armen und Beinen. Das Fleisch schmeckte nicht schlecht, leicht süßlich, doch beim Essen musste ich die Augen schließen. Zudem habe ich mich als echter ›Gringo‹ und Stadtmensch entpuppt, der neben den lautlos gehenden Männern wie der sprichwörtliche Elefant durchs Gebüsch trampelte, obwohl ich mir alle Mühe gab, mit den leichten Gummisohlen vorsichtig aufzutreten. »Leiser, leiser«, flüsterte Taríu, der jüngste Jäger, gerade einmal 16 Jahre alt, mir immerzu ins Ohr, und das Lachen konnte er sich kaum verbeißen. Auf dem Rückweg ins Dorf sangen die Männer wieder: 386

Junger Jäger ist geschmeidig, er läuft wie Caxeto, der einen Ring trägt, sein Hals ist weich, sein Kopf ist groß, er ist stark und kämpft gegen Schlangen, wenn es dunkel wird, setzt er seinen Fuß fest auf den Boden, die anderen laufen fort und verstecken sich, ihre Ohren schmerzen, o Caxeto, du junger Jäger. Ich fragte Floridano, ob das ein traditionelles Lied nach der Jagd sei, er nickte lächelnd. Später schlug ich in Pater Charbonneaus Buch zur N’uritáSprache das Wort Caxeto nach: Schwein. 5. Gesang Samstag, 31. Dezember 1966. Christine fotografiert mich: Von Kopf bis Fuß mit Urukú rot bemalt sitze ich auf einem Baumstumpf, lediglich mit einer blauen Badehose bekleidet. Auch meine Frisur ähnelt nun jener Art Pagenschnitt der N’uritá – »wie Prinz Eisenherz«, lacht Christine. Diese Verwandlung habe ich nicht Franz Kafka zu verdanken, den Pater Freiteros zu seinen Lieblingsschriftstellern zählt, sondern einem Fest, das zu unseren Ehren gefeiert wird, weil wir in zwei Tagen abreisen. Abwechselnd zärtlich und ruppig wurde ich von Arío, dem jüngeren Bruder Ixauríos, mit der Farbpaste bestrichen, er schnitt mir auch die Haare, wobei er keinen Widerspruch meinerseits duldete; der Häuptling zeichnete geometrische Linien auf meinen Körper. Als ich an mir heruntersah und lachen musste, sagte Ixaurío ernst: »Nun siehst du endlich wie ein Mensch aus.« Das ganze Dorf feiert, die Kinder, die Frauen, die Männer, Pater Freiteros, der an den Jahreswechsel erinnert, und wir – alle essen, singen und tanzen. Bis tief in die Nacht hinein erzählen die Männer Geschichten, von Nurítepe, wie er seine Frau fand, von T’urípe, der die N’uritá erschuf und sie ihre Lieder lehrte. Ich bin ein wenig melancholisch und mag nicht viel schreiben. 387

Montag, 2. Januar 1967. Jesus und Geraldo sind gestern Abend eingetroffen, schweigend, aber mit ihren Macheten am Gürtel. Bereit zum Aufbruch. Der Abschied von den N’uritá fällt mir schwer, so vieles ist verborgen geblieben. Werde ich wiederkommen, diese Menschen noch einmal sehen können? Die Frauen berühren Christine, knuffen und umarmen sie; Elenchía überreicht ihr einen aus Palmblättern gefertigten Deckelkorb: ein Geschenk, sagt sie. Christine öffnet ihn und zuckt zurück – aus dem Inneren grollt es, ein dunkler, geschmeidiger Schatten taucht auf, eine Katze! Sie ist noch jung, halbwüchsig und zierlich, mit schwarzem Fell, das eine Zeichnung mit bräunlichen Tupfen aufweist. Ich protestiere, doch Floridano sagt mir (wieder einmal), dass wir dieses Geschenk nicht ablehnen können, es wäre eine Beleidigung – habe man die Oncilla doch nur für meine Frau gefangen und Noxotío um Erlaubnis gebeten, dass die Katze mit den Weißen fortgehen darf! Christine strahlt. Ich strecke eine Hand nach dem kleinen Wildkätzchen aus und hoffe, dass es kein Jaguarkind ist. Prompt faucht die Oncilla und beißt mich in den Daumen, was alle Anwesenden ungemein erheitert. Und dann passiert alles ganz schnell. So beiläufig, wie wir vor vier Wochen begrüßt wurden, laufen sämtliche Dorfbewohner wieder auseinander, als hätten sie Wichtigeres zu tun; Floridano, Christine und ich sagen Pater Freiteros Lebewohl. Jesus und Geraldo schultern das Gepäck. Wir gehen. Freitag, 13. Januar 1967. Von Manaus fliegen wir nach Recife, samt unserer Katze. Christine erklärt, sie brächte es nicht übers Herz, sie irgendwo ›in der Wildnis‹ auszusetzen, was ich zu ihrer Bestürzung vorgeschlagen habe. »Oncilla ist noch zu klein und wird sicher sofort von einem Jaguar gefressen.« Ich gebe mich geschlagen. Wir werden sie wohl mitnehmen, nach Recife, wo ich noch ein halbes Jahr am ethnologischen Institut studieren werde, und dann nach Frankfurt. Floridano hat uns beim Abschied genauestens instruiert, wie wir Oncilla bei unserer endgültigen Abreise ins Flugzeug nach Deutschland und durch den Zoll bekommen: »Gehen Sie zu einem Tierarzt in der Stadt, lassen Sie sich ein paar Papiere ausstellen, dass die Katze keine Krankheiten hat, dass Sie sie zu Forschungszwecken nach Hause nehmen. Sagen Sie, dass Sie ein wichtiger Typ, ein Doktor sind. Es wird nicht viel kosten! Am Flughafen müssen Sie natürlich noch mal einige Cruzeiros springen lassen, und zwar neue Cruzeiros, das ist ja klar.« Das Wort Bestechung erwähnt er nicht. Ich sehe aus dem Fenster, während unser Flugzeug steil in den Himmel emporsteigt: unter uns die dunkelgrünen, sich schier unendlich ausdehnenden Wälder Amazoniens, die doch 388

jeden Tag weniger werden, mit all ihren Menschen; und neben mir Christine, auf dem Schoß den von Elenchía geflochtenen Korb, in dem die Katze schläft und im Traum mit den Pfoten zuckt. Ich schlage LéviStrauss‘ zerfledderte ›Traurige Tropen‹ auf und lese die letzten Zeilen: »… lebt wohl, Wilde! lebt wohl, Reisen! –, in den kurzen Augenblicken, in denen es die menschliche Gattung erträgt, ihr bienenfleißiges Treiben zu unterbrechen, das Wesen dessen zu erfassen, was sie war und noch immer ist, diesseits des Denkens und jenseits der Gesellschaft: zum Beispiel bei der Betrachtung eines Minerals, das schöner ist als alle unsere Werke; im Duft einer Lilie, der weiser ist als unsere Bücher; oder in dem Blick – schwer von Geduld, Heiterkeit und gegenseitigem Verzeihen –, den ein unwillkürliches Einverständnis zuweilen auszutauschen gestattet mit einer Katze.« Epilog O Corpo

Der Körper

O corpo existe e pode ser pego.

Den Körper gibt es, man kann ihn fassen. Er ist nicht durchsichtig, deshalb kann man ihn sehen. Das Haar sieht man wachsen, bleibt man lange genug stehen. Den Körper gibt es, denn er wurde geschaffen. In seiner Mitte ist darum ein Loch.

É suficientemente opaco para que se possa vê-lo. Se ficar olhando anos você pode ver crescer o cabelo. O corpo existe porque foi feito. Por isso tem um buraco no meio. O corpo existe, dado que exala cheiro. E em cada extremidade existe um dedo. O corpo se cortado espirra um líquido vermelho. O corpo tem alguém como recheio.

Den Körper gibt es, riecht man ihn doch. An seinen Enden: zehn Finger, Zehen. Wird der Körper verletzt, rinnt sein Saft rot dahin. Im Körper ist jemand drin. Arnaldo Antunes (1986)

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Am Anfang der Welt gab es keine Menschen. Sie lebten als andere Wesen in den Flüssen und schwammen manchmal an die Oberfläche, um zu atmen. Oft mussten sie das nicht tun, denn sie besaßen große Fischblasen, die hinter ihren Ohren angewachsen waren. Sie aßen rote Pflanzen, die den Grund des Wassers bedeckten, der Saft färbte die Haut und die Haare. Manchmal sangen sie hinauf zum nächtlichen Dickicht der Sterne. Ihre Lieder klangen wie das Murmeln des Regens, aber sprechen konnten sie nicht. Xhas’ta, die Sonne, ärgerte sich über das sinnlose Leben im Wasser. Sie beschloss, jemanden zu schicken, der die Wesen herausholen und Menschen aus ihnen machen sollte. So formte sie aus einem Tapir Nurítepe, und er ging an den Fluss hinunter. Er musste viele Tage warten, bis eines der Wasserwesen erschien. Kaum war es da, packte er seinen Körper und zog an ihm. Doch Nurítepe war zu stark, er kannte seine Kräfte noch nicht. Er riss dem Wesen einen Arm ab, der Rest fiel zurück ins Wasser, das sich dunkel verfärbte. Denn wie die roten Pflanzen waren die Wesen am Grunde des Flusses verwurzelt, sie steckten mit den Füßen fest im Boden. Nurítepe fragte Xhas’ta um Rat. Sie grollte und sagte ihm: »Pack am Kopf zu, da geht es.« Nurítepe ging zurück zum Fluss und wartete. Er spielte Nasenflöte. Aus den Bäumen bewarfen ihn seine Brüder, die Affen, mit Ästen und Kot, kreischten und machten sich lustig über ihn; es kümmerte ihn nicht. Er blickte auf die Kreise des Wassers und lauschte deren Sprache, die er verstand. Sie sagten: »Wie lange willst du hier noch sitzen, Nurítepe? Hör auf, so hässlich Flöte zu spielen. Geh und such‘ dir eine Frau.« Nurítepe dachte bei sich: Wenn ich eines der Wesen aus dem Fluss ziehe, kann es meine Frau werden. Endlich schwamm eines an die Oberfläche, und wie Xhas’ta es ihm gesagt hatte, nahm Nurítepe den Kopf fest in seine Hände und zog mit aller Kraft daran. Das Wesen wehrte sich und schrie, doch Nurítepe ließ nicht los. Er warf den Körper zu Boden und betrachtete ihn: War es eine Frau? Das Wesen lag ganz still da. Seine rötliche Fischhaut war keine Sonne gewohnt und dunkelte schnell im hellen Licht. Wo das Wasser perlend abfloss, bildeten sich dünne, verschlungene Linien, die sich vom Rest des Körpers abhoben. Das gefiel Nurítepe. Wie schön meine Frau ist, dachte er und trug sie vom Fluss weg zu den Bäumen. Dort legte er sie im Schatten nieder.

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Die Affen beobachteten ihn und schnitten freche Gesichter, doch sie schwiegen stille. Nur eine einzelne Stimme drang aus dem Wald: die des Uirapuru. So zart und lieblich und lockend sang er, dass die Frau ihre Augen öffnete. Nurítepe gab ihr Mandioca zu essen; sie wurde kräftiger und sagte ihm: »Bau eine Hütte für mich.« Er tat es, und Xhas’ta zeigte ihm einen guten Platz dafür in der Mitte des Waldes. Nach fünf Tagen gebar die Frau T’urípe. Er wuchs schnell heran. T’urípe trank Mut’hánxa, wie es ihm eines Nachts Xhas’tas Bruder Pahcío, der Mond, gesagt hatte, und reiste bis zu den Sternen, wo er viele Dinge sah und lernte. Als er sich bei der Jagd verletzte und sein Blut auf den Waldboden tropfte, entstanden daraus die Menschen, die N’uritá; und T’urípe lehrte die Männer Fischen und Jagen, er führte die Frauen zu den Stellen, wo sie Mandioca-Knollen ernten konnten, und zeigte ihnen, wie sie flechten und Muster weben sollten. T’urípe gab den Menschen ihre Lieder und Geschichten, ihre Träume und Gesänge. Literatur Bates, Henry Walter 2012 [1924]. Elf Jahre am Amazonas. Paderborn: Salzwasser Verlag. Cruls, Gastão 1976. Hiléia Amazônica. Aspectos da Flora, Fauna, Arqueologia e Etnografia Indígenas. Rio de Janeiro: Livraria J. Olympio Editora. Doering, Karl-Michael (Hg.) 2013. Friedrich Karl Doering: Mein Kriegstagebuch. Aufzeichnungen eines Pastors 1940-1943. München: United p.c. Doolittle, Emily und Henrik Brumm 2012. O Canto do Uirapuru: Consonant Intervals and Patterns in the Song of the Musician Wren. Journal of Interdisciplinary Music Studies 6, 55-85. Ehrenreich, Paul 1905. Die Mythen und Legenden der südamerikanischen Urvölker und ihre Beziehungen zu denen Nordamerikas und der alten Welt. Berlin: Asher & Co. Gärtner, Adolf und Ministerium für Verkehrswesen (Hg.) 1965. Jahrbuch der Schiffahrt 1966. Ein Rundblick über die internationale See- und Binnenschiffahrt. Ostberlin: Transpress VEB Verlag für Verkehrswesen. Humboldt, Wilhelm von 1839. Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java, nebst einer Einleitung über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts. Berlin: Dümmler.

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https://www.lyrikline.org/de/gedichte/o-corpo-5640#.WVEJRulpzIU (26.06.2017) https://www.welt.de/print-welt/article633535/Kriegsentscheidend-Warum-Bomben-auf-Potsdam-fielen.html (27.06.2017) https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x/wundersame-welt-der-vulkane-100.html (07.06.2017) www.maz-online.de/Lokales/Potsdam/Blindgaenger-in-Potsdam/DieNacht-von-Potsdam/Potsdam-Timeline-der-Bombardierung-am14.04.1945 (27.06.2017)

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Sol Montoya Bonilla

El declinar de la Antropología Des-aprender de los Maestros1 Presentación Qellqay Este libro editado en el 1986 fue para mí una lectura inspiradora para mi tesis de Magister en el Seminario Romanístico de la Universidad Goethe en Fráncfort, en donde Mark Münzel fue profesor asistente entre 1987 y 1983 y profesor honorario de 1983 a 1997, contiene, en mi parecer, los elementos que posteriormente seguirían desarrollándose en el ejercicio profesional de Münzel. A su vez ›Qellqay‹ y sus autores tuvieron influencia en diferentes estudiantes que se movían entre el Instituto de Romanística y el Instituto de Etnología en Fráncfort del Meno. Fue inspirador para los estudiantes de etnología que visitaban los seminarios de Haberland, Müller, Lindig y Krönberg en una etnología que veía mas el declinar que la creatividad en las culturas. Fue inspirador para los estudiantes de romanística que se introducían en los contextos socioculturales de la literatura o la lingüística y además – y muy importante – aprendían a percibir los objetos del Völkerkundemuseum que Münzel llevaba en ocasiones al seminario como algo vital y no fosilizado en los estantes del Museo. Introducía para nosotros la percepción visual, no sólo a través de letras y páginas de lectura, sino también a través de las propias imágenes. La presencia de Münzel constituía una intersección de diciplinas que era sugerida igualmente por otros profesores, como Birgitte Scharlau – co-autora de Qellqay; de esta manera al lado de la palabra oral y escrita se encontraba la imagen grabada en el cuerpo o en madera de la América tropical. Esto es, una tradición de coexistencia fundamental de museo y universidad en la etnología alemana, un sello que 1

Todas las citas entre comillas cuya fuente no está indicada, corresponden a respuestas de Münzel a preguntas hechas por mí por correo electrónico entre julio 7 y julio 13 del 2017.

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Münzel ha legado a muchos de sus alumnos; el transitar entre imágenes y palabras: Rituales, objetos y narraciones. Al asistir a sus clases me asombraba que un profesor alemán se presentara al seminario con una talla en madera de un jaguar dentro de una bolsa de tela y emitiera los sonidos guturales de este animal. Esto hacía parte de la teatralidad aprendida de los indígenas, que Münzel ha asumido en sus conferencias. Los futuros antropólogos a inicios del siglo XX procedían de diferentes disciplinas, la disciplina antropológica no existía como tal. Fritz Kramer, un antropólogo de la generación de Münzel, explica como sus intereses primarios fueron la filosofía y la literatura, su inspiración inicial fue la lectura de ›The Golden Bough‹ de James Frazer, y afirma que visitaba sólo un escazo número de seminarios de etnología en su época de estudiante. Sus lecturas de Malinowski tuvieron lugar mucho después al asumir en la Universidad en Berlín la cátedra de Etnología. La formación de Münzel indica un recorrido similar entre la literatura, la etnología y el arte. La literatura En la parte primera de su contribución en Qellqay podría pensarse que quien escribe es literato o lingüista. En la segunda parte del texto podría pensarse en un artista gráfico. Releyendo esta obra he pensado que es el arte lo que sintetiza en Qellqay y en la vida profesional de Münzel estos dos aspectos: La primera colección de tales objetos (en gran parte, arte, pero también objetos de utilización diaria), la inicié en 1967, por presión de indígenas kamayurá que concebían al antropólogo como a un coleccionador obligado a comprar sus objetos. Esta apreciación nos remite a la tradición del antropólogo de museos a finales del siglo XIX y la primera mitad del siglo XX que llevaba a cabo expediciones, cuyo principal objetivo era recolectar objetos etnográficos. Tanto los antropólogos posteriores como los indígenas estuvieron signados por esta tradición, de allí que Münzel afirme que fue la presión de los indígenas para que comprara objetos, lo que le ›obligó‹ a hacerlo. En este punto interesa subrayar que en esta declaración está implícita la percepción del indígena como sujeto activo en capacidad de ›presionar‹ al antropólogo

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o al investigador, percepción que en la disciplina antropológica, particularmente en América Latina, se generaliza muy posteriormente. Hoy en día nadie discute que todo resultado de investigación es el producto de una interlocución, y la autoría de las publicaciones es tanto del indígena como del antropólogo. En esta dirección hoy en día surgen investigaciones cuya temática ha sido definida por organizaciones indígenas, acorde a lo que ellos consideran necesario. Quiere decir que después de la década de los 80s aproximadamente las temáticas investigativas en América Latina son definidas entre indígenas y antropólogos, los cuales se comprometen ante entidades financiadoras y ante los grupos indígenas a hacer un trabajo de devolución. Esto significa presentar los resultados de investigación ante el grupo donde ésta se desarrolló y discutirlos con ellos; muchas veces antes de que hayan sido publicados. Los antropólogos se comprometen igualmente a producir un material concreto que pueda ser utilizado en programas de formación en el correspondiente grupo indígena, de acuerdo a las demandas de ellos. La comprensión del indígena como sujeto activo y decisivo, subrayado tempranamente por Münzel, no es evidente para todos los antropólogos europeos, de allí que interesa realzarlo. Cuando le pregunto a Münzel cuáles de sus escritos prefiere, dice que aquellos a los cuales ha vuelto con más frecuencia han sido la traducción y el comentario de cinco canciones aché: »Los autores de estas dos publicaciones son indígenas, yo sólo los traduje, comenté y divulgué«. Sobre las influencias de escuelas de antropología en su ejercicio profesional, Münzel indica que ha sido más una vivencia que una teoría. En referencia a la Escuela de Fráncfort de Antropología expresa que »La muerte lenta de una teoría, es una escuela muy buena para aprender la desconfianza de dogmas teóricos«. En una dirección similar Fritz Kramer escribe Die Begegnung mit Schriften philosophischer Provenienz erweiterte zwar den Horizont des schlichten Fachstudiums, beeinträchtigte aber den Sinn für Erkenntnisse, die nur konkrete Erfahrungen und empirische Forschungen gewähren (Kramer 2016: 234). Bernhard Streck (2015: 40) anota que en opinión de Leo Frobenius, iniciador de la Escuela de la Morfología Cultural, pareciera que las culturas primitivas desarrollaran y ejercieran una fuerza de atracción en el instante en que mueren. Me atrevo a establecer una analogía aquí con lo que Münzel expresa sobre lo favorable de la muerte lenta de las teorías como escuela 397

para aprender la desconfianza de los dogmas, sin querer decir con ello de ninguna manera que su afirmación corresponda a la teoría del viejo antropólogo fundador del hoy Instituto Frobenius en Fráncfort. Hay elementos que interesa subrayar sobre lo que Münzel expresa en cuanto a la influencia que tuvieron en él las escuelas teóricas. En primer término, su paso por el Brasil, su experiencia en terreno y la vivencia del movimiento del 1968 en Fráncfort, que él considera que no fue una rebelión de corte marxista, sino contra la autoridad. En cuanto al Brasil, Münzel nombra en concreto antropólogos que influyeron en él: Estos maestros eran Eduardo Galvão, Protásio Frikel; y Luís de Câmara Cascudo – ellos me hicieron comprender la superioridad de la experiencia, la etnografía. En este sentido me surge una réplica. Considero que la antropología brasilera constituye un aporte a la teoría antropológica, pero no sólo por la experiencia en terreno y la cercanía física a los indígenas, sino por la forma de vincular las teorías surgidas en las metrópolis y su posterior desarrollo y transformación o ›digestión‹ (Einverleibung o Aneeignung) con una intensa experiencia etnográfica. En un artículo periodístico a propósito de cumplirse el medio siglo de la publicación de ›Cien Años de Soledad‹ de Gabriel García Márquez,2 el autor anota que antes de esta obra la literatura latinoamericana era una sombra de la gran literatura europea, pero que sólo hasta la llegada de García Márquez fue posible hablar de una literatura gestada en el sur de América y con un sello propio. En mi opinión la antropología brasilera representa un fenómeno similar. Allí se produce antropología gestada y desarrollada en el Sur, lo cual no niega la apropiación de teorías antropológicas del Norte. Teatralidad Interesa ahora reasaltar dos aspectos presentes en las conferencias de Münzel, un poco menos en sus seminarios y lecturas: La teatralidad y la permanente referencia al trabajo en terreno. La imitación de sonidos o actitudes de animales es un recurso discursivo recurrente. El interés por la teatralidad y la performance puede atribuirse en parte a su entorno familiar. En una conversación en Marburgo en el café 1900 – el

2

Cf. www.elespectador (01.06.2017).

398

lugar en donde en su opinión se aprende realmente etnología – nos comunicó que su padre era jurista, de allí que las escenificaciones le fueran familiares ya desde la infancia y en este sentido su interés en ellas no fue solo resultado de su formación y ejercicio profesional. A esto se suma el gusto por la parodia, la broma y la ironía que Münzel afirma haber encontrado en diversas culturas indígenas y que le llevaron a introducirse en otro campo de interés investigativo, la Antropología Teatral. Münzel se refiere al trabajo en terreno en sus conferencias y escritos por medio de anécdotas, en muchas de las cuales los antropólogos – él mismo – son burlados y parodiados por los indígenas. Con ello subraya la audacia y el humor de los indígenas, como también la ironía, atributos que el antropólogo parece haber asumido él mismo. Retornando a Qellqay: Ya estando en su cargo como director del Departamento de Etnología en Marburgo, la perspectiva del narrador indígena como creador literario o del tallador indígena como artista, se extiende a los campos investigativos del teatro y del ritual como arte. Puede pensarse que en Qellqay está el germen de diversos intereses que en esta obra se focalizan en la literatura oral y la expresión gráfica, pero luego se focalizarán en otros campos de investigación. De alguna manera Münzel está estableciendo rupturas permanentemente con las tendencias antropológicas de ›moda‹. Parece tener un gusto por lo marginal. Pero en mi opinión esto es común a un conjunto de antropólogos contemporáneos a él, como Fritz Kramer, que deja de trabajar en departamentos de antropología para integrarse a la Academia de Bellas Artes y que ha hecho cuestionamientos de fondo a ciertas tendencias antropológicas de aquel momento, tal como la falta de comprensión de las culturas en sus transformaciones. En cuanto a esto Münzel escribe en Qellqay: Die Natur wird deshalb nicht immer als eine Ansammlung fester Körper beschrieben, sondern oft auch als eine Bewegung ständiger Verwandlungen und Verkleidungen (1986: 229). La concepción que Münzel (1993) atribuye a los indígenas sobre la naturaleza es la misma que él les atribuye a las culturas indígenas; la permanente inestabilidad de las culturas indígenas es en su opinión un elemento constitutivo de su tradición.

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El indígena como sujeto social: ›Die indianische Verweigerung‹ El protagonismo del indígena como sujeto social lo ubico en la obra de Münzel en una época anterior a Qellqay, básicamente en su publicación ›Die indianische Verweigerung‹. Aquellos que tienen esa obra como referencia de Münzel ven en él un antropólogo comprometido que toma clara posición en favor de los indígenas. Esto lo experimenté al hablar con una colega de la Universidad de Antioquia en Colombia sobre el departamento de Antropología de Marburgo y su director; ella, una antropóloga ›comprometida‹ sonrió aprobatoriamente cuando se refirió a Münzel, pues estaba al tanto de su recorrido en las denuncias de los atropellos a indígenas en el Paraguay en la década de los 70s. ›Die indianische Verweigerung‹ fue publicado en 1978. La gran parte de los textos incluidos allí tratan de los conflictos sociopolíticos que surgen del encuentro de dos concepciones del mundo, una de las cuales es tildada de salvaje, la otra de civilizada con la correspondiente justificación del maltrato, del atropello y de la muerte a los indígenas. La respuesta de los indígenas y de sus organizaciones se intensificó en la década de los 70s, década signada por amplios movimientos sociales de resistencia en Latinoamérica y en el mundo. ›Rottet uns doch aus! Traditionelle indianische Reaktionen auf den Ethnozid‹ es el título de una de las contribuciones de Münzel en el libro. En una época posterior de Mark Münzel, tanto durante el cargo de curador de la colección de las Américas en el Museo Antropológico de Fráncfort, como en Marburgo como director del departamento de Antropología, este indígena como sujeto social no ocupa el primer plano de su interés. Sin embargo, hay un estrecho vínculo entre la teatralidad y la lucha social del indígena como lo indica en un texto de 1993 cuando escribe que la tradición indígena conocía el show como politisches Mittel (›medio político‹) con anterioridad a la llegada de los blancos (1993: 256). Las temáticas relacionadas a la tradición y a la modernidad en los indígenas, las dinámicas identitarias y la individualidad entre los indígenas constituirán temas básicos de discusión con tradiciones de la disciplina antropológica, durante su vida profesional. También los vínculos entre museo y universidad serán un tema importante en sus publicaciones, tal como lo testimonia la edición conjunta con Michael Kraus ›Museum und Universität in der Ethnologie‹ editada en el 2003. Con un sello propio, Münzel aborda los cuestionamientos compartidos con otros antropólogos de su generación, quienes establecen una ruptura con generaciones anteriores de la disciplina. Me refiero 400

específicamente a Hans Peter Dürr, Fritz Kramer y Bernhard Streck. Un elemento particular de las reflexiones de Münzel en escritos y conferencias es ubicar al indígena en el centro, como protagonista político, social, poeta o artista. He presentado una cronología que no corresponde a la real, Münzel afirma que su interés por los problemas sociopolíticos de los indígenas fue posterior al interés por el arte indígena y que además también los artistas indígenas fueron oprimidos y marginados en los respectivos estados en Latinoamérica. Él expresa que la denuncia del atropello y el genocidio a los indígenas no podía estar ausente ya que esto »no puede dejar tranquilo y desinteresado a nadie que tenga un poquito de sensibilidad humana«. Al hacer referencia a indígenas con nombre propio Münzel subraya diversas características de tres individuos diferentes, las cuales fueron un aprendizaje para él, no por representar escuelas, sino actitudes vitales: Takuma, chamán místico, Kanutsipém, mujer indígena con desprecio irónico hacia los chamanes, y M., chamán sabio y melancólico. Melancolía, ironía y misticismo.3 Estos tres atributos de indígenas que no son mencionados con frecuencia en la investigación antropológica que despoja a los indígenas de humanidad e individualidad. Romper esquemas es un atributo de Münzel, quien reconoce que los sueños fantásticos no tienen que estar en contradicción con el realismo sensato; a propósito de este aprendizaje con los indígenas indica que la dicotomía Don Quijote-Sancho Panza es en su opinión muy europea y no está presente entre los indígenas, los cuales asumen la ambivalencia y la ambigüedad como una propiedad inherente al ser humano. Con referencia al concepto de indígenas de las tierras bajas suramericanas que no ve en la contradicción un principio de exclusión dice »mit dem Aufschreiben der Mythen begann, diese zu einem widerspruchsfreien System zu konstruieren« (Münzel 1986: 203). Y más adelante considera que para los pensadores indígenas el mundo no está constituido por una materia estática, sino por diversas realidades entretejidas y dinámicas (Münzel 1986: 229). Es pertinente aquí evocar un relato narrado por un indígena uitoto, incluido en una publicación del 2017 presentada en la Universidad de Antioquia (Vivas Hurtado 2017). Juan Kuiru escogió un relato en el cual un hombre que estaba todo el día fuera de casa trabajando en el campo, regresa un día adonde su mujer y se encuentra con que la cabeza de ésta está separada 3

Respuesta por correo electrónico, 10.07.2017.

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del cuerpo, entonces se la coloca en su propio cuerpo, de forma que lleva dos cabezas. Sin embargo, tiene dificultad para alimentar las dos cabezas pues su mujer comía demasiado. Entonces el hombre decide separarse de la cabeza de su mujer. No era fácil entender la escogencia de este relato como presentación de la narrativa indígena en el aula universitaria. Cuando se le preguntó al expositor cuál era el sentido de la narración, él explicó que no es adecuado andar con diversas cabezas. Que para tener claridad de pensamiento y acción se debe estar bien ›sentado‹. Este es sólo un ejemplo de la coexistencia entre relato mítico (semejante al sueño del que habla Münzel) y la sensatez. Sus estudiantes Münzel relata la siguiente anécdota: Su generación estuvo signada por las rebeliones de los tardíos 60s cuando los estudiantes ›maltrataban‹ a los profesores. En aquella época él presagiaba ante sus compañeros de estudio que como venganza a esta actitud como estudiantes, sufrirían ellos en el futuro profesional a causa de los estudiantes que »repetirían palabra por palabra nuestras enseñanzas«. Esta anécdota ilustra en cierta forma el estilo de Münzel como profesor y como asesor de tesis: No ofrece las respuestas claras que los estudiantes desean escuchar, espera paciente o impacientemente que cada cual encuentre su camino, su estructura y su método. Al final, cuando el estudiante recibe la evaluación pueden presentarse desagradables sorpresas, debido a que el estudiante afirma no haber recibido un juicio claro sobre su trabajo con anterioridad a la evaluación final. ›El profesor no me dijo nunca ‹ he escuchado de algunos estudiantes. Su exigencia a los estudiantes es una forma de suscitar insatisfacción y desobediencia o de fomentar el trabajo crítico del estudiante? La exigencia de autonomía y pensamiento crítico no es siempre el camino más sencillo para un estudiante. Los estudiantes de Münzel tienen un sello propio, tanto en las temáticas de investigación escogidas como también posteriormente a su época de estudiante y en su ejercicio profesional. Muchos de ellos subrayan la ambivalencia en las culturas, la creatividad en las culturas, el indígena en la modernidad. Sin embargo, tal como él anota, la antropología en la que se forman hoy los estudiantes y la antropología que se practica o ejerce es muy diferente a la que él practicó. Es evidente que hoy en día los indígenas no son los sujetos de los que trata primordialmente la antropología. Y cuando

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lo son, existen como protectores del medio ambiente, más que como narradores de mitos o artistas. En su época de curador del Museo Antropológico en Fráncfort, Münzel llevó el museo a las aulas. La exposición y el catálogo ›Die Mythen Sehen‹ son un ejemplo de ello. En su época de director del departamento de Antropología en Marburgo llevó el aula al museo. Las sucesivas exposiciones en el Kugelhaus son un ejemplo de esto. Qellqay representa un diálogo permanente entre las expresiones verbales y las expresiones gráficas de la América indígena. Literatur Kramer Fritz 2016. Abschied von der Nachkriegsethnologie. Der Fall der DGV Tagung 1969. Paideuma 62, 223-241. Kraus, Michael und Mark Münzel (Hg.) 2003. Museum und Universität in der Ethnologie. Marburg: Curupira. Kuba, Richard, Hélène Ivanoff und Maguèye Kassé 2017. Art Rupestre Africain: De la contribution africaine à la découverte d’un patrimoine universel. Frankfurt am Main: Frobenius-Institut. Münzel, Mark (Hg.) 1978 Die indianische Verweigerung: Lateinamerika Ureinwohner zwischen Ausrottung und Selbstbestimmung. Reinbek: Rowohlt. —— (Hg.) 1988. Die Mythen Sehen: Bilder und Zeichen vom Amazonas, 2 Bde. Frankfurt am Main: Museum für Völkerkunde. —— 1993.Tradition als Traditionsbruch. Indianisches in der indianischen ethnischen Bewegung Brasiliens. Ibero-Amerikanisches Archiv 19 (3-4), 243-270. Scharlau, Birgit und Mark Münzel 1986. Qellqay: Mündliche Kultur und Schrifttradition bei Indianern Lateinamerikas. Frankfurt am Main: Campus. Streck, Bernhard 2017. Leo Frobenius et le mystère iconographique du monde. In: Richard Kuba, Hélène Ivanoff und Maguèye Kassé (Hg.) Art rupestre: de la contribution africaine à la découverte d’un patrimoine universel. Frankfurt am Main: Frobenius-Institut, 39-68. Vivas Hurtado, Selnich (Hg.) 2017. Jagágiai. Riazéyue (y otros narradores minika). Medellín: Universidad de Antioquia.

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Bernd Schmelz

Publikationen von Mark Münzel auf meinem akademischen Berufsweg Kelm und Münzel 1974. Herrscher und Untertanen: Indianer in Peru Münzel 1976. Mittel- und Südamerika: Von Yucatán bis Feuerland Münzel 1977. Schrumpfkopfmacher? Jíbaro-Indianer in Südamerika Im Wintersemester 1980/1981 begann ich mein Studium mit dem Hauptfach Alt-Amerikanistik an der Universität Bonn. Ordinarius des Faches war damals Udo Oberem. Oberem war Spezialist für Archäologie, Ethnohistorie und Ethnographie Südamerikas und ganz besonders für die Region der heutigen Republik Ecuador. Oberem galt als ein strenger Lehrer, der von seinen Studenten ein Höchstmaß an Wissen abforderte. Und das bereits bei der Zwischenprüfung, die nach einem viersemestrigen Grundstudium zu absolvieren war. Eine Absprache von Themen gab es weder bei der Zwischenprüfung noch bei der Magisterprüfung. Man musste einfach alles wissen. ›Alles wissen‹ war jedoch immer relativ, da es am Bonner Seminar für Völkerkunde eine orale Tradition innerhalb der Studentenschaft gab, die stets transportierte, welche Themen und welche Literatur zu ›alles wissen‹ gehörte. Und hierzu gehörten die oben genannten Publikationen von Mark Münzel. Münzel, damals Kustos am Museum für Völkerkunde in Frankfurt am Main, war im Bonner Institut hoch angesehen. Seine Publikation ›Herrscher und Untertanen‹, die zur gleichnamigen Ausstellung des Frankfurter Museums erschienen war, hatte eine lebhafte Diskussion in der deutschen Völkerkunde ausgelöst. Als Beispiele sei hier nur auf diverse Beiträge in

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dem Heft ›Museum Information Forschung‹ (1974) hingewiesen. Der konsequente Ansatz, das Thema ›Herrscher und Untertanen‹ durch die gesamte indigene Geschichte von der Archäologie über die Ethnohistorie bis hin zur Ethnographie der Gegenwart zu verfolgen und stets sozial-kritisch zu hinterfragen, war in der damaligen Zeit in Deutschland ungewohnt. Spätestens mit dieser Publikation begann in Deutschland die Zeit der kritischen Ethnologie, eine klare Erweiterung zu den bis dahin eher bodenständigen Monographien. Eine völlig andere Art von wissenschaftlicher Publikation war das von Wolfgang Lindig und Mark Münzel verfasste Buch ›Die Indianer‹. Mark Münzel zeichnete hierbei für den ›Mittel- und Südamerika: Von Yucatán bis Feuerland‹ verantwortlich. Dies zunächst 1976 im Wilhelm Fink Verlag erschienene Buch, erlebte noch weitere Auflagen beim Deutschen Taschenbuchverlag. Für uns Bonner Studenten war dies ein grundlegender Überblick über die wichtigsten indigenen Völker in ganz Südamerika. Die einzelnen Kapitel waren monographisch aufgebaut, sortiert nach geographischen Einheiten, und beinhalteten grundlegende Einführungen in den Lebensraum, den Lebensunterhalt, den materiellen Kulturbesitz, die soziale Umwelt, Religion und Geschichte. Beim Studium dieses Werkes erhielt man ein Gefühl für die große Anzahl der in Südamerika lebenden Ethnien, deren unterschiedliche Lebensweisen und Geschichte. Für uns alle, die wir uns mit der Ethnographie Südamerikas befassten, war es ein unverzichtbares Nachschlagewerk. Schade, dass es ein solches Werk heute im deutschsprachigen Raum nicht mehr gibt. Es ist auch nicht leicht, ein solches Buch zu verfassen, da hierfür sehr weitreichende Kenntnisse notwendig sind; Kenntnisse, die durch die Forschung regelmäßig revidiert werden. Mark Münzel hatte zum Glück den Mut, sich einer solchen Herausforderung zu stellen. Das dritte Werk, das im damaligen Alt-Amerikanistik-Studium in Bonn unverzichtbar war, ist die Monografie ›Schrumpfkopfmacher? Jíbaro-Indianer in Südamerika‹ (1977). Auch hier eine systematische Aufarbeitung der Quellen zu einer Ethnie, die überwiegend im tropischen Regenwald am Ostabhang der Anden lebt. Und wie im Falle von ›Herrscher und Untertanen‹ (1974) handelte es sich um eine Publikation, die zu einer gleichnamigen Ausstellung im Museum für Völkerkunde in Frankfurt erschienen ist. Auch hier sind es nicht nur die klassischen monographischen Themen wie die geographische Lebenswelt, die Jagd- und Sammelwirtschaft, der Bodenbau, das Funktionieren der traditionellen Gesellschaft, Krieg, Religion 406

und Feste, sondern auch die äußerst kritisch hinterfragten Entwicklungen wie Kolonialismus, Bürgerrechtsbewegungen und vermeintlicher Fortschritt in der Gegenwart. Wiederum ein ›Münzel‹, der seine Museumsbesucher und seine Leser wachrüttelte. Der nicht stehenblieb bei einem rein deskriptiven Aufzählen von Fakten, die aus den Quellen gewonnen wurden, sondern Entwicklungen und aktuelle Missstände kritisch analysierte. Das Thema ›Schrumpfkopf‹ ist auch heute noch ein äußerst beliebtes Thema bei Besuchern von Völkerkundemuseen und Journalisten. Nach dem Thema wurde ich den letzten 20 Jahren im Museum für Völkerkunde Hamburg sehr oft gefragt. Und noch heute geht, wenn ich mich auf dieses Thema vorbereiten muss, aufgrund ihrer Anschaulichkeit, mein erster Blick in diese Publikation von Mark Münzel. Schmidt und Münzel 1998. Ethnologie und Inszenierung Nach meiner Rückkehr von einer 13-monatigen historisch-ethnographischen Feldforschung in Peru, wechselte ich 1990 in das Fachgebiet Völkerkunde der Philipps-Universität Marburg. Doktorvater meiner 1992 eingereichten Dissertation ›Kontinuität und Wandel religiöser Feste im Departamento Lambayeque (Peru)‹ wurde Mark Münzel. In meinem Vorwort schrieb ich damals: »Bei meinem Doktorvater Prof. Dr. Mark Münzel bedanke ich mich für seine intensive Betreuung. Durch zahlreiche persönliche Gespräche und durch die Diskussionen in den Doktorandenkolloquien gewährte er mir einen Einblick in ethnologische Sichtweisen, die mir bisher verschlossen waren« (Schmelz 1992: 3). Dies kann ich auch heute noch voll und ganz bestätigen. Besonders prägend und entscheidend für meine weiteren ethnologischen Forschungsinteressen waren in meiner Marburger Zeit die von Münzel angestoßenen Diskussionen zur Theaterethnologie. Zahlreiche kleinere und größere Forschungsprojekte der Marburger Ethnologinnen und Ethnologen sind daraus entstanden. Zu einem ersten Sammelband steuerte ich den Beitrag ›Religiöses Theater an der Nordküste Perus. Ein Forschungsbericht‹ bei (Schmelz 1998). Dies war das erste Ergebnis meines in Marburg durch Mark Münzel erweiterten Forschungsinteresses, das bis in die Gegenwart noch viele weitere Publikationen nach sich zog.

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Kraus und Münzel 2000. Zur Beziehung zwischen Universität und Museum Kraus und Münzel 2003. Museum und Universität in der Ethnologie Münzel 2001. Das Museum in der Lehre Die beiden ersten Bände basieren auf Tagungen, die an der Philipps-Universität Marburg stattfanden. Mark Münzel war schon während seiner Zeit als Kustos am Museum für Völkerkunde Frankfurt am Main als Professor für Lateinamerikastudien an der Universität Frankfurt tätig. In dieser Doppelfunktion war Münzel auch immer ein großes Vorbild für mich. Nach meinem Wechsel von Marburg nach Hamburg zum 1. November 1992 führte ich neben meiner Tätigkeit am Museum für Völkerkunde an der Universität Hamburg zunächst Lehraufträge in Geschichte, Ethnologie und Lateinamerikastudien durch. 2005 wurde ich schließlich zum Professor für Lateinamerikastudien nach § 17 HmbHG ernannt. Für die Marburger Völkerkunde war es natürlich ein Glücksfall, dass mit Mark Münzel ein erfahrener Museumsethnologe als Professor berufen wurde. Gelebte Praxis wurde nun auch in die Lehre eingebracht. Münzel machte anschaulich deutlich, dass es ein Unterschied ist, ob man ein Referat in einem Seminar halten und eine Hausarbeit schreiben oder ob man sich im Rahmen einer Ausstellung einer kritischen Öffentlichkeit stellen muss (z.B. Münzel 2001: 23). Die Erfahrungen, die man als Student bei musealen Übungen, der Bearbeitung von Objekten, der Vorbereitung und Präsentation einer Ausstellung, beim Schreiben von Ausstellungstexten, bei Führungen oder der Öffentlichkeitsarbeit macht, sind wichtige Grundlagen für das spätere Berufsleben. Und das nicht nur bei einer Museumslaufbahn. In Museumsübungen machen viele Studenten sehr schnell die Erfahrung, dass es wesentlich schwieriger ist einen guten Ausstellungstext zu einem bestimmten Thema zu schreiben als ein klassisches Referat zum selben Thema. Die beiden von Mark Münzel und Michael Kraus (2000, 2003) herausgegebenen Bände haben die Diskussion innerhalb der deutschen Ethnologie sehr befruchtet. In den letzten zehn Jahren ist aus meiner Sicht auf jeden Fall ein stärkeres Zusammenfinden zwischen den Institutionen Museum und Universität zu beobachten. Davon ist jedoch nicht nur die Ethnologie betroffen. Viele andere universitäre Fächer suchen heute Kooperationen 408

mit Völkerkundemuseen in Deutschland. Die deutsche Ethnologie hat sich nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis sehr stark interdisziplinär geöffnet. In den Jahren 2008 und 2009 führte das Museum für Völkerkunde Hamburg eine Kooperation mit dem Studiengang Bibliotheks- und Informationsmanagement der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg durch. Die Zusammenarbeit war unter dem Titel ›Virtuelle Bibliothek Guatemala‹ so konzipiert, dass im Rahmen von Lehrveranstaltungen eine geplante Ausstellung zu Guatemala begleitet werden sollte. Christine Gläser, auf Seiten der Hochschule für das Projekt verantwortliche Professorin für Informationsdienstleistungen und Metadaten, schrieb später über ihre Erfahrungen mit dieser Kooperation: In der Vorbereitung der Veranstaltung ging es vor allem darum, herauszufinden, in welchen Themenbereichen sich Bibliothek und Museum inhaltlich treffen können und wie konkret die Ausstellung zu Land und Kultur Guatemalas unterstützt werden kann. Dazu mussten sich Bibliotheks- und Museumskultur erst einmal aufeinander zu bewegen, sich annähern und kennenlernen. Diese Annäherung vollzog sich durch Besuche im Museum und gemeinsame Veranstaltungen in der Hochschule; die theoretische Auseinandersetzung und die praktische Anschauung gingen Hand in Hand. Dieses Zusammentreffen mit der Museumskultur war eine sehr bereichernde Erfahrung und hat für mich persönlich zu einem ganz neuen Verständnis von Museen geführt (Gläser 2013: 243). Aber auch umgekehrt waren die Erfahrungen für mich als Museumsethnologen natürlich sehr interessant. Erst seit damals kann ich erahnen, welche Bedeutung ›Web 2.0‹ für die Wissenschaft, die Gesellschaft und die Wirtschaft hat. Die Zusammenarbeit war sehr erfolgreich, zu einer technischen Umsetzung in einer Ausstellung kam es aber schließlich aus finanziellen Gründen nicht. Die ursprünglich geplante ›Guatemala-Ausstellung‹ wurde von 2010 bis 2017 unter dem Titel ›Herz der Maya‹ am Museum gezeigt (vgl. Köpke und Schmelz 2010). Die Ausstellung war ein Beispiel für eine semi-permanente Ausstellung. Die lange Laufzeit erklärte sich zum einen aus der stetig hohen Nachfrage nach der Ausstellung durch die Besucher. Zum anderen waren für diesen Zeitraum die Mitarbeiter aller Sparten des 409

Museums für andere Arbeiten entlastet. Begünstigt war das lange Bespielen verschiedener Ausstellungsräume von insgesamt ca. 1000 m² auch durch den Umstand, dass in der Ausstellung fast ausschließlich Bestände aus dem eigenen Haus gezeigt wurden. Von 2015 bis 2017 führte das Museum für Völkerkunde Hamburg ein gemeinsames Projekt mit dem Historischen Seminar der Universität Hamburg zum Thema ›Koloniale Dokumente im Museum für Völkerkunde Hamburg: Afrika als Gegenstand kolonialer Fotografie‹ durch. Auf Seiten der Universität Hamburg zeichnete Professor Jürgen Zimmerer für die Forschungsstelle ›Hamburgs (post-)koloniales Erbe‹ im Historischen Seminar verantwortlich. Gefördert wurde das Projekt über 18 Monate von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius. In diesem Zeitraum wurden eigens für dieses Projekt die Kolonialhistorikerin Diana Natermann und die Ethnologin und Afrikanistin Irene Hübner eingestellt, um einen Teil der historischen Fotobestände zum subsaharischen Afrika im Museum für Völkerkunde wissenschaftlich interdisziplinär zu erschließen und aufzuarbeiten. Das Fotoarchiv des Museums besitzt ca. 35.000 Fotografien aus dem afrikanischen Kontinent. Diese setzen sich aus Glasnegativen, Kunststoffnegativen, Diapositiven sowie aus Positiven, die Teil des Ikonokatalogs sind, zusammen. Die meisten Fotos stammen aus der Zeit von 1884 bis 1995. Ungefähr 6000 Bilder sind den deutschen Kolonien zuzuordnen. Sie sind zwischen 1884 und 1918 entstanden, als sich das Deutsche Reich in Afrika als Kolonialmacht breit machte. Im Verlaufe des Projektes analysierten die Historikerin Diana Natermann und die Ethnologin Irene Hübner das zugängliche Quellen- und Literaturmaterial, um die ausgewählten Fotokonvolute in breiterem historisch-ethnologischen Kontext darstellen zu können. Das Projekt war beim Verfassen dieses Beitrages noch nicht vollständig abgeschlossen. Die hier referierten Informationen stammen aus dem Bericht von Irene Hübner, ›Abschluss ‚Koloniale Dokumente im Museum für Völkerkunde Hamburg: Afrika als Gegenstand kolonialer Fotografie‘‹ vom 15. März 2017. Ein Teil der Forschungsergebnisse soll als ›Sammlung online‹ einem internationalen Publikum zweisprachig (Deutsch und Englisch) auf der Internetseite des Museums zugänglich gemacht werden. Hierzu laufen gegenwärtig die Vorbereitungsarbeiten. Das Thema ›Deutscher Kolonialismus und Museen‹ war seit Beginn des 21. Jahrhunderts in einer sehr zentralen Position bei den Museen, bei Politikern und auch bei der Öffentlichkeit im Allgemeinen (vgl. z.B. Förster, 410

Henrichsen und Bollig 2004, Zimmerer 2013, 2015; Poser und Baumann 2016). Viele Städte räumten der Aufarbeitung der eigenen kolonialen Geschichte einen großen Stellenwert ein. So auch die Freie und Hansestadt Hamburg. Die Universität Hamburg und das Museum für Völkerkunde Hamburg konnten mit dem von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius geförderten Forschungsprojekt hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Durch dieses Projekt wurden aber auch viele weitere Forschungsdesiderata deutlich. Von der Afrika-Expedition von Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg 1910/1911 existiert im Fotoarchiv des Museums nicht nur eine umfangreiche Fotosammlung; das Museum besitzt auch zahlreiche Objekte, die im Rahmen dieser Expedition gesammelt wurden. Eine Erforschung der Gegenstände, von ihrer Bedeutung bis hin zu ihrer Biographie, ist gerade in Kombination mit dem Fotobestand eine wichtige Forschungsaufgabe in der Zukunft. Auch mit viel Engagement initiierte und weiterentwickelte Kooperationen können kläglich scheitern. Ob dies zum Alltag in der wissenschaftlichen Community gehört, sei dahingestellt. Zumindest sollen solche Fälle nicht verschwiegen werden, da sie für beteiligte Wissenschaftler sehr schmerzhaft sein können. Gemeint sind hier die Kooperationsbemühungen zwischen der Europa-Universität Flensburg und dem Museum für Völkerkunde Hamburg. Ausgangspunkt war im Jahr 2014 die gemeinsame Sorge der beiden Institutionen um das politisch ins Wanken geratene Europa. Die gemeinsame Verbundenheit der Europäer wurde in der Öffentlichkeit immer mehr in Frage gestellt, vor allem zugunsten der stärker in den Mittelpunkt gerückten Nationalstaaten. Durch langjährige persönliche wissenschaftliche Kontakte zwischen den beiden Institutionen entstand die Idee, Europa-Projekte in wissenschaftlicher und kultureller Perspektive zu initiieren und durchzuführen. Die Europa-Universität Flensburg und das Museum für Völkerkunde Hamburg wurden diesbezüglich als ideale Partner angesehen, da sie bereits seit einigen Jahren in mehreren Fachbereichen intensiv zusammenarbeiteten. So plante man: •

Die Teilnahme von Studierenden an Europa-Projekten, die in Ausstellungen, Workshops und Publikationen münden sollte. Man war davon überzeugt, dass dies ganz wesentlich zu einer

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breiteren gesellschaftlichen Verankerung des Europa-Gedankens beitragen könnte. Gemeinsame Projekte sollten sich in ihren Endprodukten direkt an eine größere Öffentlichkeit wenden. Die Idee war, durch eine solide wissenschaftliche Arbeit für ein kulturelles Fundament zu sorgen, das sich direkt auf Europa als gemeinsame kulturelle Basis bezieht. Es sollten Ausstellungsmodule erarbeitet werden, die neben Hamburg auch an anderen Standorten gezeigt werden können. Man war davon überzeugt, dass man durch eine bundesländerübergreifende Kooperation zwischen zwei wichtigen Institutionen einer allgemeinen ›Europamüdigkeit‹ oder sogar ›Europafeindlichkeit‹ durch überzeugende Konzepte, einprägsame Bilder und eindrucksvolle Inszenierungen entgegenwirken könnte.

Erste Ausstellungsprojekte wurden konzeptionell mit Studierenden im Rahmen von Lehrveranstaltungen an der Europa-Universität Flensburg und im Rahmen von Exkursionen nach Hamburg erarbeitet. Zusätzlich trafen sich Wissenschaftler beider Institutionen regelmäßig zu Arbeitstreffen, Workshops und Diskussionsrunden. Als erste Ausstellungsprojekte waren vorgesehen: • • • •

2016: ›Weihnachtswelten – vom antiken Sonnenkult zum globalen Fest‹ 2017: ›Sprachenvielfalt in Europa – eine Zeitreise‹ 2018: ›Europa als Friedensprojekt‹ 2019: ›Europa und die Wissenschaft‹

Längerfristiges Ziel war es, ein gemeinsames Zentrum für interdisziplinäre Europaforschung aufzubauen. Auf Seiten der Europa-Universität Flensburg waren vor allem das Seminar für katholische Theologie, das Zentrum für kleine und regionale Sprachen, das Institut für Kultur, Sprache, Medien, die Abteilung Geografie und das Philosophische Seminar beteiligt. Die Konzepte der beiden ersten Ausstellungsvorhaben wurden bereits 2015 sowohl in Flensburg als auch in Hamburg vorgestellt und intensiv diskutiert. 412

Ein erster schwerer Einschnitt erfolgte zum 1. Februar 2016. Der bisherige Direktor des Museums, Wulf Köpke, wechselte zur Akademie der Polizei in Hamburg und wurde dort Leiter des neu gegründeten Instituts für Transkulturelle Kompetenz. Für das Museum folgte nun eine äußerst schwierige 14-monatige Interimszeit. Der Abschluss eines formalen Kooperationsvertrages mit der Europa-Universität Flensburg wurde auf Eis gelegt. Die beiden für 2016 und 2017 schon beschlossenen Ausstellungen kamen wie viele andere Projekte auf einen neuen Prüfstand. Nachdem die jeweiligen Kolleginnen und Kollegen der Europa-Universität Flensburg die Ausstellungsprojekte nochmals in Hamburg vor einer erweiterten Wissenschaftlerrunde vorgetragen hatten, wurden sie abermals beschlossen, allerdings mit einer jeweiligen Verschiebung um ein Jahr. Die Entwicklung der Konzepte und die Vorbereitungen für die beiden Ausstellungen wurden von Vertretern beider Institutionen intensiv vorangetrieben. Der Tiefschlag kam dann im Januar 2017. Noch vor Antritt einer neuen Direktorin zum 1. April 2017 sagte die Interimsleitung des Museums die neun Monate vor Eröffnung stehende Weihnachtsausstellung ab. Die Aufregung und die Enttäuschung auf Seiten des Kooperationspartners kann man sich gut vorstellen. Unendlich viel Arbeit und Engagement waren umsonst gewesen. Das Vertrauensverhältnis war nun grundlegend gestört und alle weiteren Kooperationsbemühungen auf Eis gelegt. Aber auch in solchen Situationen findet man Trost bei Mark Münzel: »Das Museum hingegen kennt solche Katastrophen allenfalls beim Wechsel des heiligen Königs, dessen Abgang und Nachfolge in einer Phase des Chaos und Schreckens erfolgt, am Ende aber wieder in Ruhe und hierarchische Ordnung, in ewige Wiederholung der alten Rituale mündet« (2000: 108). Dies lässt hoffen. 2016 begann das Museum eine völlig neuartige Kooperation mit der Leuphana Universität in Lüneburg. Die Universität hatte in Zusammenarbeit mit sechs Museen in der Hamburger Metropolregion ein interdisziplinäres Programm beim Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) beantragt und bewilligt bekommen. Ziel ist es, ein museumsbezogenes Ausbildungsmodul zu installieren, das eine Promotion und gewisse Inhalte einer wissenschaftlichen Museumsausbildung miteinander verbindet. Museen verschiedener Sparten sollen zudem zu einem wissenschaftlichen Dialog animiert werden. Die beteiligten Museen sind neben dem Museum für Völkerkunde in Hamburg die Kunsthalle, die Deichtorhallen und das Museum für Kunst und Gewerbe; in Lüneburg ist es das Ostpreußische 413

Landesmuseum und in Lübeck das Buddenbrookhaus – Heinrich und Thomas Mann Zentrum. Für jedes dieser Häuser wurde nach einem Ausschreibungsverfahren jeweils eine Doktorandin oder ein Doktorand ausgewählt, die sich zu einer unerschlossenen Sammlung mit einem wissenschaftlichen Exposé hatten bewerben können. Ziel ist es, im Rahmen einer Dissertation die Sammlung wissenschaftlich aufzuarbeiten und ein Ausstellungskonzept für diese Sammlung vorzulegen. Die wissenschaftliche Qualifikation steht an erster Stelle. Anhand des jeweiligen Projektes sollen die vielfältigen Aufgaben eines Museums von der ersten Sichtung der Objekte bis hin zur Erarbeitung eines Ausstellungskonzeptes erfahren werden. Die Dissertationen werden an der Leuphana Universität Lüneburg betreut. Die Ausstellungskonzepte wiederum visualisieren die Forschungserträge und werden im Hinblick auf die Realisierbarkeit, Visualisierungsstrategien, Vermittlungskonzepte, Zeitund Finanzpläne geprüft. Ein Beirat aus sechs MuseumsexpertInnen der Partnerinstitutionen und drei Innovationsmentorinnen begleiten die Arbeitsschritte des Programms und validieren die Praktikabilität des Ausbildungsmodells (Programm ›PriMus – Promovieren im Museum‹, Lüneburg 2016). Mit diesem Programm soll die Forschung an den Museen unterstützt und der Wissenstransfer zwischen Museum und Universität gefördert werden. Im interdisziplinären Dialog der Museumstypen sollen neue Formen der Präsentation für Objekte unterschiedlichster Art entwickelt und diskutiert werden. Auf diese Weise wird der Bildungsauftrag der Museen gestärkt, treten sie doch als Orte der Forschung, des Wissens und der gesellschaftlichen Selbstverständigung über kulturelles Erbe in die Öffentlichkeit (Programm ›PriMus – Promovieren im Museum‹, Lüneburg 2016). Initiatorinnen und Leiterinnen des Programms sind Susanne Leeb und Beate Söntgen, Professorinnen für Kunstgeschichte an der Leuphana Universität Lüneburg. Für das Museum für Völkerkunde Hamburg wurde eine Doktorandin ausgewählt, die das Thema ›Kontinuität und Wandel materieller Kultur in 414

der Provinz Dalarna (Schweden)‹ bearbeiten wird. Das Museum besitzt eine hervorragend dokumentierte Sammlung aus Schweden des Forscherund Sammlerehepaars Marianne und Peter Reinicke, die über 1.000 Objekte aus dem Bereich der materiellen Kultur (Haushaltsgeräte, Einrichtungsgegenstände aus Häusern, landwirtschaftliche Geräte, Schulobjekte, etc.) mit dem Schwerpunkt aus der Provinz Dalarna in Schweden umfasst. Da sie vom 17. bis zum 20. Jahrhundert reicht, lassen sich daraus Faktoren der Kontinuität und des Wandels erarbeiten. Die Objekte und deren Dokumentation dienen dabei als wichtige historische und ethnologische Quelle. Das Programm kann man als Experiment sehen, völlig neuen Wind in die wissenschaftliche museale Ausbildung und in die Kooperationsmöglichkeiten zwischen Universitäten und Museen zu bringen. Ich persönlich halte es für sehr innovativ und unterstütze es daher sehr gerne. Selbstverständlich kommt es zu einer gewissen Kollision mit der traditionellen Volontariatsausbildung. Man muss aber auch ganz klar sagen, dass es sich hierbei nicht um ein Volontariat handelt und die Teilnehmer am Ende auch kein Arbeitszeugnis über ein abgeschlossenes Volontariat erhalten. Als sehr positiv empfinde ich, dass man auch von Museumsseite wieder verstärkt auf eine akademisch-universitäre Qualifikation setzt. Bis in die 1990er Jahre war es noch selbstverständlich, dass man sich auf eine Volontariatsstelle im Museum nur mit Promotion bewarb. Oder kurz vor dem Abschluss der Dissertation stand. Im 21. Jahrhundert spielte diese akademische Qualifikation bisher eine geringere Rolle, man setzte bei der Auswahl der Kandidatinnen und Kandidaten eher auf Praxiserfahrung. Münzel 2015. Gedanken zum Umgang mit Ordnungen und Instituten Mark Münzel ist und bleibt aktuell. Auch nach seiner Emeritierung hat er viele wichtige Beiträge geschrieben. Als sehr anregend habe ich es immer empfunden, wenn er auf seinen reichhaltigen wissenschaftlichen Erfahrungsschatz aufbauend dem Nachwuchs Wege in den Beruf und im Beruf aufzeigt. Und mit Nachwuchs meine ich nicht nur die Studierenden, die noch im Studium sind oder gerade ihr Studium beendet haben und sich auf Stellensuche befinden oder an ihrem zukünftigen Berufsweg basteln, sondern auch bereits etablierte Nachwuchswissenschaftler. Das Reflektieren von Münzel über Entwicklungen in der ethnologischen Ausbildung, die

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veränderten Anforderungen in der Arbeitswelt für ausgebildete Ethnologen, das Schauen über den Tellerrand des eigenen Faches, bietet viele Denkansätze für die eigene ethnologische Arbeit. Letztendlich kommt es oft (natürlich nicht immer) darauf an, niemanden nachzuahmen (was nicht heißt, dass man keine Vorbilder haben soll) und sich nicht den angeblich aktuellen Trends zu unterwerfen, die immer nur an einem Teil der Institute aktuell sind und an anderen verlacht werden (Münzel 2015: 136). Das Nachdenken von Mark Münzel über das eigene Fach hat mich persönlich dazu animiert, mich nicht nur in den eingefahrenen (persönlichen) Forschungsfeldern zu bewegen, sondern auch mal ›schräge‹ Publikationen, Veröffentlichungen ›der ganz anderen Art‹ zu wagen (z.B. Schmelz 2016, Schmelz/Schmelz 2017). So wünsche ich dem Jubilar noch viele produktive Jahre, um auch weiterhin aus seinen zahlreichen Ideen, Erkenntnissen und Erfahrungen schöpfen zu können. Literatur Förster, Larissa, Dag Henrichsen und Michael Bollig (Hg.) 2004. Namibia – Deutschland: Eine geteilte Geschichte. Köln: Minerva. Gläser, Christine 2013. Aufbruch in fremde Kulturen – ›Ethnography in your Library‹. In: Bernd Schmelz (Hg.) Warum ist ein Museum für Völkerkunde wichtig für Hamburg? Was wird von einem Völkerkundemuseum in Hamburg erwartet? Hamburg: Museum für Völkerkunde Hamburg, 242-251. Kelm, Heinz und Mark Münzel 1974. Herrscher und Untertanen: Indianer in Per, 1000 v. Chr. – Heute. Frankfurt/Main: Museum für Völkerkunde. Köpke, Wulf und Bernd Schmelz (Hg.) 2010. Herz der Maya. Hamburg: Museum für Völkerkunde Hamburg. Kraus, Michael und Mark Mark (Hg.) 2000. Zur Beziehung zwischen Universität und Museum in der Ethnologie. Marburg: Curupira. ―― (Hg.) 2003. Museum und Ethnologie in der Universität. Marburg: Curupira.

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Münzel, Mark 1976. Mittel- und Südamerika – Von Yucatán bis Feuerland. In: Wolfgang Lindig und Mark Münzel Die Indianer: Kulturen und Geschichte der Indianer Nord-, Mittel- und Südamerikas. München: Fink, 167335. ―― 1977. Schrumpfkopf-Macher? Jíbaro-Indianer in Südamerika. Frankfurt/Main: Museum für Völkerkunde. ―― 2000. Magd und Denker: Zu den kulturellen Unterschieden zwischen Universität und Museum. In: Michael Kraus und Mark Mark (Hg.) Zur Beziehung zwischen Universität und Museum in der Ethnologie. Marburg: Curupira, 105-118. ―― 2001. Das Museum in der Lehre. In: Stéphane Voell (Hg.) ›… ohne Museum geht es nicht‹. Die Völkerkundliche Sammlung der Philipps-Universität Marburg. Marburg: Curupira, 23-30. ―― 2015. Gedanken zum Umgang mit Ordnungen und Instituten. In: Ferdaouss Adda, Korinna Klasing und Mark Münzel (Hg.) Ethnologen zwischen Beruf und Berufung: Tätigkeitsfelder und praktische Tipps zur Orientierung. Marburg: Curupira, 125-138. Poser, Alexis von und Bianca Baumann (Hg.) 2016. Heikles Erbe: Koloniale Spuren bis in die Gegenwart. Dresden: Sandstein. Schmelz, Bernd 1992. Kontinuität und Wandel religiöser Feste im Departamento Lambayeque (Peru): Eine historisch-ethnographische Analyse anhand dreier Fallbeispiele. Bonn: Holos. ―― 1998. Religiöses Theater an der Nordküste Perus. Ein Forschungsbericht. In: Bettina E. Schmidt und Mark Münzel (Hg.) Ethnologie und Inszenierung: Ansätze zur Theaterethnologie. Marburg: Curupira, 271-293. ―― 2016. Aggressiver Schreibstil bei Behörden: Das Beispiel der Stadtkasse Buxtehude. Hamburg: [Selbstverlag]. Schmelz, Arlette und Bernd Schmelz 2017. Der kleine Giftzwerg: Ein Märchen als symbolisierte wissenschaftliche Kulturkritik. Hamburg: [Selbstverlag]. Schmidt, Bettina E. und Mark Münzel (Hg.) Ethnologie und Inszenierung: Ansätze zur Theaterethnologie. Marburg: Curupira. Zimmerer, Jürgen (Hg.) 2013. Kein Platz an der Sonne: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Frankfurt/Main: Campus. ―― 2015. Kulturgut aus der Kolonialzeit – ein schwieriges Erbe? Museumskunde 80 (2), 22-25.

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Peter Herbert Kann

Verbindende Grenzflächen Ethnologie und Endokrinologie Grenzen Grenzen trennen. Grenzen können beinahe unüberwindlich trennen. Unsere Geschichte hat uns dies über Jahrzehnte mit der innerdeutschen Grenze, dem eisernen Vorhang, veranschaulicht. Hoffen wir, dass wir hierfür zwischen den USA und Mexiko kein neues Exempel vor Augen geführt bekommen. Welches Beispiel gibt uns die Biologie? Zellen sind die kleinsten lebenden Einheiten von Organismen. Sie sind strukturell durch eine Membran abgegrenzt. Sie haben ihren eigenen, sie lebensfähig machenden Stoffwechsel. Eine Zelle hat alle Informationen, die sie dafür benötigt, in der Erbsubstanz, dem Genom, das überwiegend im Zellkern lokalisiert ist, gespeichert. In mehrzelligen Organismen sind die Zellmembranen wohl Grenzflächen, aber auch Kommunikationszonen. Hier finden Stoff- und Informationsaustauschprozesse – freundlich und feindlich – statt. Nervenzellen korrespondieren mit ihresgleichen, geben auch Signale an Muskelzellen weiter. Zellen des Immunsystems können sich aggressiv mit Krankheitserregern und Tumorzellen auseinandersetzen. Kultur und Natur – Geistes- und Naturwissenschaften Without nature there would be no culture, no brain in the skull to contrive conceptual orders. Without culture there would be no nature, no concept of nonhuman or circumstantial reality (Glassie 2001: 144).

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The aim is to be open-minded, so that one can see biology in culture and culture in biology (Åkesson 2001: 48). Aus Sicht der Volkskunde berichtet Hartmann (2001) über einen praktisch völlig fehlenden Kontakt seiner Disziplin mit den verschiedenen naturwissenschaftlichen Fächern, die sich mit dem Menschen befassen. Er beklagt »eine gespenstische Einhelligkeit darüber … dass wir für die Bearbeitung sämtlicher unserer Problemstellungen auf humanbiologische Erkenntnisse verzichten können, ja sogar zu verzichten haben, dass sie im Forschungsfeld Kultur unwichtig, ungültig, schädlich oder falsch sind« (Hartmann 2001: 22). Er warnt vor ungerechtfertigten Ab- und Ausgrenzungen von Soziobiologie, Verhaltensforschung, Humangenetik und anderen Biowissenschaften vom Menschen und plädiert für eine Erweiterung des »Erklärungshorizonts« durch eine konstruktive »Synthese des anthropologischen Wissens« (Hartmann 2001: 26-27). Während der intensiven Phase meines Ethnologiestudiums an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz in den 1980er Jahren hatte ich im Rahmen einer Seminararbeit Gelegenheit, mich intensiv mit Georg Forsters ›Reise um die Welt‹ (2007 [1777]) zu befassen. Seine Einbettung der Erforschung des fremden Menschen in die Erforschung der Natur insgesamt erschien mir als Student der Medizin und der Ethnologie damals logisch und selbstverständlich, entsprang aber natürlich auch der wissenschaftlichen Herangehensweise des 18. Jahrhunderts. Ich sehe (mit Antweiler 2007: 121) aber auch jetzt – mehr als dreißig Jahre später – keine sachliche bzw. rationale Begründung für eine scharfe und dichotomisierende Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Ich halte diese Separation im Gegenteil für die Entwicklung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Menschen für ein – vielleicht das – entscheidende(s) Hindernis. Wechselseitige Ignoranz und Diffamierung befruchten nicht, sondern führen in die wissenschaftstheoretische Isolation. Mit meiner Sichtweise sehe ich mich durchaus auch in der Tradition einer Ethnologie im Sinne von Franz Boas, der sich extensiv und mit hohem methodischen Aufwand auch Fragestellungen gewidmet hat, die man heute eher der biologischen Anthropologie zuweisen würde (Degler et al. 1989).

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Mark Münzel – offene Arme an der Grenze Im Jahre 2002 nahm ich den Ruf der Medizinischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg auf die Professur für Endokrinologie an. Relativ bald nach meinem Dienstantritt zum Wintersemester 2002/2003 suchte ich den Kontakt zu meiner ›alten Liebe‹, der Ethnologie. Ich hatte dieses Fach in Mainz neben der Medizin studiert (mit Sondergenehmigung des Kultusministers für beide Studiengänge parallel immatrikuliert), alle Scheine erworben, die zur Examensanmeldung gefordert waren – aber nie ein Examen abgelegt, da ich meiner medizinischen Laufbahn die Priorität gegeben hatte. Mein erstes Treffen mit Professor Münzel dürfte im Frühjahr 2003 gewesen sein, in seinem Arbeitszimmer im Kugelhaus. Das Gespräch war freundlich, von beiden Seiten neugierig und nicht ganz frei von einem kleinen Schuss Skepsis. Es mündete in eine Einladung Mark Münzels, mich mit medizinethnologischen Themen an der Lehre seines Fachs zu beteiligen, was auch Realität wurde. Die Unterrichtsveranstaltungen waren offen für Ethnologen und Mediziner, an einem Seminar beteiligten sich auch Vor- und Frühgeschichtler. Für mich als Dozenten war es spannend zu erleben, wie sich junge Menschen, die ja bis zum Abitur eine vergleichbare Sozialisierung hatten, in ihrer geistigen Welt, ihrem Vortrags-, Lern- und Diskussionsverhalten auseinander entwickeln konnten. In Geistes- und Naturwissenschaftler eben. Ich vermute, für die meisten teilnehmenden Studierenden war dies die einzige Begegnung mit der jeweils anderen wissenschaftlichen Kultur während des gesamten Studiums. Und dann sprach mich Mark Münzel an, dass es doch eigentlich schade wäre, dass ich meinen wissenschaftlichen Weg in der Ethnologie nicht weitergegangen sei. Er lockte mich damit, dass ich mit einem Dr. phil. auch bei den Studierenden der Vergleichenden Kultur- und Religionswissenschaft ein viel besseres Standing hätte. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir gar nicht klar, dass ich mit meinen formalen Voraussetzungen ohne Magisterprüfung direkt promovieren konnte, da ich ja bereits ein anderes Hochschulstudium mit einem akademischen Grad abgeschlossen hatte. Ich brauchte einigen Monate – und auch das ein oder andere Gespräch mit meiner Ehefrau – bis ich dem Überwiegen von Neugier und Interesse an der Ethnologie nachgab und die durchaus berechtigte Scheu vor dem

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Aufwand, den ein geisteswissenschaftliches Dissertationsprojekt mit sich bringt, hintan stellte. Projekte mit Mark Münzel Das Dissertationsprojekt hatte den Titel ›Nebenniere, Stresshormone, Kultur und Gesundheit‹ (Kann 2009). Zwei medizinische Termini vorne, Kultur an Platz drei, und dann schon wieder Gesundheit. Mark Münzel verwandte zahlreiche Gespräche mit mir in seinem Lieblingskaffee am Marburger Markplatz darauf, auf die gebotene profunde Ausarbeitung der kultur- und sozialwissenschaftlichen Aspekte und Schwerpunkte in meiner Schrift zu achten. Es entwickelten sich in der Folge weitere wissenschaftliche Projekte an der Grenzfläche zwischen der Ethnologie und der Endokrinologie, die zum Teil – aber nicht ausschließlich – Anknüpfungspunkte an mein Dissertationsprojekt hatten, sozusagen in dessen Kielwasser entstanden – bis hin zu einem medizinischen Feldforschungsprojekt in Kunene (nordwestlichste Region Namibias), dessen Existenz meinem Bedürfnis entsprang, die von mir im Rahmen meines Dissertationsprojektes formulierten Thesen im praktisch-medizinischen Kontext zu verifizieren. Die Daten und Befunde durfte ich gemeinsam mit Mark Münzel publizieren. Verbunden mit einem herzlichen Dank an Mark Münzel, dem ich neben der Stimulation zu solchen Forschungsprojekten einen großen geisteswissenschaftlichen Input verdanke, möchte ich diese Vorhaben an der Grenz-Kontakt-Fläche zwischen Ethnologie und Endokrinologie kurz zusammenfassen. Diese Darstellung mag sich lesen wie ein Rechenschaftsbericht – und sie ist auch so gemeint. Mark Münzel: Diese Projekte sind aus unseren Kontakten erwachsen. Danke für diese Bereicherung meiner wissenschaftlichen und persönlichen Laufbahn! Prolaktinome Prolaktinome sind (in der Regel) gutartige Tumoren des Vorderlappens der Hirnanhangsdrüse, die das Hormon Prolaktin bilden und in die Blutbahn abgeben (Kann et al. 2010). Bei Frauen sorgt Prolaktin nach der Geburt eines Kindes für die Bildung der Muttermilch in den Brüsten. Im 422

Übermaß im Prolaktinom gebildet kommt es zu Störungen der Sexualfunktion. Beide Geschlechter erleiden einen Libidoverlust. Männer werden u.a. impotent. Bei Frauen bleibt die Monatsblutung aus, ohne dass eine Schwangerschaft vorliegt. Das Ausbleiben der Monatsblutung führt nach Ausschluss einer Schwangerschaft dazu, dass sich betroffene Frauen zeitnah zu einer weitergehenden ärztlichen Untersuchung vorstellen. Potenzstörungen hingegen werden eher verschwiegen und banalisiert. Deshalb werden in Deutschland Prolaktinome bei Frauen früher und häufiger als bei Männern diagnostiziert. Bei Männern sind sie zum Zeitpunkt der Diagnosestellung deutlich größer als bei Frauen. Uns interessierte, wie die Wahrnehmung und Bewertung klinischer Symptome – speziell auch im sexuellen Kontext – durch den soziokulturellen Rahmen und Hintergrund beeinflusst werden, und welche Rolle auch die Qualität des medizinischen Versorgungssystems spielen mag. Es zeigte sich, dass die Frauen in Syrien noch häufiger in der Gruppe diagnostizierter Personen als in Hessen sind (87 vs. 63%). In beiden Ländern waren die Männer bei Diagnosestellung älter als die Frauen, und die Tumoren waren größer. Interessanterweise werden Hyperprolaktinämien bei syrischen Frauen im Mittel viele Jahre früher als bei deutschen Frauen diagnostiziert – dies trotz wahrscheinlich schlechterer Qualität der medizinischen Versorgung. Wir erklären dieses Phänomen durch kulturell determinierte Unterschiede im Sexual- und Reproduktionsverhalten: Alter beim ersten Geschlechtsverkehr und Gebrauch hormoneller Kontrazeptiva (Anti-Baby-Pille), durch deren Einnahme der Zyklus unabhängig von der endogenen Sexualhormonsekretion reguliert wird, und mittleres mütterliches Alter bei Realisierung des Kinderwunsches und die Geburtenfrequenz der Frauen. Ethnische Zugehörigkeit und Diabetes Dieser Aufsatz (Kann 2011) entstand im Kontext meines Dissertationsprojektes, in dem ich mich der medizinischen Forschung und für ethnische(n) Minderheiten auseinandersetzte. In den USA wird zunehmend die Repräsentanz und Integration ethnischer Minderheiten in der medizinischen Forschung und Versorgung thematisiert. Dabei wurde deutlich, dass die Definition einer ethnischen Gruppe keinesfalls banal ist. Im kultur- und sozialwissenschaftlichen Schrifttum wird die Eigenzuschreibung 423

der Zugehörigkeit favorisiert, die Ethnizität als relevanten, Identifikation stiftenden Prozess berücksichtigen kann und genetisch-biologische Merkmale nachrangig erscheinen lässt. Werden entsprechende Barrieren gezielt abgebaut, bspw. durch Beteiligung von Prüfärzten, die der gleichen ethnischen Gruppe angehören, beteiligen sich auch ethnische Minderheiten an der medizinischen Forschung, so dass auch für sie und ihre medizinische Versorgung relevante Befunde erzielt werden können. Auch Deutschland ist (und war schon immer) ein Land, in dem verschiedene ethnische Gruppen leben, seien es autochthone Minderheiten oder solche mit einem rezenten Migrationshintergrund. Schlussfolgerung meiner Erwägung war, dass eine vermehrte Berücksichtigung ethnischer Minderheiten im Kontext der medizinischen Forschung und Versorgung auch in Deutschland sinnvoll und geboten erscheint. Rassismus und Metabolisches Syndrom Auch dieses Manuskript (Kann 2012) nimmt Bezug auf Gedankengänge im Zusammenhang meines Dissertationsprojekts bei Mark Münzel. In dieser Schrift versuche ich, erlebten Rassismus vom internalisierten Rassismus nach Tull et al. (2005) zu differenzieren. Diskriminierende Erlebnisse – und zwar sowohl rassistischer als auch sexueller Art – sowie Kriminalität im sozialen Umfeld sind direkt erlebbare Stressfaktoren, genau wie auch eine prekäre sozioökomische Situation (Armut und Not). Solche Phänomene im Sinne eines erlebten Rassismus können die Sekretion von Stresshormonen, wie Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin, ungünstig im Sinne krankmachender Folgen beeinflussen. Internalisierter Rassismus wird nach Tull et al. (2005) als das Ausmaß definiert, in dem (in der Karibik lebende) ›Schwarze‹ (blacks) – Afroamerikaner – den rassistischen Stereotypen über ›Schwarze‹ zustimmen. Der internalisierte Rassismus wird hierbei als Äquivalent zu einem defizitärsubmissiven Reaktionsmuster gesehen. Das Ausmaß des internalisierten Rassismus wird durch die Arbeitsgruppe mittels Fragebogen anhand eines Scorings quantifiziert, wobei der Kern des Fragebogens die Aussage darstellt, ob sich die Afroamerikaner (blacks) als ›körperlich begabt‹, aber ›geistig unvollkommen‹ ansehen. 424

Ein hohes Maß an internalisiertem Rassismus geht mit einem subjektiv gesteigerten erlebten Stress, unterwürfigen Bewältigungsstrategien und einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für eine Funktionsstörung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse mit einer Dysregulation der Cortisolsekretion einher – auch dies mit entsprechenden gesundheitlichen Konsequenzen (Stoffwechsel, Kreislauf). Zusammenfassend widmet sich diese Arbeit in einer sehr verkürzten Sichtweise dem Phänomen Rassismus, indem sie ihn ausschließlich mit Blick auf seine Bedeutsamkeit für endokrine, d. h. hormonelle Funktionen untersucht, und dies wiederum nur unter dem speziellen Aspekt der Beeinflussung von Krankheitsrisiken. Die vorliegenden und in diesem Aufsatz dargestellten und diskutierten Befunde deuten stark darauf hin, dass Rassismus tatsächlich im Sinne der westlichen, naturwissenschaftlichen Medizin körperlich krank machen kann. Der Weg, auf dem dies geschieht, ist eine Modulation der Funktion und Reagibilität der Stresshormonsysteme. Bei den entstehenden Krankheiten handelt es sich dabei im Wesentlichen um Facetten des Metabolischen Syndroms wie Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie (Bluthochdruck) und Adipositas (krankhaftes Übergewicht) sowie damit assoziierte Folgekrankheiten (Herzinfarkt, Schlaganfall). Ich argumentiere, dass es wünschenswert wäre, ein zunehmendes Verständnis dieser Zusammenhänge in wissenschaftlich begründete Strategien der Prävention münden zu lassen, zu deren Entwicklung Kulturwissenschaftler, Sozialwissenschaftler und Mediziner gleichermaßen aufgerufen sind. Soziokulturelle Stressoren Im Rahmen meines Dissertationsprojektes unter der Ägide von Professor Münzel hatte ich die These entwickelt (Kann et al. 2015, Tull et al. 2005), dass soziokulturelle Stressoren, wie Diskriminierung, Rassismus, Kriminalität, Armut, soziale Unsicherheit und soziokulturelle Instabilität, die Sekretion von Stresshormonen aus der Nebenniere in ungünstiger Weise modulieren können. Dies betrifft besonders nachhaltig das unter der Regulation des Vorlappens der Hirnanhangsdrüse stehende Cortisol aus der Nebennierenrinde. Für dieses Hormonsystem hatte bereits auch auf molekularer Ebene gezeigt werden können, dass die individuelle Lebens425

geschichte epigenetische Spuren mit möglicherweise lebenslangen Konsequenzen für die Regulation der Hormonsekretion hinterlassen kann. In diesem von Mark Münzel begleiteten Forschungsprojekt konnten wir zeigen, dass die Migration traditionell lebender Ovahimba in Kunene im nördlichen Namibia in die Stadt Opuvo mit einer dramatischen Veränderung der Cortisolsekretion einhergeht. Die Cortisolexposition der Individuen verdreifacht sich im Mittel. Es stellte sich ferner heraus, dass dies wiederum mit einer Häufung von Stoffwechselstörungen (Zuckerstoffwechsel – Diabetes mellitus; Fettstoffwechsel – Hyperlipidämie) sowie ungünstigen Veränderungen der Kreislaufregulation (Blutdruck, Herzfrequenz) einhergeht. Durch diese Forschungsergebnisse sahen wir unser Postulat einer direkten Beeinflussung hormonellen Sekretionsverhaltens durch soziokulturelle Faktoren mit entsprechenden gesundheitlichen Folgen bestätigt. Ovahimba Im Übermaß sezerniertes Cortisol – auch eine medikamentöse Therapie mit Cortison-Derivaten – kann nachhaltig den Knochenstoffwechsel schädigen und zur Osteoporose, krankhaftem Knochenschwund, mit entsprechenden Knochenbrüchen führen. Bei einer Gruppe von Ovahimba (Kann et al. 2015, Wilhelm et al. 2016) konnten wir mittels eines speziellen Ultraschallverfahrens qualitative Knochenuntersuchungen durchführen. Hier ließ sich zeigen, dass die oben beschriebene Cortisolmehrsekretion auch mit einer Verschlechterung von Kenngrößen der Knochenqualität einherging. Eine niedrige Knochendichte ist das entscheidende Merkmal der Osteoporose (krankhafter Knochenschwund), die hauptsächlich Frauen betrifft. Diese Erkrankung ist insbesondere durch das Auftreten von Knochenbrüchen in der Wirbelsäule und dem Oberschenkelhals gekennzeichnet und geht mit viel Leid, Verlust an Lebensqualität und Lebenspanne einher – und ist teuer für die Sozialgemeinschaft. Kaum einer hat sich bislang in diesem Zusammenhang für die Situation türkischstämmiger Immigrantinnen interessiert (Tastan et al. 2016). Wir fanden in einer extremen Häufigkeit (88%) einen prognostisch ungünstigen Vitamin-D-Mangel. Immigrantinnen mit einer Osteoporose hatten beunruhigend veränderte Knochenstoffwechselmarker in der Laboranaly426

tik. Eine Rolle des endokrinologisch-ethnologischen Grenzgängers in diesem Projekt bestand auch darin, molekulargenetische Charakterisierungen der Studienteilnehmerinnen vorzunehmen, ohne dass sich im Vergleich zu anderen Kollektiven (bspw. Niederländern, vgl. Kann et al. 2002) relevante Unterschiede oder Überraschungen ergaben. Schlussfolgerung unserer Arbeit war, dass türkischstämmige Migrantinnen in Deutschland eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit für einen prognostisch problematischen Vitamin-D-Mangel aufwiesen, wozu Lebens- und Ernährungsgewohnheiten, kulturell bedingte Bekleidungsgewohnheiten, Sonnenexposition und Hautpigmentierung ebenso beitrugen wie eine bislang fehlende zielgerichtete medizinische Versorgung. Kreise schließen sich Für mich hat sich, nachdem ich Ende der 1980er Jahre mein Ethnologiestudium, auf Eis gelegt hatte, durch die Begegnung mit Mark Münzel ein Kreis geschlossen. Ich begann mich wieder in Forschung und Lehre mit der Ethnologie – genauer gesagt Medizinethnologie – zu befassen, entschloss mich zu promovieren und schloss an die Dissertation verschiedene Forschungsprojekte an. Ich weiß nicht, wie Mark Münzel das erlebte. Immerhin hat er einen Grundstein für seine akademische Laufbahn mit einer medizinethnologischen Dissertation mit dem Titel ›Geistervorstellungen und Medizinmannwesen bei den Kamayurá‹ gelegt. Zum Ende seiner Zeit als aktiver Universitätsprofessor hat er dann einen Medizinprofessor zu einem medizinethnologischen Thema promoviert. Gute Lehrer hinterlassen Spuren Lieber Herr Münzel, möglicherweise haben Sie meinen wissenschaftlichen und persönlichen Werdegang stärker beeinflusst als Ihnen bewusst ist. Ich habe sehr von dem Kontakt und der Zusammenarbeit mit Ihnen profitiert. Dafür ein herzliches Dankeschön!

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Literatur Åkesson, Lynn 2001. Does Gene Technology Call for a Gene Ethnology? In: R. W. Brednich, A. Schneider, U. Werner (Hg.) Natur – Kultur: Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt. Münster: Waxmann. Antweiler, Christoph 2007. Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Degler, Carl N., Marshall Hyatt und Barbara Duden 1989. Culture Versus Biology in the Thought of Franz Boaz and Alfred L. Kroeber. New York: Berg. Forster, G. 2007 [1777]. Reise um die Welt. Frankfurt am Main: Eichborn. Glassie, H. 2001. Nature, Culture, and Cosmological Interference. In: R. W. Brednich, A. Schneider, U. Werner (Hg.) Natur – Kultur: Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt. Münster: Waxmann. Hartmann, A. 2001. Biologie der Kultur. In: R. W. Brednich, A. Schneider, U. Werner (Hg.) Natur – Kultur: Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt. Münster: Waxmann. Kann, Peter H. 2009. Nebenniere, Stresshormone, Kultur und Gesundheit. Inauguraldissertation. Philipps-Universität Marburg. —— 2011. Ethnische Zugehörigkeit, Ethnizität und medizinische Forschung bei Diabetes. Diabetes Stoffwech H 20, 386-391. —— 2012. Rassismus und Metabolisches Syndrom. Endokrinologie, Diabetologie und Medizinethnologie. Diabetes Stoffwech H 21, 123-126. Kann, Peter H., N. Juratli und Y. Kabalan 2010. Prolactinoma and Hyperprolactinaemia: a Transcultural Comparative Study Between Germany as a Western, Liberal, Industrialised Country and Syria as an Oriental Society with a Strong Islamic Tradition. Gynecol Endocrinol 26, 749754. Kann, Peter H., A. P. Bergink, Y. Fang, P. L. Van Daele, A. Hofman, J. P. Van Leeuwen, J. Beyer, A. G. Uitterlinden und H. A. Pols 2002. The Collagen Ia1 SP1 Polymorphism is Associated with Differences in Ultrasound Transmission Velocity in the Calcaneus in Postmenopausal Women. Calcif Tissue Int 70, 450-456.

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Kann, Peter H., M. Münzel, P. Hadji, H. Daniel, P. Flache, A. Nyarango und A. Wilhelm. 2015. Alterations of Cortisol Homeostasis May Link Changes of the Sociocultural Environment to an Increased Diabetes and Metabolic Risk in Developing Countries: a Prospective Diagnostic Study Performed in Cooperation with the Ovahimba People of the Kunene Region/Northwestern Namibia. J Clin Endocrinol Metab 100, E482-E486. Tastan, Y., P. H. Kann, H.-R. Tinneberg, P. Hadji, U. Müller-Ladner und U. Lange 2016. Low Bone Mineral Density and Vitamin D Deficiency Correlated with Genetics and Other Bone Markers in Female Turkish Immigrants in Germany. Clin Rheumatol 35, 2789-2795. Tull E. S., Y. T. Sheu, C. Butler und K. Cornelious 2005. Relationships Between Perceived Stress, Coping Behaviour and Cortisol Secretion in Women with High and Low Levels of Internalized Racism. J Natl Med Assoc 97, 206-212. Wilhelm A, P. Hadji, M. Münzel, H. Daniel, P. Flache, P. Nyarango und P. H. Kann 2016. Bone Health of the Ovahimba People in NorthWestern Namibia in the Context of Urbanization and a Change of the Sociocultural Environment. Gynecol Endocrinol 33, 4.

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Dagmar Schweitzer de Palacios

Objects of Encounter Die Gegenstände der Aché in der Völkerkundlichen Sammlung Sie lagern im Schrank im neuen Magazin der Völkerkundlichen Sammlung, über mehrere Einlegeböden verteilt. Es ist eine Reihe von Objekten unterschiedlicher Form und Größe und aus verschiedensten Materialien: Waffen aus diversen Hölzern, Körbe aus Palmfasern, Werkzeuge aus Knochenteilen und anderes mehr. Das kleinste von ihnen, ein Schaber, ist lediglich 10 cm groß; das längste von ihnen, ein Bogen, fast 1,90 m lang, passt gerade so eben noch in den Schrank. Es handelt sich um 62 Objekte der Aché (Guayaki) aus Ost-Paraguay, die Mark Münzel von seiner 1971/72 dort durchgeführten Feldforschung mitbrachte, vorübergehend in seinem Keller lagerte und im Jahr 2000 der Völkerkundlichen Sammlung überließ. Im folgenden Beitrag geht es um diese Objekte, die ich in den Kontext von Begegnungen stelle, zwischen den Objekten, ihrem Sammler und mir. Diese Begegnungen, die ich hier Revue passieren lasse, fanden im Laufe der letzten dreieinhalb Jahrzehnte statt und geschahen aus ganz verschiedenen Anlässen. Sie zeigen das Überkreuzen von Objektbiographien und Lebenswegen und illustrieren, wie sich individuell geprägte Erinnerungen in Objekte einschreiben und mit Bedeutungen versehen. Sie werfen Schlaglichter auf Gegenstände, die Menschen, Räume und Zeiten verbinden, und auf Ereignisse, die eine kleine, nomadisierende Gruppe mit globalen Prozessen verknüpfen. Schließlich führen sie zu einer kleinen musealen Sammlung, wo sie Ausgangspunkt für diesen Beitrag bilden. 1. Begegnung Die Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde fand im Jahr 1983 in Freiburg und Basel statt. Im gleichen Jahr präsentierte das damalige

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Museum für Völkerkunde der Stadt Frankfurt am Main – heute ›Weltkulturen Museum‹ – die Ausstellung ›Gejagte Jäger – Menschen im Herzen Südamerikas‹. Sie stellte die Geschichte, die seinerzeitige Situation und Kultur zweier miteinander nahe verwandten ›Jäger- und Sammlervölker‹ (Kelm 1983: IV) dar: der Aché in Paraguay und der Mbía in Bolivien. Als Studentin der Altamerikanistik und Ethnologie am Seminar für Völkerkunde der Rheinischen Friedrich-Wilhelms Universität Bonn nahm ich an einer Exkursion teil, die über Frankfurt – das auf dem Weg lag – nach Freiburg, dann Basel führte. Die Teilnahme an der Exkursion setzte natürlich die Teilnahme an einem Seminar zur Vor- und Nachbereitung sowie eine Studienleistung in Form eines Referats voraus. Hier begegnete ich den Aché und ihren Objekten das erste Mal – und mit ihnen Mark Münzel. Leider habe ich das Referat nicht aufgehoben, aber ich habe noch den ›Schein‹: ›Zur Ausstellung Gejagte Jäger: vorbereitendes Material und Textpublikation‹. Ich übernahm den Teil der Aché, die ich auf Basis des Ausstellungsbegleitbuchs von Münzel verfasst vorstellen sollte. Soweit ich mich erinnere, entsprach der Inhalt des Referats einer ethnographischen Beschreibung der Aché als Wildbeuterkultur, unter Berücksichtigung ihres geographischen Settings, ihrer Wirtschaftsweise und Sozialstruktur, ihrer religiösen Vorstellungen und natürlich ihrer Situation und Geschichte. Ist diese Einteilung einer Kultur in ›abzuarbeitende‹ Kapitel im universitären Kontext längst nicht mehr gängig – man findet sie weiterhin auf Homepages indigener Organisationen –, so bietet sie doch eine Annäherung an die materielle Kultur bzw. die Objekte, die ihre Bedeutung im Kontext ihres Verwendungszwecks finden. Ein direkter Umgang mit den Objekten blieb mir damals verwehrt. Ich musste mich auf Zeichnungen, Fotos und Beschreibungen stützen. Doch blieben mir von dem Referat über die Aché drei Lehren im Gedächtnis, die dem damaligen Zeitgeist der Ethnologie-Studierenden entsprach, die ich hier in den Worten Münzels und Meinhard Schusters (zitiert in Münzel) wiedergeben möchte:

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Der Wald wird weitgehend so belassen, wie man ihn vorfindet, um in ihm zu jagen. Werkzeuge werden durch möglichst geringe Verwandlung der natürlichen Rohstoffe hergestellt. Die materielle Habe der Aché ist in ihrer großen Einfachheit ein Ausdruck dieser Haltung (Münzel 1983: 175).1 Der gegenständliche Kulturbesitz … zeichnet sich nicht durch besondere Vielfalt aus; man kennt nur wenige Objekte, hat diese aber mit erstaunlicher Meisterschaft durchgebildet, so daß sie den von ihnen verlangten Dienst vorzüglich verrichten (Schuster 1974: 349, in Münzel 1983: 218).2 Die Aché sind ein kleines Volk … bis vor kurzem überwiegend oder ganz auf Jagd und Sammeln wildwachsender Früchte und Wurzeln spezialisiert. Entsprechend haben sie ökologische Nischen eingenommen … Die fortschreitende wirtschaftliche Erschließung hat diese Nischen heute [wir sprechen von den 1980er Jahren, Anm. Autorin des Artikels] erfaßt, die Aché wurden immer weiter zurückgedrängt, ihre Gruppen schließlich aufgelöst (Münzel 1983: 23).3 Die meisten der ausgestellten Objekte und Fotographien der Aché waren laut Begleitbuch übrigens von dem österreichischen Pflanzer und Forscher Friedrich C. Mayntzhusen in den Jahren 1910-1913 gesammelt worden (Kelm 1983: IV) und werden im Frankfurter Weltkulturen Museum, teils im Berliner Ethnologischen Museum aufbewahrt. Der große Sammelkorb der Aché,4 der sich heute in der Marburger Völkerkundlichen Sammlung befindet, präsentierte sich auch damals der Öffentlichkeit, und zwar, wie ich meine zweite Begegnung vorwegnehmend reflektiere, in doppelter Hinsicht. Zum einen als dreidimensionales, stummes Objekt, ein aus nur einem Palmwedel der Pindó-Palme geflochtener Korb, der dem Sammeln von 1

Diese Aussage relativierte ich allerdings nicht, wie es Münzel in weiteren Textpassagen tat. Für mich waren die Aché somit die Bewahrer des Regenwalds, für Münzel handelten sie aus Erfahrung und Zweckgebundenheit (siehe Münzel 1983: 174). 2 Die Aché waren also alles andere als ›materialistisch‹. 3 Leider eine never-ending-story: Entzug von Land wird auch aus jetziger Zeit wieder berichtet, siehe unten. 4 Siehe Zeichnung des Sammelkorbs in Münzel 1983: 217.

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Früchten und dem Tragen von Kindern diente und daher in seiner Benutzung als Gegenstück zum Bogen des Mannes nur den Frauen vorbehalten war (Clastres 2011 [1968]). Zum anderen als Foto, das aus dem Korb ein Werkzeug in den Händen von Kolonisten und Missionaren bei der Entführung von Aché-Kindern zeigt. Gewohnt in den Körben zu sitzen, nahmen die Kleinen ohne Scheu ihren Platz darin ein und wurden ihren Eltern gestohlen. Das fotographisch festgehaltene Geschehen (Münzel 1983: 74, das Foto stammte bereits aus dem Jahr 1898, Dr. Endlich), machte aus dem Korb mit seinem lebendigen Inhalt auf dem Rücken des Kolonisten ein neues Objekt: ein Objekt, das nicht mehr schweigt, sondern schreit. 2. Begegnung Fast drei Jahrzehnte später wurde ich Mitarbeiterin in der Marburger Völkerkundlichen Sammlung. Aus Anlass des 5. Treffens deutschsprachiger Südamerika- und KaribikforscherInnen, das in der Universitätsstadt stattfand (29.09.-03.10.2010), entstand die Ausstellung ›Vermächtnisse – Südamerika und die Völkerkunde in Marburg‹ in den Gängen des Instituts, damals noch im Kugelhaus. Analog zu der Tagung, die WissenschaftlerInnen mit unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten und -regionen innerhalb des Kontinents zusammenführte, präsentierten wir Gegenstände aus unterschiedlichen Kulturen und kulturellen Kontexten. Die Völkerkundliche Sammlung in Marburg beherbergt etwa 1.200 ethnographische Objekte aus verschiedensten Regionen und Kulturen Südamerikas. Es war natürlich unmöglich, alle in der Sammlung vertretenen Kulturen mit einzubeziehen. Bei der Auswahl der Objekte stand jedoch nicht die Inszenierung von Kultur im Vordergrund, sondern wir gingen von dem Konzept des Vermächtnisses aus, d.h. wir verwendeten die Objekte zweifach als Stellvertreter: als Repräsentanten der Kulturen, die sie herstellten, verwendeten und veräußerten, und als Zeugnisse von SammlerInnen und ForscherInnen, die sie auf Reisen und Forschungsaufenthalten in Südamerika erwarben und sie der Völkerkundlichen Sammlung überließen. Die Objekte in der Ausstellung vermitteln somit nicht nur einen Einblick in die regionale und kulturelle Vielfalt Südamerikas, sondern widerspiegeln auch die Sammlungsge-

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schichte und sind zum Großteil mit vergangenen und laufenden Forschungen im Fachgebiet Kultur- und Sozialanthropologie/Völkerkunde verbunden, hieß es im Eingangstext der Ausstellung. Ein Ausstellungsbereich war den Aché gewidmet, die zweifellos eine wichtige Rolle innerhalb der Völkerkunde in Marburg einnehmen. Es war mein erster direkter, ›handgreiflicher‹ Kontakt mit ihren Objekten, denen ich jetzt zunächst wieder als materielle Zeugnisse einer ›Wildbeuterkultur‹ begegnete. Wieder wurde ich mit der Kargheit, aber auch mit dem absolut praktischen, meisterhaft ausgebildeten zweckdienlichen Charakter des materiellen Besitzes konfrontiert. Neben der Schmucklosigkeit ist das relativ leichte Gewicht der Objekte ein Hauptmerkmal, das sie leicht transportierbar machte. Der bereits genannte große Sammelkorb der Frauen wiegt zum Beispiel trotz seines großen Fassungsvermögens lediglich 900 Gramm. Die Klinge der Steinaxt war ohne Verschnürung in das Holz des Schaftes getrieben; ihre abgerundete Form eignete sich bestens für das Aushöhlen von Bäumen beim Honigsammeln und für das Zerstampfen von Palmmark. Der Tontopf diente zur Aufbewahrung von Honig und anderen flüssigen Stoffen. Speisen wurden eher geröstet als gekocht, daher erübrigte sich die Herstellung feinerer Keramik. Von allen Objekten hat mich eines allerdings am meisten beeindruckt, das im Begleitbuch der Frankfurter Ausstellung als ›Schnur mit gestielten Nagetierzahnmeißeln‹ (Münzel 1983: 229, Zeichnung unter i) geführt wird. Das wie „Schmuck“ anmutende und um den Hals getragene Objekt aus Knochen- und Nagetierzähnen ist ein Bund aus fünfzehn Werkzeugen zur Holzbearbeitung. Man verwendete es vornehmlich zur Herstellung von Pfeilen, vormals wichtigste Waffe zur Existenzgrundlage. Seine Herstellung beschreibt Münzel wie folgt: Vor allem für die Bearbeitung von Holz wird ein Nagetierzahn, von paka, Goldhase oder Wasserschwein, auf den Oberschenkelknochen eines Affen gesetzt … Das eine Endstück des Knochens wird abgeschlagen, so daß dort der Zahn in die Knochenröhre eingeführt werden kann, das andere Endstück wird durchbohrt, damit man das Werkzeug auf einer Schnur aufreihen kann. Der Zahn wird durch eine Umwicklung von Bast des Philodendron oder der Urea baccifera 435

am Knochen befestigt. Auch dieses Schneide-, Bohr- und Meißelinstrument wird in mehreren Exemplaren mitgeführt, die man nacheinander aufbraucht (Münzel 1983: 232). Für mich ist das Gerät genial, schließlich machte man sich die Beobachtung aus der Natur zu Nutze, dass Nagetiere scharfe Zähne besitzen. Darüber hinaus beinhaltet es den Gedanken, dass man bei Bedarf stets Ersatz zur Verfügung hat, denn die Schärfe eines Zahns nutzt sich ab. Die Erfahrung führt zu einem Lösungsansatz, den wir bei ›modernen‹ Schneidegeräten (wieder-)finden. Doch handelt es sich bei uns nicht nur um die Kopie einer Idee dahinter, deren Initialzündung längst stattgefunden hat? Auch Mark Münzel folgt diesem und ähnlichen Gedanken. Sie finden sich wohlformuliert im ersten Kapitel des bereits zitierten Ausstellungbegleitbuchs ›Gejagte Jäger‹ wieder: ›Die Aché – Klüger als wir?‹. Doch kommen wir zurück zu der Ausstellung im Kugelhaus. Ihrem zweiten Anliegen entsprechend rückten neben den einzelnen und den gesamten Aché-Gegenständen der Sammlung objektbiographische Aspekte in den Vordergrund, die ich hier im erweiterten Sinne von Münzel verstehe und auf prä-museale und museale und dazwischenliegende Lebensphasen des Objekts beziehe (Münzel 2011/2012: 16). Sie verlangen damit einen differenzierten Blick auf die mit ihrem Dasein verbundenen Menschen: auf die Aché und auf den Ethnologen. Anfang der 1970er Jahre erreichte die Verfolgung und Dezimierung der Aché unter der Diktatur Alfredo Stroessners einen traurigen Höhepunkt. Ihr Lebensraum, der Wald, sollte für die Rinderzucht nutzbar gemacht werden, so dass die wenigen noch frei lebenden Aché Opfer gewaltsamer und grausamer Unterwerfungs- und Missionierungspraktiken wurden. In diesen Jahren begannen Anthropologen sich mit Ethnozid und Indianerpolitik auseinanderzusetzen. 1970 hatten der Internationale Amerikanistenkongress in Lima und 1971 eine sich anschließende Konferenz auf Barbados explizit gefordert, der gewaltsamen Missionierung und der kolonialen Unterdrückung der indigenen Minderheiten Einhalt zu gebieten (Münzel 2008: 10, Weber 2016: 6). In Münzel fanden die Aché ihren unermüdlichen Fürsprecher. Er führte 1971-1972 eine einjährige Feldforschung in der Colonia Nacional Guayakí in Cerro Moroti, einem kleinen Ort nahe San Joaquín im nördlichen OstParaguay, durch. Es war einer der ersten Orte der erzwungenen Sesshaftmachung ehemals nomadisierender Waldindianer des Landes. Hier war es, 436

wo Münzel neben einer Vielzahl ethnographischer Aufzeichnungen mit zum Teil erschütternden Dokumenten seine Sammlung ethnographischer Objekte erwarb. Das Schicksal der Aché sollte erheblich dazu beitragen, die blutige Verfolgung indigener Gruppen auf die politische Weltbühne und zu ihren gerichtlichen Instanzen zu tragen (siehe dazu Beiträge in Parellada und Beldi de Alcántara 2008). Denn nach Jahren der Verleugnung dienten die Veröffentlichungen über den Genozid an den Aché von Münzel und seinen Wegbegleitern später auf internationaler Ebene als Grundlage einer Anklage gegen das Regime Stroessner (Rehnfeldt 2017). Musste Münzel in den ››dunklen Zeiten‹‹ (Melià 1997: 31) Paraguay verlassen, so hat er durch seinen Einsatz für die Aché inzwischen einen festen Platz (nicht nur) in der Geschichte der paraguayischen Anthropologie (Melià 1997, Malinowski 2003: 55, Rehnfeldt 2017). Mit der Loslösung aus ihrem Herkunftskontext und ihrer Reise nach Europa bis hin in die Marburger Völkerkundliche Sammlung treten auch die Objekte aus dem Wald hervor, um in einer Metapher im Münzel‘schen Sinne zu sprechen (vgl. Münzel 2011/2012). Sie treten gleichsam ein in die Beziehungen von Paraguay mit dem Rest der Welt, i.e. Hessen: ihre Bedeutung als bloße Zeugnisse einer ›Wildbeuterkultur‹ erweitert sich um eine politische und eine fachgeschichtliche Ebene, sowohl hier als auch da. Sie erfüllen damit nicht nur einen Zweck als kulturelle Repräsentationen, sondern auch als Zeugen der Anklage und einer Anthropologie, die indigene Gruppen in den Blick nimmt und sich aktiv für sie einsetzt, auch durch das Medium Ausstellung (wie in Frankfurt geschehen, siehe Beispiel Sammelkorb). 1989 übernahm der Sammler der Aché-Objekte und Kurator der Frankfurter Ausstellung die Leitung des Fachgebiets Völkerkunde (heute ›Kultur- und Sozialanthropologie‹) in Marburg und damit auch die Leitung der Völkerkundlichen Sammlung, bis er 2008 in den Ruhestand ging. Es ergab sich von selbst, dass der Geschichte der Aché und ihrer Erforschung in einer Ausstellung zum Thema ›Vermächtnisse‹ (wenn auch mit den bescheidenen Möglichkeiten einer universitären Sammlung) Rechnung getragen werden musste.

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3. Begegnung Ein weiteres Jahr später (2011) kam meine Kollegin Antje van Elsbergen mit einer seltsamen Bitte auf mich zu: Im Rahmen ihrer Lehrveranstaltung, einer Ringvorlesung zum Thema ›Lassen Sie mich durch, ich bin Ethnologe: Berufsbilder und Berufsbildner der VKRW [Völkerkunde und Religionswissenschaft]‹ hielt Herr Münzel einen Vortrag.5 Für den Vortrag, in dem Münzel zeigte, wie es eine Verbindung zwischen Ethnologie und Aktivismus geben kann und was von der Ethnologie aus Anlass ist zu agieren, benötigte er ein Anschauungsobjekt aus der Sammlung. Ob ich wohl tragen helfen könnte. Es wäre der ›Totschläger‹ der Aché. Mark Münzel und ich gingen also durch die Marburger Oberstadt, ich den – in Plastik gehüllten – Totschläger tragend. Bei diesem handelt es sich um einen etwa 1,60 m langen Gegenstand aus Holz, der sich am oberen Ende einem Ruder ähnlich verbreitet und ursprünglich mit Ruß und Baumharz schwarz angemalt war. (Die Farbschicht des Marburger Totschlägers ist allerdings teilweise abgeplatzt). Der Totschläger sei eigentlich gar kein Totschläger, denn er diene nicht zum Töten, erklärte mir Münzel bei unserem Gang durch die Stadt. Es folgte eine Erläuterung der Funktion des Objekts, die ich rückwirkend nur mithilfe des Begleitbuchs und anderen Literatur- und Internethinweisen nachvollziehen kann. Im Buch bezeichnet Münzel den ›Totschläger‹ als Keule, die in Verbindung mit den tomombú genannten Riten stand, übersetzt ›den Kopf schlagen und verletzen‹. Dabei handelte es sich um rituelle Duelle zwischen jungen Männern, die zu zweit oder zu mehreren gegeneinander antraten und sich mit dem Holz Schläge versetzten (Münzel 1983: 270-272). Bei der nördlichen Gruppe der Aché war tomombú einst auch ein Ritus zur Initiation junger Männer (Münzel 1983: 272). Das Ritual fand statt, nachdem der Junge bereits das schmerzhafte Einsetzen eines Lippenstäbchens und das ebenfalls schmerzhafte Skarifizieren des Rückens durchlitten hatte. Der Initiand wurde gereizt und geschlagen, bis ihn ein älterer Mann mit der Keule niederschlug und er das Bewusstsein verlor. Die durchlebte Wut des jungen Mannes sollte sich in spätere Jagderfolge umsetzen. In bewusstlosem Stadium wurde ihm ein Stück aus der Kopfhaut geschnitten, dieses geröstet und verzehrt (ebenda). 5

E-Mail von Antje van Elsbergen vom 19.06.2017.

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Die jungen Männer erfuhren während des tomombú-Ritus die Behandlung wie Feinde, womit Münzel auf einen weiteren Kontext verweist. Denn auch bei anderen Übergangsritualen wird ein entsprechendes Muster offenbar. So glichen auch die Begräbnisriten der Behandlung von Feinden, wie die französische Anthropologin Hélène Clastres erkannte (Clastres 1968: 72, zitiert in Münzel 1983: 272). In beiden Fällen geht es um den Einstieg in eine neue Phase, und darum, daß beim Übergang eine gefährliche Wildheit freigesetzt wird (die rohe Jagd- und Kriegslust des jungen Mannes, seine Begierde nach Frauen; die schädliche Rachsucht des Totengeistes), die durch die Riten gezähmt werden soll, als wäre der Mensch in diesem Augenblick ein Feind, den man bezwingen muß (Münzel 1983: 272). Hier deuten sich vielfältige Bedeutungsebenen an, die die tomombú-Riten besaßen.6 Die rituellen Auseinandersetzungen waren eng verflochten mit der Bedeutung der Jagd und damit der Beziehung der Aché zum Wald. Außerdem zeigen sie eine Weltsicht, die Münzel wie folgt charakterisiert: Die Welt scheint für die Aché keine statische Realität zu sein, sondern aus ineinander verwobenen und sich verschiebenden, unterschiedlichen Realitäten zu bestehen. Ein Ding ist nicht immer das gleiche Ding, sondern hat unterschiedliche Erscheinungsformen, je nachdem, wer es wie betrachtet (Münzel 1983: 40). Auch der Mensch nimmt verschiedene Erscheinungsformen an. Tiere und Bäume gelten als Vorfahren der Menschen (siehe auch Clastres 1984: 20). Diese Einschätzung ähnelt dem Konzept, das Ernst Halbmayer bei seinen Analysen der carib-sprachigen Yukpa (Halbmayer 2001, 2013) als ›sozio-kosmologisch‹ bezeichnet, und das auf einer mythischen Ausdifferenzierung der jetzigen Welt und der menschlichen Identität der Yukpa basiert (2001: 55).

6

Die Schilderungen beziehen sich auf vergangene Zeiten; wie es heute aussieht, kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden. Zur aktuellen Bedeutung des tomombú s.u.

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Diesem Konzept zufolge existieren mehrere Welten mit ihren Akteuren nebeneinander, die zwar gegenwärtig, aber unsichtbar sind, und eine äußerst wichtige Rolle im Leben der Yukpa spielen. Denn in bestimmten Momenten kommt es zu Kontakten, in denen sie als potentielle Feinde auftreten und als solche behandelt werden müssen. Rituale legen Gegnerschaft und Handlungsmuster fest, zu denen Besänftigung gehört, ebenso wie ritualisierte Formen der Gewalt, die zwischen und innerhalb einzelner Gruppen im ›Hier‹ und ›Jetzt‹ stattfinden. Bei den Aché scheinen die tomombú-Riten eine ebensolche sozio-kosmologische Ordnung auszudrücken (ob die Quellenlage mythische Belege erlaubt, wie bei den Yukpa, kann ich in diesem Rahmen nicht weiter untersuchen) und auch sie besaßen umfassende soziale Dimensionen in der gegenwärtigen Welt der Aché (bezogen auf die vormissionarische Zeit), die in lockeren Familienverbänden lebten. Denn wenn eine Gruppe durch historische Ereignisse den Kontakt zu ihrer ursprünglichen Gruppe verlor und eine eigene Gruppe formierte, so war dank tomombú eine Wiedereingliederung möglich, »institución nodal para la afirmación étnica y la cohesion interna« (Edep Piragi 2008: 185). Bleibt noch zu erwähnen, dass selbst die Frauen beim tomombú eine Rolle spielten, denn sie sahen keinesfalls nur zu. So schildert Hill: In all club-fights some bystanders (including women) would rush in and try to hamper or disarm men who were in combat with their father, sons or brothers. Men who killed others would be decorated with ritual scars on their body and face.7 Und auch Münzel gibt an: Am Boden liegend, wird er [der Initiand] weiter gepeinigt, bis er möglichst das Bewußtsein verliert. Dabei soll sich besonders die Frau hervortun, die seine Freundin oder mit ihm verheiratet oder seine vermutlich zukünftige Frau ist. Es heißt, daß sie ein Interesse daran hat, ihn zu quälen, weil seine Wut sich in Jagderfolge umsetzen wird (Münzel 1983: 272).

7

Siehe http://www.public.asu.edu/~krhill3/Ache.html (26.09.2017).

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Der ›Totschläger‹, ein auf den ersten Blick unspektakuläres Objekt in Form eines Ruders, wird so zu einem wichtigen ›Ikon‹, einem wichtigen Bedeutungsträger innerhalb und außerhalb der Aché-Gesellschaft, der beim tomumbú dem Aushandeln komplexer sozio-kosmologischer und sozialer Beziehungen diente. Es wird verständlich, dass sich gerade dieses Objekt im Rahmen eines Vortrags mit Bezug zu den Aché als Aufhänger eignet. Seine weitreichende Bedeutung wiegt viel schwerer als sein physikalisches Gewicht. 4. Begegnung Sie fand 2014 statt, als die Völkerkundliche Sammlung umzog. Im Zuge dessen wurden die Objekte der Aché von ihrem Standort Kugelhaus, Turm Mitte, in die neuen Räumlichkeiten der Sammlung verlagert, ausgepackt und neu magaziniert. Damit wären wir zurück bei Schrank Nr. 32 und der Eingangsbeschreibung. Im Museum vergesellschaften sich die Aché-Objekte mit einer Vielzahl von Objekten: In dem nach vorwiegend regionalen Gesichtspunkten geordneten Magazin liegen sie neben drei Taschen aus Sisal (Agavenfasern) ebenfalls aus Paraguay (weitere Details unbekannt) und einem Pferdegeschirr mit ledernen Steigbügeln aus Chile (ohne weitere Angaben). Im Schrank links befinden sich ein Silberschmuck der Mapuche (Chile) sowie einige archäologische Artefakte oft ungeklärter Herkunft. Zur rechten Seite sind diverse Objekte aus Kolumbien untergebracht. Neben ihrer geographischen Zuordnung werden die Gegenstände der Aché aber auch übergreifenden musealen Objektkategorien untergeordnet. Der eben beschriebene Totschläger zum Beispiel findet sich als Initiationsgegenstand wieder und rückt damit ideell gesprochen neben zwei Masken der Tikuna aus Nordwestbrasilien und sogenannte Ameisenhandschuhe der Sateré Mawé ebenfalls aus Nordbrasilien. (Auf Initiationsgegenstände anderer Regionen und Kontinente werde ich in diesem Rahmen nicht eingehen). Die Tikuna-Masken aus Rindenbaststoff brachte Peter Paul Hilbert (1914-1989) von einer Forschung 1960 aus dem Amazonas-Gebiet Brasiliens mit. Sie sind als erste Objekte aus Amazonien in die Völkerkundliche Sammlung eingegangen und waren daher auch in der Ausstellung ›Vermächtnisse‹ zu sehen. Vergleichbare Masken stellen böse Dämonen und 441

Geister dar, die junge Mädchen beim Initiationsritual erschrecken. Nach ihrem Einsatz werden sie in der Regel verbrannt (vgl. van Elsbergen 2001). Ähnliche Masken werden auch gegenwärtig im rituellen Kontext verwendet, andere kommerziell angefertigt und in Läden für Touristen oder im Online-Handel verkauft. So lautete der Titel eines eingehenden Vortrags ›Souvenirs aus der Welt der Geister‹, (Arno Holl, Vortrag Weltkulturen Museum 23.08.2017). Auch die Sammlung ist dank Ernst Halbmayers im Besitz solcher Masken. Sie sind nicht unbedingt anziehend, aber in ihrem Äußeren zumindest ›exotisch‹ und durch den Begriff ›Maske‹ auch für den Laien verständlich, daher als Reiseandenken offensichtlich gefragt. Die Ameisenhandschuhe sind jüngeren Datums. Sie stammen aus einer Feldforschung des Kollegen Wolfgang Kapfhammer in Brasilien 2009 und 2010 im Rahmen des DFG-Projekts ›Natur, Krise und Reform bei den Sateré-Mawé‹. Auch sie finden sich ausgestellt wieder, allerdings virtuell.8 Für die Handschuhe gibt es meines Wissens in unserer Gesellschaft keine bekannten vergleichbaren Objekte. Sie sind durch ihre Anwendung bei dem sehr schmerzhaften Initiationsritual spektakulär, bei dem sich als Höhepunkt die männlichen Jugendlichen einen geflochtenen Handschuh überstreifen müssen, in dem sich stechende Ameisen befinden.9 Beide Initiationsobjekte, Tikuna-Masken und Ameisenhandschuhe, sind als rituell zu betrachten, da sie den Zugang zu einer mythischen Welt herbeiführen. Sie haben aber auch eine Umdeutung und Bedeutungserweiterung erfahren, die die Objekte in das ›Hier‹ und das ›Jetzt‹ holen: die Masken als verkäufliche Ware, die zumindest einen Anteil des Verkaufswertes an die Tikuna zurückgeben, die Ameisenhandschuhe als Identitätszeichen, die eine wichtige Rolle im Kontext von Ethnizität einnehmen. Durch Medialisierung der Initiationsprüfung dürften auch hier wirtschaftliche Aspekte mit einfließen. In der Veräußerung ihrer Objekte und sogar ihrer Rituale wird die aktive Rolle der beiden genannten Gruppen im globalen (Markt-)Geschehen sichtbar, die wirtschaftlich ihr Überleben garantiert. Wie sieht es jetzt bei den Aché aus? Spielen ihre Objekte, i.e. der ›Totschläger‹ und die tomombú-Riten gegenwärtig in irgendeiner Weise eine Rolle?

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Siehe http://www.online.uni-marburg.de/satere/ (26.09.2017). Siehe http://www.online.uni-marburg.de/satere/religion/initiation/index.htm (26.09.2017).

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5. Begegnung Ich sitze an der Ausarbeitung dieses Artikels und gehe dieser Frage nach. Die letzte noch frei in den Wäldern lebende Aché-Gruppe gab 1978 ihre ›traditionelle‹ Lebensweise auf.10 Die tomombú-Kämpfe wurden verboten und damit die ›Entsakralisierung der Beziehung Mensch-Natur‹ eingeleitet (Edep Piragi 2008: 192). Seitdem sind vier Jahrzehnte vergangen. Derzeit bilden die Aché sechs Gemeinden in vier Departamentos von Paraguay. Der offizielle Zensus (Dirección de Encuentas, Estadísticas y Censos DGEEC) von 2013 erfasste insgesamt 1942 Aché. Sie leben vorwiegend als Kleinbauern.11 Seit 2008 gibt es eine Federación Nacional Aché,12 die 2013 und 2014 – wenn auch bislang ohne Erfolg – in Argentinien strafrechtliche Klagen nach dem Weltrechtsprinzip gegen die paraguayische Regierung erhob und die Untersuchung der während des Regimes von Stroessner verübten Menschenrechtsverletzungen einforderte.13 Wieder sind Aché vom Entzug ihrer Ländereien bedroht.14 Und ihre Objekte? Meine Nachforschungen setze ich bei ›studentischen Hausarbeiten‹ an, die im Archiv der Sammlung lagern. Sie entstanden zu Zeiten des Magisterstudienganges, als jeder Studierende im Rahmen der ›Museumsübung‹ ein konkretes Objekt aus der Völkerkundlichen Sammlung untersuchte. Die Arbeiten über Objekte der Aché – darunter auch ›Sammelkorb‹ und ›Totschläger‹ –, sind in den Jahren 2001-2005 verfasst und stellen eine wichtige Datenquelle dar. Da die Studierenden Interviews mit dem Sammler führten, enthalten sie Daten, die über die Angaben publizierter Quellen hinausgehen.   10

Siehe http://www.staff.uni-marburg.de/~muenzel/arhek/xemandua.html (26.09.2017). 11 Siehe http://www.tierraviva.org.py/?pueblo=ache (26.09.2017). 12 Siehe http://www.linaje.org/v1/index.php (26.09.2017). Die Angaben über die Aché sind widersprüchlich. An dieser Stelle ist es unmöglich, differenziert auf die verschiedene Gruppierungen innerhalb der Aché und ihrer Organisationen einzugehen. S. auch Edep Piragi (2008:204ff.), er spricht von sieben Gemeinden. 13 Siehe https://www.amnesty.de/jahresbericht/2015/paraguay (26.09.2017). 14 Siehe http://www.abc.com.py/edicion-impresa/politica/los-ache-en-pie-deguerra-por-el-despojo-de-sus-tierras-1537186.html (26.09.2017).

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In diesen Arbeiten findet sich zwar keine Anmerkung zur etwaigen heutigen Verwendung der Gegenstände, wohl aber darauf, dass alle Objekte der Aché entweder Käufe oder Geschenke gewesen seien. Jedoch auch Geschenke erforderten früher oder später eine Art von Gegenleistung, laut Münzel. Er beschrieb seine Beziehung zu den Aché als recht kommerziell. »Es fand ein ständiger Austausch von Gütern statt«.15 Nicht so sehr die Gegenleistung, sondern das aktive Interesse der Aché am Handel mit dem Forscher möchte ich hier hervorheben, das auch bei den anderen indianischen Gruppen beobachtet wurde. Denn das lässt auf einen – wenn auch eigenen – Geschäftssinn schließen. Ich setze daher meine Suche nach Antwort im Internet fort, wobei ich konkret ›artesanías Aché Paraguay‹ und ›tomombú Aché Paraguay‹ eingebe. Tatsächlich finden sich Hinweise auf das (Kunst-)Handwerk der Aché auf Webseiten von staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen. 2013 findet ein Festival Cultural Aché statt, organisiert von der Secretaría Nacional de Cultura mit folgendem Programm: • • • • • •

La inauguración del Centro Cultural Jamo Mbepurangi El debut del ›Elenco Teatral Tomumbu La presentación del Documental ›Aché Mbereka‹ El concurso de Arquería Aché El desfile Aché La presentación de documentales 16

Anwesend sind neben Vertretern des Kulturamts Autoritäten der Gemeinde sowie ›eine Gruppe von Touristen‹. Auch ein Jahr später gibt es ein Festival, das die Zeitung ›abc‹ wie folgt ankündigt: »Rescatando los valores

15

Interview mit Mark Münzel am 24.01.2005 in der studentischen Hausarbeit von Nicole Emmerich. 16 Siehe http://www.cultura.gov.py/2013/08/festival-cultural-ache-en-la-comunidad-chupa-pou/ (26.09.2017).

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milenarios del pueblo Aché en el novel distrito de Yby Pytã, departamento de Canindeyú«.17 Die Worte der Aché-Föderation sind deutlicher: En sus esfuerzos para impulsar un modo de gestión participativa de los recursos territoriales e identidarios, LINAJE promueve la revalorización y comercialización de la artesanía femenina como eje estratégico de compromiso firme de las mujeres Aché en la defensa de su patrimonio ambiental y cultural.18 Zum heutigen Stellenwert der Jagd und der Kunst des Jagens ist auf der Seite eines Verbandes indigener Völker Paraguays Folgendes zu entnehmen: Dentro de las actividades de subsistencia aún practican la caza, la pezca y la recolección con técnicas tradicionales como el arco y flecha que en la actualidad constituye casi un deporte competitivo entre ellos.19 Und schließlich öffnet sich eine etwas obskure selbsterstellte Homepage mit dem Hinweis auf einen Dokumentarfilm in Vorbereitung: TÕMUMBU, es un largometraje documental en preparación. Resume 5 años de vivencia con los indígenas aché (la gente verdadera) de 7 comunidades en las selvas subtropicales del Paraguay. Habla de historias, de ancestros, de realidades y denuncias. Retrata un mundo simbólico y humano pocas veces permitido ver a los occidentales. Recorre tristezas y felicidades y devuelve al escenario de los propios indígenas uno de los rituales más antiguos y más trascendentes conocidos en la etnología universal el quebrado de cabeza. Director-Realizador: Miguel H. López. Productora: Mirta Riveros. Grabada en 7 comunidades en 4 departamentos y hablada en español, dos lenguas aborígenes y 3 dialectos internos.20

17

Siehe http://www.abc.com.py/nacionales/ache-comparten-conocimientos1282306.html (26.09.2017). 18 Siehe http://www.linaje.org/artesania.php (26.09.2017). 19 Siehe http://www.tierraviva.org.py/?pueblo=ache (26.09.2017). 20 Siehe tomumbu.weebly.com/ (26.09.2017).

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Leider führen meine Recherchen zu weiteren Angaben über die Autoren oder über ein Datum ins Leere. Zum Schluss Für die Aché und für die Objekte hat längst ein neues Zeitalter eingesetzt, wie die Beispiele zeigen. Die Gegenstände haben andere Aufgaben und Daseinsbereiche erobert. Da Tätigkeiten wie Sammeln und Jagen bei den meisten Aché keine große Rolle mehr einnehmen, werden die Körbe zum Verkauf – nebst Kursen zur Herstellung – angeboten und die Bögen bei sportlichen Wettkämpfen genutzt. Um die tomombú-Kämpfe ist ein Nimbus entstanden, der sie für eine mediale Darstellung prädestiniert. Aché präsentieren sich auf öffentlicher Bühne und öffentlichen Märkten und nehmen an politischen Diskursen über Kulturerbe und Rechte indigener Minderheiten teil – nicht immer unumstritten. Dieser Entwicklung geschuldet vergesellschaften sich die Objekte aufs Neue mit ethnographischen Gegenständen anderer indigener Gruppen, über das Museum hinaus. Sie werden neben einer Einkommensquelle zu Aché-spezifischen Wahrzeichen, die trotz Popularisierung die Erinnerung aufrechterhalten und eine Brücke zur Vergangenheit bilden. In der Völkerkundlichen Sammlung werden die Objekte der Aché weiterhin der Lehre und Begegnungen dienen, die sie mit alte(n) und neue(n) Geschichte(n) zusammenbringen. Dafür treten sie aus dem Wald und aus dem Magazin heraus, in dem sie sich verstecken. Sie dienen als Berührungspunkte zwischen den Welten und zwischen den Menschen, die ähnlich wie im Weltbild der Aché nebeneinander existieren, bis sie sich neuerlich treffen, so sicherlich auch ein 6. Mal. Literatur Clastres, Hélène 1968. Rites Funéraires Guayaki. Journal de la Société des Américanistes 57, 63-72. Clastres, Pierre 1984. Chronik der Guayaki: Die sich selbst Aché nennen, nomadische Jäger in Paraguay. München: Trickster. —— 2011 [1968]. El Arco y el Cesto. In: Augusto Roa Bastos (Comp.) Las Culturas Condenadas: Colección Pueblos Originarios, Roa Bastos y Multilingüismo. Asunción: Fundación Augusto Roa Bastos, 181-205. 446

Edeb Piragi, Philippe 2008. ›…Y se hizo la luz‹ : Proceso de Transfiguración Étnica y Resiliencia entre los Aché de Paraguay. In: Alejandro Parellada und María de Lourdes Beldi de Alcántara (Hg.) Los Aché del Paraguay: Discusión de un Genocidio. Buenos Aires: Ayosa Impresores, 179-210. Halbmayer, Ernst 2001. Socio-Cosmological Contexts and Forms of Violence: War, Vendetta, Duels and Suicide among the Yukpa of NorthWestern Venezuela. In: Bettina E. Schmidt und Schröder, Ingo W. (Hg.) Anthropology of Violence and Conflict. London und New York: Routledge, 61-75. —— 2013. Securing a Life for the Dead among the Yukpa: the Exhumation Ritual as a Temporary Synchronisation of Worlds. Journal de la Société des Américanistes 99 (1): 105-140. Kelm, Heinz 1983. Vorwort. In: Mark Münzel Gejagte Jäger: Aché- und Mbía-Indianer in Südamerika, Teil 1. Die Aché in Ostparaguay. Frankfurt am Main: Museum für Völkerkunde, IV-VII. Malinowksi, Isabel o. J. Antropología Paraguaya. Asunción: Centro de Estudios Antropológicos de la Universidad Católica Biblioteca Paraguaya de Antropología. Melià, Bartomeu, Luigi Miraglia, Mark Münzel und Christine Münzel 1973. La agonía de los Aché-Guayakí: Historia y Cantos. Asunción: Centro de Estudios Antropológicos, Universidad Católica ›Nuestra Señora de la Asunción‹. Melià, Bartomeu 1997. Antropólogos y Antropología en el Paraguay. Horizontes Antropológicos 3 (7), 24-35. Münzel, Mark 1983. Gejagte Jäger: Aché- und Mbía-Indianer in Südamerika, Teil 1. Die Aché in Ostparaguay. Frankfurt am Main: Museum für Völkerkunde. —— 2008. Prólogo: 35 Años Después. In: Alejandro Parellada und María de Lourdes Beldi de Alcántara (Hg.) Los Aché del Paraguay: Discusión de un Genocidio. Buenos Aires: Ayosa Impresores, 7-18. —— 2011/2012. Gegenstände, die sich im Wald verstecken. In: Julia Erb und Thorsten Euler (Hg.) Gefunden im Dazwischen: Aufzeichnungen zum Begriff der Transition. Gießen: Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Soziologie, 33-48. Parellada, Alejandro und María de Lourdes Beldi de Alcántara (Hg.) 2008. Los Aché del Paraguay: Discusión de un Genocidio. Buenos Aires: Ayosa Impresores.

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Constanze Dupont

Brett vorm Kopf Mythische Erzählungen auf den Storyboards von den Palau-Inseln im Pazifik Mythen, Legenden und Geschichten fesseln die Menschheit seit eh und je. So überrascht es auch nicht, dass Mark Münzel seine letzte Vorlesung ›Abschied vom Mythos‹ an der Philipps-Universität in Marburg im Wintersemester 2007/2008 stets mit der Erzählung einer Mythe beendete, bzw. mit dem Satz: »Und wie es weitergeht, erfahren Sie in der nächsten Sitzung.« Welches Schicksal würde wohl die zwei Protagonisten seiner mythischen Erzählung ereilen und würde es am Schluss ein Happy End geben? Dies war natürlich nicht der einzige, aber einer der Gründe, warum seine Veranstaltungen stets bis auf den letzten Platz gefüllt waren. In seinem zweibändigen Werk, welches begleitend zur gleichnamigen Ausstellung ›Die Mythen Sehen: Bilder und Zeichen vom Amazonas‹, die 1988 im Frankfurter Museum für Völkerkunde (heute Weltkulturen Museum) in Frankfurt am Main präsentiert wurde, thematisiert er die bildende Kunst1 von Amazonas-Indianern. Durch Beispiele lenkt er den Blick des Lesers auf indigene Kunstwerke und deren Bedeutung im sozialen Kontext (Münzel 1988: 11-13). In seinem einleitenden Aufsatz veranschaulicht Münzel – zur Einstimmung – die Grenzen der ethnologischen Kunstbetrachtung. Dieser Diskurs soll im Folgenden anhand eines regional ganz unterschiedlich verorteten Beispiels aufgegriffen und übertragen werden.

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Münzel merkt an, dass ›bildende Kunst‹ ein europäischer Begriff ist (1988: 11).

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Das Forschungsehepaar Augustin Krämer und Elisabeth Krämer-Bannow Die heutige Republik Palau gehört zu den westlichen Karolinen und besteht aus insgesamt 241 Inseln (mit Kleinstinseln sind es 343), von denen heute jedoch nur fünf bewohnt sind (Heermann 1996: 137). Den Großteil unseres Wissens über die mikronesischen Kulturen während der deutschen Kolonialzeit verdanken wir der Hamburger SüdseeExpedition unter Augustin Krämer (1865-1941), die 1908-1910 die mikronesischen Inseln erforschte. Bereits im Jahre 1905 war Augustin Krämer im Auftrag des Berliner Völkerkundemuseums zum ersten Mal nach Palau gereist. Ein weiteres Mal hielt er sich 1907 zu umfangreichen Studien auf den Inseln auf, um schließlich die Leitung der Hamburger Südsee-Expedition zu übernehmen. Während seiner Forschungen arbeitete er mit seiner aus Stuttgart stammenden Frau Elisabeth zusammen, die ihn von 1906 an auf seinen Reisen begleitete. Elisabeth Krämer-Bannow (1874-1945) dokumentierte u.a. die Web- und Flechttechniken auf den verschiedenen Inseln. Während ihr Mann Fotografien auf Glasplatten erstellte, konnte Elisabeth in Form von Aquarellen und Zeichnungen künstlerische Motive erfassen, die zum Teil für das männliche Auge nicht zugänglich waren (Heermann 2009: 31). 1910 kehrten die Krämers nach Deutschland zurück. Erst fünf Jahre später begann Augustin Krämer seine Aufzeichnungen in seinen Werken über Palau zu verarbeiten. Als Dolmetscher auf den Inseln wurde William Gibbon angestellt, ein naher Verwandter des ›Paramount Chief‹ Ibedul von Koror. Gibbon beherrschte die deutsche Sprache in Ansätzen und Krämer schildert, wie er es genoss, mit ihm Deutsch zu sprechen und ihn darin zu fördern (Krämer 1929: IX). Oftmals wird Augustin Krämer – gleich nach Adolf Bastian – als einer der Gründungsväter der institutionalisierten Ethnologie in Deutschland genannt, da er sowohl in der Anzahl wie auch in der Dauer seiner Forschungsreisen zu einem der strebsamsten und erfolgreichsten der forschenden Sammler des Faches zählt. In der Zeit zwischen 1893 und 1910 unternahm er insgesamt fünf Reisen in den Pazifik, von denen die beiden ersten jeweils ein Jahr dauerten. Insgesamt verbrachte er sieben Jahre im pazifischen Raum (Harms 2004: 51).

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Der ursprüngliche Marinearzt sammelte den größten Teil der Stuttgarter Mikronesien-Sammlung und hatte von 1911 bis 1915 das Amt des Direktors des Linden-Museums Stuttgart inne. Anschließend übernahm er den neu gegründeten Lehrstuhl für Völkerkunde an der Eberhard Karls Universität Tübingen (Heermann 2009: 31). Krämer begründete die Tübinger Sammlung und stellte dafür auch seine private Sammlung völkerkundlicher Objekte zur Verfügung, wobei fast die Hälfte der rund 4.000 Stücke von den pazifischen Inseln stammt. Als Krämer im Jahre 1933 formal aus dem Dienst der Universität ausschied, gingen seine Ethnographica als Schenkung in das Eigentum der Universität über (Harms 2005: 14-15). Leider wird seine Frau Elisabeth Krämer-Bannow nur selten als eigenständige Forscherin wahrgenommen, obwohl sie während der Reisen ein eigenes Aufgabenfeld übernahm: Sie dokumentierte das Alltagsleben der Frauen und im Speziellen deren handwerklichen Tätigkeiten. Dieser Bereich des täglichen Lebens wäre ihrem Mann in den meist matrimonialen Gesellschaften Mikronesiens verschlossen geblieben. Elisabeth begleitete ihren Mann auf seinen drei letzten Forschungsreisen und gemeinsam bildeten sie ein erfolgreiches Forschungsteam. Formal fungierte sie auf den Reisen als Zeichnerin und auch Fotografin. Die meisten ihrer Aquarelle, die zum Teil Gebäude der palauischen Insel Koror zeigen, befinden sich heute im Museum für Völkerkunde Hamburg. Auf den Rückseiten vermerkte sie die jeweiligen Orte, so dass heute dank ihrer genauen Arbeitstechnik die architektonische Landschaft Palaus des frühen 20. Jahrhunderts teilweise nachempfunden werden kann. Elisabeth trug damit einen erheblichen Anteil zum Gesamtergebnis der gemeinsamen Forschungsreisen bei. Harms merkt daher treffend an: Für die drei letzten Reisen kann man also, was die jeweiligen Forschungen angeht, nicht mehr von dem forschenden Sammler Augustin Krämer im Singular sprechen, sondern nur noch von dem Forscherehepaar Krämer, auch wenn dies in Bezug auf die Autorenschaft bei den Veröffentlichungen der Forschungsergebnisse keine angemessene Berücksichtigung gefunden hat (Harms 2004: 54). Dieser Umstand ist vielleicht dem Geschlechterbild der damaligen Zeit geschuldet.

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Neben den Ethnographica, die das Ehepaar Krämer sammelte, lagern in den Stuttgarter und Tübinger Sammlungen noch insgesamt ungefähr dreißig Gipsabgüsse von bemalten Balken aus Männerhäusern (bai) von den palauischen Inseln. Diese wurden nach sogenannten Abklatschen, die Elisabeth Krämer-Bannow angefertigt hatte, hergestellt und von ihr in den originalen Farben von Hand koloriert. Die Kunst der Versammlungshäuser Die Malerei der palauischen Inseln ist einzigartig in ganz Ozeanien: Nur hier findet man szenische Darstellungen, die in Form von Piktogrammen Geschichten mit Aktion und Erotik erzählen. Die Umrisse sind stark vereinfacht, die Personen werden en face oder im Profil dargestellt, eine Perspektive fehlt. Emotionale Veränderungen der Akteure werden durch Farbvarianten verdeutlicht, Schlangenlinien symbolisieren Sprache. Dargestellt sind lokal bedeutsame mythische Ereignisse, aber auch historische Überlieferungen und Illustrationen von Sprichwörtern (Heermann 2009: 50). Nicht nur die beiden Giebelfronten der Männerhäuser sind kunstvoll mit Mythen verziert, sondern auch auf den zumeist sieben Querbalken im Inneren der bai, die mit der Dachkonstruktion verstrebt sind, befinden sich Bildergeschichten. Die Geschichten wurden im Fachrelief ›geschrieben‹ und farbig ausgestaltet (Harms 2005: 49, Heermann 2009: 49). Zu den heute noch existierenden bai zählt das bai-rai-irrai in Airai auf der Insel Babeldoab, ein rekonstruiertes beziehungsweise wiederhergestelltes, zirka dreihundert Jahre altes Versammlungshaus, eines von noch vier existierenden Gebäuden dieser Art: Eine Rekonstruktion eines bai befindet sich am Belau National Museum in Koror, die ein 1978 niedergebranntes Versammlungshaus ersetzt. Zwei weitere befinden sich in Melekeok und Aimeliik, beide liegen ebenfalls auf Babeldoab. Das ursprüngliche bai des alten Dorfes Ngerkeai (Aimeliik) bestand um die letzte Jahrhundertwende nur noch aus Ruinen und wurde 1980 nach traditionellem Handwerk wiederaufgebaut. Betritt man ein Männerhaus, wird man augenblicklich durch die tiefhängenden hölzernen Balken mit einer Ansammlung lokaler Mythen und Überlieferungen, die stilistisch gleich gehalten sind, konfrontiert. Diese wirken zunächst fast comichaft, mit reduzierter Formensprache und einer 452

bestechenden Dynamik. Über die Darstellungen an und in diesen Versammlungshäusern entscheidet die Gruppe der chiefs eines Dorfes als Auftragsgeber und Zahlende.

Abb. 1: Männer-Versammlungshaus (bai) auf Palau (Foto: Constanze Dupont). Schon Augustin Krämer war bei seinem Aufenthalt angetan von der Kunst der Einheimischen: Es ist eine merkwürdige Tatsache, und ein Beweis dafür, wie sehr die Reisenden in Kunst und Völkerkunde einer Schulung bedürfen, daß die meisten Besucher von Palau fast achtlos an den reichgeschmückten Bai vorüber gegangen sind. Jedenfalls hat ihnen diese Zierde, die in ihrem Reichtum und ihrer Art ihresgleichen auf Erden sucht und der nur die vergangenen Grabdenkmale Ägyptens, Mexikos usw. an die Seite gestellt werden können, keinen so tiefen Eindruck gemacht, daß sie sich schriftlich hätten darüber äußern müssen.

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Und doch sind die logùkl, wie die Verzierungen ja genannt werden, ein märchenhaftes Wunder (Krämer 1929: 1). Für Krämer scheint es daher fast unverständlich, wie Ethnographen vor ihm die Holzbalken der Versammlungshäuser nur beiläufig in ihren Aufzeichnungen erwähnten, mit dem Zusatz, dass deren Bedeutung und Geschichte längst in Vergessenheit geraten seien (Kubary 1889, Semper 1973). Die fehlerhafte Erklärung hierfür sieht Krämer in den Berichten des russischen Forschers Nicholas Miklucho-Maklai (1846-1888), welcher schrieb: Im Inneren der Bais fesselte meine Aufmerksamkeit eine Reihe geschnitzter Gesimsfiguren, die rot, schwarz und gelb bemalt waren. Sie stellen verschiedene Szenen aus dem Leben der Eingeborenen dar und bilden Figuren oder Gruppen in allen möglichen, zuweilen sehr zynischen Darstellungen nach. Sie sind anscheinend nur flüchtig entworfen und ausgeschnitten worden, so daß sie vom künstlerischen Standpunkt aus den ästhetischen Geschmack nicht befriedigen können, nicht einmal den Geschmack der in diesem Punkte sehr hohe Anforderungen stellenden Eingeborenen (Miklucho-Maklai o. J.: 188, nach Krämer 1929: 5). Genau diese Worte aufgreifend, versucht Krämer seinen Fachkollegen ihren Irrtum aufzuzeigen und sie vom Gegenteil zu überzeugen. So beschreibt Krämer anhand von Beispielen ausführlich, dass die dargestellten Geschichten und Mythen stets auch eine praktische oder historische Funktion haben. Einige erzählen von Festen und davon, welche Nahrung herbeigebracht werden soll, andere von Fischfängen und wie ein einzelner Held Haie abwehrt. Weitere zeigen Spanier mit Regenschirmen und die Ermordung von Einheimischen durch ein fremdes Volk. Auch geht Krämer auf die von Miklucho-Maklai angeführten »zynischen Darstellungen« ein, indem er in recht aufgeklärter und moderner Art diese »Obszönitäten« relativiert. Für Krämer treten diese Abbildungen im Gesamtbild zurück und man dürfe sie als Forscher nicht nur von erotischer Seite her betrachten. Schließlich hätten die Palauer hinsichtlich Vergehen mit Ehefrauen oder beim Überraschen einer Frau im Bade sehr strenge Maßregeln (Krämer 1929: 2).

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… so ist es nicht verwunderlich, wenn die palauischen Bildergeschichten als obszön verschrien sind. Aber man muß sie eben vom ethnologischen Standpunkt aus betrachten und dabei immer bedenken, daß bei den Naturvölkern sogar schon die Kinder recht früh alles kennen und alles wissen, da das ganze Familienleben sich in einem Raum abzuspielen pflegt, und daß deshalb und wegen des kultischen Einschlags die Bilder als gegeben und bekannt nicht weiter beachtet werden. Wem fiele es bei uns ein, die Christusfigur am Kreuz wegen ihrer Nacktheit als anstößig zu betrachten? (Krämer 1929: 4) Krämer beschreibt detailliert, welche Motive verwendet werden, ihre Darstellung und die verwendeten Techniken. Die Figuren werden in Schwarz vorgezeichnet, der Umriss mit einem Meißel eingehauen und hierauf das Holz nach außen durch einen schrägen Schnitt entfernt, wonach eine vertiefte, mit Kalk ausgefüllte Kontur entsteht. Die ganze Fläche des Holzes wird anschließend mittels einer Kalkbrühe weiß überzogen, welche durch bestimmte Blätter eine sanfte gelbliche Tönung erhält.2 Nach dem Trocknen wird dann gelbe, rote und schwarze Farbe aufgetragen (Krämer 1929: 2, 16). Krämer zufolge führen die Palauer die Herkunft dieser Kunst auf einen Gottmenschen zurück. Dieser wird u.a. mit Utensilien wie einem Rußgefäß dargestellt. Dieser fuhr mit seiner Schlangenmutter nordwärts und hinterließ seine Malerei an den Felsen von Ulong,3 an deren Felswänden heute noch Zeichnungen in roter Farbe zu finden sind (Krämer 1929:14). Zusammenfassend hält Krämer fest, dass all diese Darstellungen augenscheinlich nur zusammenhangslose Beobachtungen seien, doch wenn man sie in Zusammenhang mit einer Begebenheit oder einer Sage betrachtet, etwas ganz Neues geschieht und sie in Vereinigung zu einer Darstellung werden (Krämer 1929: 13). So wird für Krämer durch die Bildergeschich-

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Man erreicht dies durch das Zerrupfen der Blätter, die danach in eine mit Wasser gefüllte Holzschale gelegt werden, wodurch eine milchige Flüssigkeit entsteht (Krämer 1929: 16.) 3 Insgesamt gibt es acht rötliche Felszeichnungen in den Gegenden um Malakal, Koror und Ulong auf Palau. Bisher gibt es keinerlei wissenschaftliche Arbeiten zu diesen Abbildungen.

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ten nicht allein der Kunstsinn Palaus bewiesen, sondern auch, welche Sagen und Geschichten wichtig und beliebt sind und was die Bewohner der Inseln bewegt (Krämer 1929: 23). Ein Balken inspiriert die Kunst In Europa erlangten diese geschnitzten und bemalten Balken Bekanntheit durch die Maler der Künstlergemeinschaft ›Brücke‹.4 In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts hatten deren Mitglieder im Dresdner Völkerkundemuseum die sogenannten Palau-Balken gesehen, welche zu den Sammlungsstücken von Karl Semper (1832-1893) zählen. Ihre Präsentation in der epochemachenden expressionistischen ›Brücke‹-Ausstellung auf der mittelsächsischen Moritzburg von 1909 bis 1911 führte zu der Entwicklung des ›Palau-Stils‹, welcher die primitivistische Kunst der ›Brücke‹-Maler prägte (Dürbeck 2007: 136137). Inspiriert reiste der deutsche Expressionist Max Pechstein im Jahre 1914 mit seiner Frau Lotte (1893-1955) in die Südsee. Die Reise verarbeitete er zum Teil in seinen Palau-Bildern von 1917 (Soika 2016). Einige Jahre später, in den 1930er Jahren, regte der japanische Lehrer und Künstler Hijikata Hisakatsu (19001976) einige Palauer an, die Kunst der Balken auf lose flache Bretter zu übertragen, um die Informationen zu erhalten und damit einer Tradition in veränderter Form ihr Überleben zu sichern. Die von ihm als itabori bezeichneten Bretter erhielten später die Bezeichnung storyboards und Abb. 2.: Palau-Balken (Vorder- und Rückseite sind bemalt), gesammelt von Karl Semper 1862 (© Museum für Völkerkunde Dresden, Staatliche Kunstsammlung Dresden. Foto: Eva Winkler/SKD). 4

Unter anderem Emil Nolde (1867-1957) und Max Pechstein (1881-1955).

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werden heute hauptsächlich für touristische kommerzielle Zwecke angefertigt.5 Heute sind in der Dauerausstellung der ethnologischen Sammlung im Fünfeckenturm des Schlosses Hohentübingen zwei der oben vorgestellten Gipsabgüsse von Balkenabschnitten ausgestellt. Diese wurden von Elisabeth Krämer-Bannow im Jahre 1910 auf den Inseln hergestellt und vermitteln eine durchaus authentische Anschauung der Bildergeschichten. Die Farben entsprechen den ursprünglich gebrauchten und auch die weiße Farbe des Gipsuntergrundes kommt der Kalkfarbe, die auf die Originalbalken als Grundierungen aufgetragen wurde, sehr nahe. Kunst liegt im Auge des Betrachters Aus den Forschungsaufenthalten der Krämers auf den pazifischen Inselgruppen sind umfangreiche ethnographische Monographien hervorgegangen. Die fünf Teilbände über Palau besitzen dort bis heute einen hohen Stellenwert. Die palauischen Inseln haben sich in der Zeit ab dem 1. Weltkrieg unter der japanischen Regierung, vor allem aber in den Jahren vor und während des 2. Weltkrieges beträchtlich verändert. Durch die akribischen Aufzeichnungen und Dorfpläne des Forschungsehepaares Krämer können diese Veränderungen nachvollzogen und ein Bild der Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt werden, das heute so nicht mehr zu erkennen ist. Das ›Krämer Ethnography Translation Comittee‹6 (Ethnography Translation Project 2014) übersetzte in den letzten Jahren die Bände über Palau ins Englische. Im Frühjahr 2014 wurde schließlich eine erste digitale Version feierlich der Öffentlichkeit in Palau präsentiert und deren Bedeutung 5

Wer heute in Palau zu einer Haftstrafe verurteilt wird, erhält die Gelegenheit, seine Zeit sinnvoll zu nutzen und das Kunsthandwerk des Schnitzens von storyboards zu erlernen. Die Insassen des Gefängnisses unterstützen mit dem Verkaufserlös ihrer Handarbeiten ihre Familien und erlernen so eine Tätigkeit, mit der sie nach ihrer Freilassung Geld verdienen können. 6 Dieses Projekt war eine Zusammenarbeit zwischen dem Ministry of Community and Cultural Affairs (MCAA), dem Bureau of Arts and Culture, dem Palau Historical Preservation Office, dem Belau National Museum und dem Etpison-Museum auf Palau sowie dem Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland, dem Linden-Museum in Stuttgart und dem Museum für Völkerkunde Hamburg.

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in eindrucksvollen Ansprachen hervorgehoben. Eine gedruckte Version mit bisher unveröffentlichten Fotografien und Zeichnungen des Ehepaares Krämer soll im Oktober diesen Jahres publiziert werden (Ethnography Translation Project 2014). Neben dem Quellenwert für historische Forschungen haben die Übersetzungen für die heutigen Einwohner immer noch praktische Bedeutung, etwa bei der Klärung von Landbesitzstreitigkeiten oder bei den Vergaben von chief-Titeln. Im Rahmen des Übersetzungsprojektes wurden auch, u.a. im Stuttgarter Linden-Museum, in der ethnologischen Sammlung der Universität Tübingen und im Museum für Völkerkunde in Hamburg, Ethnographica gesichtet, die von den Krämers gesammelt wurden. Kunsthandwerklich bedeutende Objekte kamen bereits relativ früh von den palauischen Inseln nach Europa. Der britische Kapitän Henry Wilson (1740-1810) erlitt im Jahre 1783 mit seinem Schiff ›Antelope‹ vor den Ulong-Inseln (in der Nähe von Koror) Schiffbruch und konnte nach seinem unfreiwillig verlängerten Aufenthalt auf der Inselgruppe vor allem Holzgefäße mit Perlmutteinlagerungen mit nach London bringen (Keate 2007). Eine größere Zahl ähnlicher Objekte gelangte durch den deutschen Zoologen Karl Semper (1832-1893) zusammen mit den bereits oben beschriebenen bemalten Palau-Balken im letzten Drittel des 19. Jahrhundert in das Dresdner Völkerkundemuseum. Semper hatte im Jahre 1862 einen längeren Forschungsaufenthalt auf den Inseln verbracht (Semper 1873). Neben dem Ehepaar Krämer erwarb der Ethnologe Johann Stanislaus Kubary (1846-1896) wohl die kulturell zeugnisreichsten Artefakte der damaligen palauischen Gesellschaft für europäische Museen. Kubary reiste als Sammler und Forscher im Dienst des Museums Godeffroy (Handelshaus Johan Cesar Godeffroy & Sohn) in den Pazifik (Kubary 1889). Seine Ethnographica befinden sich heute im Nationaal Museum van Wereldculturen in Leiden und im Ethnologischen Museum in Berlin. In Zusammenarbeit mit 15 europäischen Museen publizierte das Etpison-Museum, ein gemeinnütziges privates Museum auf Palau, in diesem Frühjahr einen Katalog mit palauischen Objekten, die vor und während der deutschen Kolonialzeit nach Europa gebracht wurden. Abgebildet, beschrieben und aufgearbeitet wurden zumeist Alltagsgegenstände und im Besonderen ästhetisch und kunsthandwerklich ansprechende Objekte – die jeweiligen Highlights der Sammlungen. Der Katalog wurde hauptsächlich

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zu Bildungszwecken für Schulen auf den Inseln angefertigt (Dupont und Etpison 2017). Aufgrund des Krämer Ethnography Translation Project sowie der Katalogpublikation richtete sich der Blick vieler Palauer mehr und mehr nach Deutschland. Sammler wie Semper, Kubary und Krämer dokumentierten sehr genau, wie sie die Gegenstände auf Palau erworben hatten. Handschriftliche Karteikarten oder Beschilderungen zeugen bis heute vom Kauf, Tausch oder der Schenkung eines Objektes an die Forscher. Wegen der genauen Nachvollziehbarkeit, wie die Objekte in den Besitz der einzelnen Forschungsreisenden gelangt waren, kam auf Palau bisher niemand auf die Idee, eine Rückforderung der Objekte überhaupt in Erwägung zu ziehen. Klimatisch wäre es auch schwierig, insbesondere die Holzobjekte angemessen zu lagern und zu bewahren. Doch auf einmal fiel vermehrt der Blick auf die Gipsabgüsse, die Elisabeth Krämer-Bannow angefertigt hatte. Obwohl diese nicht von Palauern, sondern von einer deutschen Forscherin angefertigt wurden, und obwohl sie nicht aus Holz, sondern aus Gips bestehen und daher nicht vordergründig materielles Erbe der Palauer darstellen, ist das Interesse an diesen Balkenduplikaten hoch. Warum? Kunst sehen und Mythen verstehen Mark Münzel greift im Ausstellungskatalog ›Die Mythen Sehen‹ den überaus schwierigen Diskurs zwischen Kunst und Ethnologie auf, genauer gesagt die Grenzen ethnologischer Kunstbetrachtung. Dieses erfolgt anhand von zwei Fragen: Gibt es Kunst als einen unterscheidbaren, abgesonderten Lebensbereich? Wie definieren wir Kunst? Im Laufe seiner Darstellung stellt Münzel fest: Soweit die Ethnologie sich mit dem Begriff der Kunst befaßt, löst sie ihn … gerne auf; zeigt sie, wie untrennbar er mit anderen Lebensbereichen verbunden ist. Wäre es nicht falsch, eine ›Kunst‹ gesondert abzuhandeln, die in ihrer gesellschaftlichen Realität nicht abgesondert ist? Aus dieser Überlegung entwickelt die deutschsprachige Ethnologie (vereinfacht gesagt) zwei Grundeinstellungen: Entweder, man versucht, den Begriff überhaupt ad absurdum zu führen

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(›Kunst als abgesonderten Bereich gibt es in außereuropäischen Kulturen gar nicht‹), oder aber, man weitet ihn so aus, daß er seine Verflechtung in andere Bereiche umfaßt (›alles ist Kunst‹) … Ich möchte für den Versuch eines Mittelweges plädieren (Münzel 1988: 24). Infolgedessen beschreibt er in einem theoretischen Teil Ansätze, die durch die Kunstbetrachtung nach dem Kern und dem Stil einer Kultur suchen. Auch stellt er Kunst und Religion als nicht exakt eingrenzbare Bereiche dar, die sich seiner Meinung nach immer wieder einer Klassifikation in der Ethnologie entziehen. Genau diese Problematik lässt sich auf die storyboards der Palau-Inseln übertragen. Handelt es sich hierbei um Kunst oder um Mythen? Die Maler der Künstlergemeinschaft ›Brücke‹, insbesondere Max Pechstein, sahen in den Balken aus Palau die ›primitive‹ und ›ursprüngliche‹ Kunst der Einheimischen. In den Bildern glaubten sie ihre Vorstellung von einer in ihrem Sinne ursprünglichen Kunst verwirklicht zu finden, in der sich auch ein besonders eng mit der Natur verbundenes Leben spiegelt. Die Kunst und ihre Entwicklung standen hierbei im Vordergrund. Karl Semper und Johann Stanislaus Kubary hingegen betrachten die Mythen lediglich vor ihrer kulturellen Bedeutung bzw. der Vergessenheit ihrer Inhalte. Miklucho-Maklai sah die Balken als Kunst, jedoch als obszöne. Vom einem künstlerischen Standpunkt aus konnten sie seinen und – ihm zufolge – auch den Geschmack der Einheimischen nicht befriedigen. Hijikata sah die Kunst der Balken als Kultur und versuchte das Kunsthandwerk als Tradition in veränderter Form zu bewahren. Mark Münzel führt in seinen Überlegungen u.a. auch den Ethnologen Theodor Koch-Grünberg an, für den es ebenfalls um Erkenntnisse über die Entwicklung der Kunst ging, aber eben auch um das »Verstehen des Mythisch-Magischen« (Münzel 1988: 31). Die Brücke zwischen Kunst und Mythen versuchte Krämer in gleicher Manier zu schlagen, indem er die Balken als Kunst und als Kunsthandwerk anerkannte sowie ihre Mythen als kulturelles Zeugnis des Alltages und des Übernatürlichen. Für Krämer bedienten daher die Mythen die Kunst und die Kunst die Mythen. So wie einer der Begründer der Ethnologie, Augustin Krämer, schlägt auch Mark Münzel einen Mittelweg vor, in dem es nicht immer nur um statische Definitionen geht, sondern um das Sehen und das Verstehen. 460

Ich möchte die Kunstformen der Amazonas-Indianer nicht katalogisieren, sondern verstehen – im resignativen Bewußtsein dessen, dass ein gänzlicher Verstehenszugriff nicht möglich sein wird, bestenfalls eine gewisse Einsicht in Zusammenhänge. Ich frage nach dem Wesen ihrer Kunst, und ich glaube es nicht in dieser oder jenen Maskenform, nicht in einer Statistik der Ornamentmuster zu erkennen, sondern in der Dialektik von kollektiver Ordnung und individueller Vision (Münzel 1988: 49-50).

Abb. 3: Gipsabguss eines bemalten Balkens aus einem Männerhaus auf Palau. Ausschnitt einer Bildergeschichte, handkoloriert nach Abklatschen von Elisabeth KrämerBannow, 1909. Erzählung der Bestattung des Chief Obak in Peleliu (Ethnologische Sammlung der Universität Tübingen. Foto: Constanze Dupont).

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Kunst als Geschichtsschreibung Die ersten schriftlichen Aufzeichnungen über die Palau-Inseln verdanken wir dem Kapitän der Antelope, Henry Wilson. Von Palauern selbst gibt es keine schriftlichen Zeugnisse vor dieser Zeit. Sie fixierten ihre Geschichte für kommende Generationen auf den hölzernen Balken der bai. Aber handelt es sich für die Palauer hierbei um Kunst? Für die meisten stellen die Schnitzereien ein Kunsthandwerk dar, es gibt sogar Schulen mit sogenannten master carvers. Es ist ein Teil ihrer Kultur, der in den verwendeten Darstellungen, Motiven und Techniken über die Jahrzehnte hinweg vielfältige Veränderungen erfahren hat. Touristen kaufen diese Stücke sehr gerne als Souvenirs und daher werden sie wohl als Kunst im europäischen Verständnis verkauft. Doch vordergründig stehen sie für die Mythen, die eine Ordnung ihrer Gesellschaft darstellen, welche von den Göttern gegeben ist. Die Balken der Männerhäuser sind für die Palauer eine Art der Geschichtsschreibung, die Geschichte ihrer Vorfahren. Es geht folglich darum, die Mythen zu sehen, zu lesen und zu verstehen; darin liegt ihr Interesse an den Gipsabgüssen Elisabeth Krämer-Bannows begründet. Die mythischen Erzählungen, die auf den Gipsabgüssen farblich nachempfunden sind, wurden zum größten Teil nicht in Krämers Werken mit aufgenommen, abgebildet und beschrieben. Ein Beispiel hierfür ist ein Balken in der Tübinger Sammlung. Die darauf abgebildete mythische Erzählung fand sich bis ins Jahr 1909 noch in über fünfzig Versammlungshäusern. Die dargestellte Geschichte steht in Zusammenhang mit einem Brauch, der nur auf der palauischen Insel Peleliu praktiziert wurde und die Beisetzung des ersten Chief mit dem Titel obak zeigt. Traditionell wurde der tote Körper des Chiefs in gewebte Matten eingerollt und in den Eingang einer geheimen Höhle in Ngereleleb gelegt. Der sechste Chief, der den Titel muchucheu trägt, war derjenige, der bestimmt war, diese Beisetzung durchzuführen. Die Kalksteinhöhle lag nur ungefähr einen Meter über dem Meeresspiegel und so glaubte man, dass mit der Flut Geister in Krebsgestalt in die Höhle stiegen und den Leichnam mit sich nahmen.7 7

Die auf Palau heimischen Heuschrecken-Krebse werden gerade einmal dreißig Zentimeter groß und leben in Vertiefungen auf dem Grund sandiger Lagunen. Sie fangen vorbeischwimmende Fische blitzschnell mit ihren Scheren und ziehen sie

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Obak chief Klolubak, der 1975 verstarb, war der letzte chief, der nahe des Eingangs der Höhle beerdigt wurde. Der Eingang der Kalksteinhöhle ist heute verschlossen; Einheimische nähern sich diesem Ort nicht. Ein ähnlicher Brauch ist auch aus der Gegend Ngersung in Airai bekannt, wo Frauen in früherer Zeit in der Kalksteinhöhle Chitumerukl beerdigt wurden, von wo aus sie vom Krebsgeist chelauosachel in den Ozean gezogen wurden. Die Leichname verstorbener Männer wurden hingegen direkt ins Meer geworfen. Aufgrund der Ähnlichkeiten der Erzählungen und des fast gleichen Brauches wird heute angenommen, dass die Bewohner von Ngardelolk vor langer Zeit nach Airai kamen und sich dort ansiedelten. Dieser Bestattungsbrauch und die Verbindung zwischen den beiden Dörfern waren auf Palau fast in Vergessenheit geraten. Beim Anblick der Mythendarstellung auf dem Gipsabklatsch war die Begeisterung der Menschen aus Peleliu groß und man erfragte die genaue Bedeutung der Abbildung bei den Dorfältesten. Ein vergessener Brauch wurde so zurück in das Bewusstsein der Bewohner gerufen. Im Vordergrund des palauischen Interesses stehen also nicht die künstlerische Anfertigung des Balkens oder das verwendete Material, sondern die abgebildeten Mythen als Erinnerungshilfe. Das Objekt als kultureller Gedächtnisträger bewahrt die Mythe durch die Generationen. Ohne die Arbeit von Elisabeth Krämer-Bannow hätte man sich vielleicht von diesem Mythos verabschieden müssen. Literatur Dupont, Constanze und Mandy Etpison (Hg.) 2017. Palau in Europe. Palau: Etpison Museum. Dürbeck, Gabriele 2007. Stereotype Paradiese: Ozeanismus in der deutschen Südseeliteratur 1815-1914. Tübingen: Max Niemeyer. Ethnography Translation Project 2014. German Palau. o.O. Harms, Volker 2004: Die ehemals private Südsee-Sammlung von Augustin Krämer in der Tübinger Universität. Eine sammlungsgeschichtliche und biografische Skizze. In: Dorothea Deterts (Hg.) Auf Spurensuche. Forschungsberichte aus und um Ozeanien zum 65. Geburtstag von Dieter Heintze. Bremen: Überseemuseum, 51-60. hinunter in ihre Behausungen. Möglicherweise beruht der Mythos auf der Tatsache, dass die Beute der Krebse ›vom Erdboden verschluckt‹ wird.

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―― 2005. Fremde Kulturen verstehen: Eine Führung durch die völkerkundliche Sammlung der Universität Tübingen. Museum Schloß Hohentübingen, Abteilung Völkerkunde. Tübingen: Eberhard-Karls-Universität. Heermann, Ingrid 2009. Leben und Überleben im Westpazifik. Südsee Oasen. Stuttgart: Linden-Museum. Hijikata, Hisakatsu 1993. Collective Works of Hijikata Hisakatsu: Society and Life in Palau. Tokio: Saakawa Peace Foundation. Keate, George 2007. Nachrichten von den Pelew-Inseln in der Westgegend des Stillen Oceans. München: Süddeutsche Zeitung. Krämer, Augustin 1929. Ergebnisse der Südsee-Expedition 1908-1910. Band 1-5. In: Georg Thilenius (Hg.). II Ethnographie, B. Mikronesien, Band 3. Hamburg: L. Friedrichsen & Co., ---Kubary, Johann Stanislaus 1889. Ethnographische Beiträge zur Kenntnis des Karolinen Archipels. Paderborn: Salzwasser. Meyer, A.B. 1881. Bilderschriften des Ostindischen Archipels und der Südsee. Leipzig. Münzel, Mark 1988. Die Mythen Sehen. Bilder und Zeichen vom Amazonas. Roter Faden zur Ausstellung (Bände 14 -15). Frankfurt am Main: Museum für Völkerkunde. Semper, Karl 1873. Die Palau-Inseln im Stillen Ocean: Reiseerlebnisse. Leipzig: Brockhaus. Soika, Aya 2016. Der Traum vom Paradies: Max und Lotte Pechsteins Reise in die Südsee. Bielefeld: Kerber.

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Ulrike Umstätter

Ein Spaziergang durch die Museologie ...

... bedeutet, einen Spaziergang durch eine umfassende Grundwissenschaft, die aus einem philosophischen Ansatz zu erklären versucht, warum etwas so ist und nicht anders, wie es entstanden ist, wohin es sich entwickeln kann, wozu es existiert und anderes mehr (Waidacher 2001: 85). Diesen und ähnlichen Gedanken möchten wir folgen und uns in ein Museum der 1970er Jahre versetzen … laufen langsam durch einen großen Raum, die Vitrinen teilen den Raum auf, regional oder thematisch, die Objekte werden begleitet durch Texte, auf der Schreibmaschine getippt und ausgeschnitten oder gedruckt und gerahmt oder auf andere Art und Weise gegenständlich versucht in die Reihen der Objekte zu mischen, abzuwechseln zwischen gegenständlicher Kultur und dem, was man als Erläuterung, als unsichtbaren Hintergrund, als notwendige Information und Erklärung sieht, um verstehen zu können. Eine Abbildung und zwei Objekte wecken unsere Aufmerksamkeit: Abbildung 181 (zeigt zwei aus Erde und Stein hervortretende, halb ausgegrabene Schädel): Trophäenköpfe aus einem Grab bei Cahuachi. Das Loch auf der Stirn diente der Befestigung einer Schnur, an der die Köpfe bei Tänzen getragen wurden. Objekt 194: Tongefäß. Das Relief zeigt eine TotentanzSzene. Moche. H. 21 cm, creme und braun Objekt 195: Tongefäß. Totenschädel. Moche. H. 25 cm, creme und rotbraun (Kelm und Münzel 1974: 123, 130) Wir erfahren dazu Folgendes über die Schatzsuche und den Grabraub: 465

Seit den Tagen der Eroberung durchwühlten Schatzsucher (Huaqueros) die Ruinen der Tempelstätten und die vorkolumbischen Gräberfelder der peruanischen Küstenregion. Enorm waren die Schätze an Edelmetallen, die den spanischen Eindringlingen in die Hände fielen. Doch der Reichtum zerrann. Eingeschmolzen, gelangte das der Krone als Tribut zustehende Fünftel an Gold nach Europa, wo es Karl V. half, die Kriegsknechte auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen in Sold zu halten. Der Großteil wurde aber vertan und verspielt, getreu dem zeitgenössischen südländischen Motto, daß ein Mann so viel Wert sei, wie er auszugeben vermag. Was blieb, war der Wunsch, schnell und ohne Arbeit reich zu werden. Da man den Lebenden alles genommen hatte, setzte nun die Jagd nach den Schätzen der Toten ein. Wie der Chronist Calancha (1638) berichtet, wurde bald nach der Eroberung in der Sonnenpyramide von Moche Gold im Werte von 800,000 Pesos ausgegraben. Demgegenüber scheint der etwas später unternommene Versuch, durch Umleitung der regenzeitlichen Fluten des Moche-Flusses eine Ecke derselben Pyramide wegzuschwemmen und so an die vermeintlich dort verborgenen Schätze zu gelangen, gescheitert zu sein. Im vergangenen Jahrhundert waren regelrechte ›Gesellschaften‹ mit der organisierten Schatzsuche befaßt. In den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts wurden bedeutenden Funde auf dem Landgut Batán Grande bei Lambayeque gemacht. Ohne die Tätigkeit der Huaqueros wäre die anfangs des vergangenen Jahrzehnts am Rande der Sechura-Wüste entdeckte Kultur von Vicús noch länger unbekannt geblieben. Suchschächte, die – häufig unter Mißachtung der Einsturzgefahr – bis zehn oder mehr Meter Tiefe in das Erdreich vorgetrieben werden, und von ihnen abzweigende Suchstollen sowie tagebauartige flächige Abtragungen sind die von den Huaqueros angewendeten Techniken. Wenn in jüngster Zeit auch nicht nur Edelmetalle der Gegenstand der Suche sind, so wird durch wenig systematische Grabungen doch vieles zerstört. Die Tätigkeit der Schatzsucher ist ungesetzlich, doch sie geht weiter. (Kelm und Münzel 1974: 131-132)

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Fraglich bleibt, ob die Objekte zuerst da waren oder die Texte; die Inhalte oder das Thema am Anfang standen, was die Intention der Ausstellung ausmachte und ob die Thematik in einem größeren Kontext stand, der den Besuchenden vermittelt werden sollte? Wir gehen weiter und erinnern uns an die historische Entwicklung von Sammlungen und Ausstellungen, die Ausstellungsarbeit, die wissenschaftliche Erforschung und Präsentationsformen von materieller Kultur, die sich bis dato vollzog, bis wir diese Illustration in der uns präsentierten Art und Weise besuchen können. … Erste europäische Sammlungen des 15. und 16. Jahrhunderts versammelten Objekte Entdeckungsreisender oder Händler, die im außereuropäischen Raum Handelsrouten etablierten. Sie lösten die existierenden Naturalienkabinette ab und ergänzten die entstehenden Kunst- und Wunderkammern um ›Wundersames‹, Seltenes oder ›Kurioses‹ wie afrikanische Schnitzereien oder ostasiatisches Porzellan (Hog 1981: 3, vgl. Wilharm 2003, Knobloch 2003). Eine Klassifikation war ebenso wenig intendiert wie eine Erläuterung der genauen Herkunft und der Bedeutung. Als wichtiger galt es, sich noch Unerforschtem oder ›Geheimnisvollem‹ zu nähern (Rothmann 1997: 41), die Bedeutung zu erkunden und neues Wissen zu erwerben (Mauriès 2002: 34-36). Um das Wissen zu erweitern und dem Reichtum und der Vielfalt gerecht zu werden, die man sich in Ansätzen vorstellte, ergänzte man stetig die Sammlungen, war fasziniert von der Idee, sich Welten und Vorstellungen zu erschließen. Abbildungen lassen erkennen, dass die Artefakte in Regalen und Schrankwänden aufgereiht, Objekte an Wände angebracht wurden, ohne schriftliche Erläuterung, ohne für den Betrachter nachvollziehbare Struktur und Gliederung, als Aufbewahrungsorte von Schönem, Fremden oder Seltenem. Die Geistesströmung des Rationalismus in den Zeiten der Aufklärung des 18. Jahrhunderts bewirkte, dass Methodik und Naturwissenschaft in den Vordergrund rückten und Erkenntnisse und Erklärungen überprüfbar gemacht werden sollten. Auf die bestehenden Sammlungen wurden diese Ansätze angewendet, Naturalia und Artificialia ebenso unterschieden wie wissenschaftliche Objekte und Kunstgegenstände (Mauriès 2002: 194) – mit dem Anspruch, Naturgesetze und Wahrscheinlichkeiten herauszuarbeiten. Die Auflösung der universalen Sammlungen bewirkte, dass Kunstmuseen, Naturkundemuseen, Gemäldesammlungen oder Skulpturensammlungen, botanische oder zoologische Sammlungen entstanden, wie wir sie gegenwärtig antreffen (Valter 2000: 196, Desvallées 1996: 100-102). Diese Entwicklung brachte Ende des 18. Jahrhunderts auch die Idee nach 467

einem eigenständigen Museum für ethnographische und außereuropäische Gegenstände auf (Hog 1981: 7), was ab 1780 mit den ethnographischen Sammlungen des Universitätsmuseums in Göttingen seinen Anfang nahm (Feest 1999: 261) und in Berlin 1829 mit der königlichen Kunstkammer fortgesetzt wurde, welche sich 50 Jahre später zum ersten Völkerkundemuseum Deutschlands entwickelte. Im 19. Jahrhundert wurden die Sammlungen rasch erweitert, indem Expeditionen und koloniale Forschungsreisen einen stetigen Zuwachs bewirkten, die regionale Unterscheidung wurde detaillierter, eine möglichst auf alle Lebensbereiche bezogene Darstellung einzelner Kulturen angestrebt. Die Sammlungen wurden zur wissenschaftlichen Bearbeitung in die neu und eigens gegründeten Völkerkundemuseen verbracht, nach ethnischer Zugehörigkeit gesammelt und bearbeitet und ausgehend von den Objekten und Reisebeschreibungen eine Beschreibung, Erforschung und Darstellung der Kulturen angestrebt. In diese Zeit fällt der evolutionistische Ansatz, dass unterschiedlichen Kulturen bestimmten ›Kulturstufen‹ (Morgan 1818-1881, 1976 [1877]) zugeordnet werden können. Die materiellen Gegenstände wurden zur Beweisführung dieses Ansatzes benutzt, die Objekte als Einzelne mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung der Darstellung von Entwicklung und Veränderung menschlicher Kulturgeschichte untergeordnet. Die Sammlung des Generals Pitt Rivers (1827-1900) verdeutlicht dies; er sammelte und erwarb neben Speeren und Waffen auch Textilien, Musikinstrumente und Masken, die in dem gegenwärtigen, der Universität Oxford zugehörigen, Pitt Rivers Museum in typologischen Reihen, anhand formaler Merkmale, aufgereiht wurden. Das Arrangement von Objekten des gleichen Typs stellte die angenommenen Entwicklungen und kulturellen Unterschiede nach. Der evolutionären Idee liegt zu Grunde, dass es allgemeine Gesetzmäßigkeiten gibt, dass alle Individuen eine identische Prägung besitzen und sich in der Entwicklung lediglich durch spezifische geographische und andere Besonderheiten unterscheiden. Der US-amerikanische Ethnologe Otis T. Mason präsentierte im U.S. National Museum Ausstellungsobjekte im Kontext bekannter Ereignisse. Dabei stellte er die Veränderung der Gegenstände vom Ausgangsmaterial bis zum fertigen Gegenstand dar, verglich einfach gestaltete mit komplexen Objekten.

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Der zentrale Aspekt von Form und Funktion wurde von Franz Boas in Frage gestellt, der sich für die inhärente Bedeutung der Objekte zu interessieren begann. Boas versuchte, sich den Objekten dadurch zu nähern, dass er den individuellen ethnischen Kontext in die Betrachtung mit einbezog und sich durch die Wechselwirkung von Gestalt und Kontext ein Verstehen erschließen konnte. Er stand mit dieser holistischen Einstellung dem evolutionistischen Ansatz entgegen, dass Menschen in ähnlicher Weise auf äußere Gegebenheiten reagieren. Die Tendenz hin zu einem historischen Partikularismus, der die historische Entwicklung und Veränderung aufzeigt, spiegelte sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit wider, indem er nicht nur ethnographische Artefakte sammelte, sondern auch die Vorstellungen und Werte dokumentierte, die mit den Gegenständen verbunden waren. Sein Ziel war es, die Objekte in ihrem jeweiligen Kontext zu begreifen und zu verstehen (Kasten 1992: 81-82, Stocking 1985: 8). Seine Ausstellungstätigkeiten veränderten sich massiv, als ihm bewusst wurde, dass die Objekte derselben geographischen und ethnischen Herkunft im Museum an verschiedenen Standorten gezeigt wurden, die Ausstellungsweise sich nach wie vor entweder nach evolutionären Entwicklungsreihen oder nach Typologien richtete und damit die kulturelle Herkunft meist unerwähnt blieb und nicht erläutert wurde (Boas 1887: 485). Boas hingegen wollte den Museumsbesuchern eine Vorstellung des kulturellen und des Gebrauchskontextes geben und arrangierte seine Objekte in life groups, figürlichen und natürlichen Szenen, die den Hintergrund für die Verwendung und Bedeutung der Dinge bildeten, ein Abbild einer gegebenen kulturellen Situation visuell darstellten. Die materielle Kultur galt für ihn als ein Aspekt unter einer Vielzahl kultureller Facetten, die sich gegenseitig ergänzten und jeweils als Teil der gesamten Kultur galten, Facetten und kontextuelle Informationen, die er auch im musealen Rahmen vermitteln wollte. In Deutschland etablierte sich die Ethnologie zunächst an den Museen und bearbeitete kulturelle Themen auch anhand der materiellen Gegenstände, die von Forschungsreisen und Expeditionen stammten. Gleichzeitig bildeten sich neben der Bearbeitung der Objekte auch universitäre ethnologische Fachbereiche, welche die wissenschaftliche Erforschung weiterer, wie zum Beispiel gesellschaftlicher, religionskundlicher oder ritueller Themen zum Inhalt hatten.

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Ab den 1950er Jahren nahm die Relevanz materieller Kultur ab und die Arbeit mit Objekten und Ethnographika blieb auf das museale Umfeld begrenzt. Dabei wurde das Themenspektrum der materiellen Kultur nicht mehr im Zusammenhang mit der anthropologischen Theoriebildung betrachtet, sondern galt als eher peripherer Bereich der nun vor allem sozialwissenschaftlich ausgerichteten Ethnologie (Münzel 2000: 111) – eine Abkehr vom Konkreten zugunsten einer zunehmenden Theoretisierung, die dadurch bedingt war, dass lediglich diese Arbeitsweise als wissenschaftlich galt. Die Arbeit mit und die Darstellung von Objekten wurde als Basis ethnographischer Forschung für unzureichend erachtet, die wissenschaftliche Sichtweise vom Umgang mit materieller Kultur getrennt, auch wenn fraglich erscheint, ob der Unterschied zwischen ›materiell‹ und ›geistig‹ bestehen bleiben kann, da sich im Objekt immer auch die Vorstellungswelt, die Ideen, der soziale und der kulturelle Kontext abbilden (Wiegelmann 1991: 16). Durch die zu Beginn der 1970er Jahre angeregte Debatte des Ziels und Zwecks musealer Arbeit wurde die Bedeutung materieller Kultur zunehmend in Frage gestellt, was so weit ging, dass selbst der Sammlungsauftrag der Museen diskutiert wurde, da soziale Beziehungen, gedankliche Vorstellungen oder wirtschaftliche Fragen in der Ethnologie von höherer Relevanz seien als materielle Gegenstände, die lediglich dazu dienen würden, wissenschaftliche Hintergründe der genannten Bereiche zu erläutern (z. B. Fischer 1991: 17). Die Diskussion über die Bedeutung eines ethnographischen Museums führte zu einer Zunahme pädagogischer Ansätze, welche die Vermittlungsund Bildungsabsicht in den Museen herausstellten und die Objekte illustrierend und für die Erläuterung bestimmter Inhalte verwendeten. Eine ›Aufklärung‹ der Öffentlichkeit wurde ebenso relevant wie das Vermitteln von Toleranz; die kulturellen Inhalte und Hintergrundinformation sollten dazu genutzt werden, zu einer gelingenden Koexistenz zwischen unterschiedlichen Kulturen beizutragen (Harms 1976 und 1990: 460). So wurden außereuropäische Ethnien im musealen Ausstellungskontext gezeigt und mit ihnen aktuelle, soziale und politische Zusammenhänge erläutert sowie der Bezug zu postkolonialen Entwicklungen hergestellt. Die museographische Gestaltung der bildungsrelevanten Themen wurde in themenund problemorientierten, gegenwartsbezogenen Ausstellungen umgesetzt, die den jeweiligen thematischen Kontext in die Inszenierung einbezogen.

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Ethnographika dienten dazu, die aktuelle Thematik zu illustrieren und die Inhalte zu vermitteln. Das neue Ausstellungskonzept bedingt, dass die ethnologischen Objekte – ungeachtet des unbestritten besonderen Informationswertes, der aus ihrer Originalität resultiert – nicht Ausstellungsinhalt, sondern Medien der Präsentation sind, gleich Tabellen, Landkarten, Fotographien, Diagrammen und Texten (Kelm und Münzel 1974: 4). Heinz Kelm, Museumsdirektor des Museums für Völkerkunde der Stadt Frankfurt am Main (1972-1983) vertrat diese Inhalte konsequent: Für ihn zählten die ausgestellten Artefakte nicht als primäre Inhalte der Ausstellung, sondern als Medien und Mittel, Inhalte darzustellen, die sich auf nicht-westliche Kulturen bezogen. Das Objekt als materielles Abbild von Kultur wurde somit zur Möglichkeit der Dokumentation, zum Dokumentationsmittel, zum Mittler der hinter den Dingen stehenden Inhalte (Münzel 2003). … Wir lesen weiter: Text: Die Beute der Europäer im Inka-Reich war die größte Kriegsbeute der Geschichte der Menschheit. Auf diese erste wilde Plünderung folgte dann die planmäßige Nutzung der Silberminen des Inka-Reiches. Das für deren Ausbau und Betrieb nötige Kapital kam aus Europa – auch deutsche Unternehmen waren beteiligt und konnten dadurch auch am Gewinn teilhaben. Die Indianer stellten die Arbeitskraft (unzählige starben in den Bergwerken) und die Verpflegung der Bergbauzentren (viele Bauern verhungerten, weil sie ihre Lebensmittel dorthin abliefern mußten). Allein 1530-1600 wurden aus ganz Amerika (einschließlich Mexiko, vor allem aber aus dem ehemaligen Inka-Reich) etwa 7,5 Millionen Kilo Silber nach Spanien exportiert. Die Goldproduktion von Perú betrug in diesem Zeitraum 23 Tonnen (Spanien und Portugal: 4 Tonnen). Von Spanien floß das Geld nach dem übrigen Europa weiter, wo es vor allem in Frankreich, Holland und England zum wirtschaftlichen Aufschwung beitrug. Peruanisches Silber – das heißt indianisches Massensterben – hat die

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Vorbereitung der industriellen Revolution in der Kapitalakkumulation des Frühkapitalismus mit finanziert. Erste Einübung war die Ausplünderung des Inka-Herrschers durch die weißen Eroberer: Gegen Gold versprachen die Weißen dem gefangenen Inka die Freiheit. Der heutige Schätzwert des darauf von den Untertanen des Inka zusammengetragenen Schatzes beträgt allein für das reine Material über 32,000.000 DM; der Kunstwert der Goldobjekte ist heute nicht mehr abzuschätzen, da die Spanier ihn meist durch Einschmelzen zerstörten. Sie teilten das Gold: 80,000 DM an Gold für jeden Fußsoldaten, 200.000 DM für jeden Kavalleristen, 1,700.000 DM für den Anführer Pizarro, über 6.000000 DM für den spanischen Staat. Danach brachten sie den Inka dennoch um. (Kelm und Münzel 1974: 212-213) Abbildung 318: Hammer aus einem Silberbergwerk der Kolonialzeit Hier werden wir in derselben Ausstellung über die während der Eroberung stattfindenden Plünderungen durch die Spanier informiert, über Edelmetalle, die – der indigenen Bevölkerung entrissen – das wirtschaftliche Wachstum in Europa forcierten. Begleitet wurden die vermittelten Inhalte in der Ausstellung von Illustrationen, die den Terror in den Silberminen zeigten (Abb. 317) sowie koloniale Szenen nachstellten (Abb. 315-317, 219-320, nachvollzogen anhand Kelm und Münzel 1974) … Die Inhalte der Museumsdebatte weiteten sich im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre aus: Die museale Vermittlung umfasste nun auch Fremdenfeindlichkeit, das Kennenlernen und die Besonderheiten von Minderheiten, Stereotypen oder Ethnozentrismus – Themen, die wichtige Impulse der Gesellschaft aufgriffen, um sie den Besuchenden näher zu bringen. Auch die Art und Weise der Präsentation wurde vielfältiger, wollte nicht mehr nur informativ und bildend sein, sondern auch unterhaltend und anregend; so wurden ästhetische Elemente integriert und die Unterhaltung der Besucher thematisiert. Die Ausstellungsgestaltung folgte somit einer sich verändernden Orientierung und nahm neue Aspekte der Darstellung mit auf. Eine der neu aufgenommenen Tendenzen verknüpfte die Darstellung mit der Inszenierung – dabei wurden ästhetische Aspekte mit den politischen und wissenschaftlichen sowie den formalen Inhalten verwoben. Die

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Ausstellung erhielt somit eine neue, performative Eigenschaft. Der ästhetische Anspruch rückte den Gegenstand als eigenständiges und eigen wirkendes Objekt wieder vermehrt in den Fokus, so dass nun nicht mehr ausschließlich der inhaltliche Bezug zu einer Problematik und Darstellung außereuropäischer Kulturen dominierte, sondern auch die Eigenschaften und Besonderheiten, die Materialität und Ästhetik vermehrt sichtbar wurden. … Inzwischen ist es dunkel geworden in unserem Museum. Zeit und Raum habe sich verändert. Wir stehen verloren in den verdunkelten Räumen, sehen uns Lichtspots gegenüber, denen wir folgen. Die Auswahl der präsentierten Gegenstände ist überschaubar. Während der genauen Betrachtung werden deren Detailliertheit und individuelle Ausdruckskraft erkennbar: Sie sind die Hauptakteure der Ausstellung, von allen Seiten sichtbar. Wir erkennen das Material, die Muster, die Farbigkeit, lassen uns von dem perlengesäumten Sockel begeistern, überlegen uns, welche kreativen und handwerklichen Fähigkeiten dazu notwendig sind, wie lange die Herstellung wohl dauerte. Durch die Form und Figürlichkeit vermuten wir, dass Holz die Basis bildet; die Gestalten erinnern uns an nordwest-kamerunische Darstellungen. Wir wissen, dass es sich um den Thron des kamerunischen Königs Njoya handelt, da wir uns bereits mit den Sammlungen und Expeditionen des Ehepaars Thorbecke (Born 1981, Hennings 1980) befasst haben. … Wir versuchen, der Abwesenheit weiterer Beschreibung und Kontextualisierung insofern positiv zu begegnen, als dass wir nicht mit endlosen Begleittexten konfrontiert werden, der individuelle Ausdruck des Objekts uns unvoreingenommen und unverfälscht begegnet. Inzwischen haben wir über die Krise des modernen Wertesystems diskutiert sowie über postmoderne Strömungen. Wir sind uns bewusst, dass die Moderne von einer Vielfalt abgelöst wurde, welche die Heterogenität, unterschiedliche Lebensformen sowie Wissens- und Wissenschaftskonzeptionen anerkennt und fördert. Über den Verlust des Gebrauchskontextes sind wir uns im Klaren, auch darüber, dass im Präsentationszusammenhang einer Ausstellung die originäre Bedeutung des Artefakts verändert wird, die funktionale Bedeutung und der direkte Bezug zu traditionellen Symbolsystemen oder Weltbildern zurücktritt und für uns nicht wiederbringlich verloren geht … Der Bruch, das Herauslösen aus der ursprünglichen Lebenswelt, die Veränderungen, welche mit der Präsentation einhergehen, begleiten den Musealisierungsprozess – sind der Prozess – in und mit dem sich gravierende Umdeutungen etablieren. Verschiedene Interpretationen greifen in den Prozess mit ein: dabei kann die Wirklichkeit »niemals naturalistisch rekonstruiert« (Waidacher 1996: 234) werden, Bedeutung wird den Artefakten

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im Rahmen der musealen Möglichkeiten – d. h. der Ausstellungs- und Präsentationsformen – zugewiesen und räumlich sowie zeitlich ein Teil der für uns üblichen Weise der Darstellung. Museen sind keine neutralen Orte, in denen Bedeutung konserviert wird, sondern in denen Bedeutung konstruiert wird – der Dekontextualisierung im Musealisierungsprozess folgt eine Interpretation, welche ethnographische Artefakte, die ihre Bedeutung im ehemaligen Gebrauchskontext erfahren haben, zu musealen Ausstellungsobjekten umdeutet (Umstätter 2007: 54ff.). Das museale Klassifikationssystem wird definiert durch einen anderen, im Kontext westlicher Epistemologie stehenden, wissenschaftlichen Bewertungszusammenhang, der an die Stelle des originären, kulturellen Gehaltes tritt, in welchem wissenschaftliche Ansprüche die traditionellen Verbindungen fast vollständig zum Verschwinden bringen. Sturm vermutet hierzu, dass der zunehmenden Entfernung vom ehemaligen Kontext eine umso größere Missverständlichkeit folgt und durch ein Mehr an Interpretationen auszugleichen versucht werde (Sturm 1991: 42). Ein fachwissenschaftlicher Diskurs, der nach aktuell geltendem Wissensstand Kriterien etabliert, kann das Objekt in einen zeitlosen, musealen Rahmen integrieren und es unabhängig von seinem historischen Lebensumfeld begreifen. Damit sind die historischen und zeitlichen Wurzeln ebenso gekappt wie der Zugang zu Bedeutungs- und Gebrauchskontext und der Zuschreibung von Bedeutung jede Möglichkeit eröffnet. Trotzdem schafft die wissenschaftlich festgelegte Bedeutungsgrundlage die Basis, Interpretationen zuzulassen; Zweifel und Mehrdeutigkeiten weichen einer stimmigen und als wahr angenommenen Darstellung. Die Präsentationsweise wirkt sich ebenfalls direkt auf die Aussagen der ausgestellten Objekte aus. Die visuelle Isolation der Dinge im Raum bedeutet ebenso eine kontextuelle Trennung, das Ausblenden der originären Bedeutung, der Funktion, des Gebrauchs, der historischen Zusammenhänge, der Herstellenden, evtl. sogar des Herkunftsortes. … Wir betrachten erneut unser beeindruckendes Objekt und denken an Boas: Hätte er den Thron vor dem ehemals in Foumban stehenden, hölzernen Palast aufgebaut, dessen Dach von einer Galerie mit menschlichen Figuren beschnitzter Holzstelen getragen wurde, davor der Herrscher der Bamum, König Ibrahim Njoya, umgeben von Notablen, die ihm beiwohnen? Auch eine Präsentation vor einer visuellen Rekonstruktion des gegenwärtigen, steinernen Palastes ist vorstellbar, die Umgebung einer Audienz an einem Freitag nachbildend, an dem der gegenwärtige König Sultan Ibrahim Mbombo Njoya sich von Reitern und Trompetern begleitet Fragen und Anliegen der Besucher widmet – 474

die historische Dimension und Veränderung ins Blickfeld rückend, indem ein Objekt der Vergangenheit vor aktueller Kulisse gezeigt wird. Wir entdecken eine kurze Beschreibung des Throns: Text: Das Verschenken von königlichen Hockern oder Thronen war in Kamerun ein Gestus, der mit der Aufnahme oder Sicherung diplomatischer Beziehungen vergleichbar ist. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, warum König Njoya von Bamum dem deutschen Kaiser 1908 diesen Thron schenkte. Njoya wollte seine Beziehungen zur deutschen Kolonialmacht unterstreichen und seine eigene Position als – gleichwertiger – Bündnispartner verdeutlichen. Ob es sich hier um den eigenen Thron Njoyas oder um eine Kopie oder Zweitfassung handelt, ist nicht abschließend geklärt. Der Originalthron geht zurück auf den Vater Njoyas, Nsa’ngu, der 1885-1887 regierte. Der Name des Throns mandu yenu bedeutet so viel wie ›reich an Perlen‹. Die hohe und breite Sitzfläche wird von den verschlungenen Leibern doppelköpfiger Schlangen getragen. Hinter ihr ragen zwei Zwillingsfiguren hervor. Zwillingen sprach man eine besondere Kraft zu. In Bamum wurden sie dem Palast übergeben, wo sie bei der Inthronisation und der Beerdigung des Königs eine wichtige Rolle übernahmen. Der weibliche Zwilling trägt eine Kolanussschale, der männliche ein Trinkhorn. Kolanüsse und Palmwein werden als höfliche Geste beim Empfang von Besuchern gereicht. Die Fußbank vor dem Thronhocker zeigt eine Reihe von Beratern oder Dienern des Königs und zwei mit Gewehren bewaffnete Soldaten. Die verschwenderische Verzierung des gesamten Throns mit Kaurischnecken und Glasperlen repräsentiert die Macht und den Reichtum des Königs. Sie ist aber auch ein Bild des Wohlstands, den seine Herrschaft den Menschen von Bamum bringen soll (Beschreibung des Throns, Ethnologisches Museum, Berlin1 Die beschreibenden und erklärenden Texte im Museum übernehmen die Leitfunktion dafür, wie Objekte zu sehen sind – sofort denken wir an die ›Writing-Culture‹ Debatte, an das Schreiben über und Beschreiben von   1Text

des Kurators Peter Junge, überlassen Juni 2017

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Kultur, kultureller Inhalte, kultureller Details oder das gegenständliche Darstellen und Ausstellen von Ethnographika. Wir können hierbei die Frage nach der Autorenschaft ebenso stellen wie die Frage danach, welche Informationen ausgewählt wurden, vor welchem Hintergrund und mit welcher Intention; machen uns nicht mehr nur Gedanken über den Kontext der Objekte, sondern auch über den Kontext der Entstehung der Objektbeschreibungen. Wer entscheidet, was wir lesen wollen? Wer entscheidet, was wir lesen sollen, und warum? Auch im musealen Umfeld stehen uns lediglich selektive Teile an Informationen und Erklärungen zur Verfügung. Im Rahmen des Museums als Teilbereich kulturwissenschaftlichen Schaffens wird jedoch vorausgesetzt, dass die Beschreibungen und Erläuterungen der Wahrheit entsprechen, einer Wahrheit, die durch Autorität und Autorenschaft gekennzeichnet ist, den originären Kontext durch einen neuen Bedeutungszusammenhang ersetzt. An die Ausstellungspräsentation der 1970er und 1980er Jahre denkend fallen uns auch die kritischen Stimmen ein, die im Rahmen der Ausstellungen zur Sprache kamen: Auf den Thron der Bamum bezogen wundern wir uns, einem offensichtlich so wichtigen Zeichen der Macht in einem deutschen Museum zu begegnen. Laut des Museumstextes wurde der Thron von ›König Njoya von Bamum dem deutschen Kaiser 1908‹ geschenkt. Gründe dazu liegen laut Beschreibung darin, einer Gleichwertigkeit Ausdruck zu verleihen. Eine Gleichwertigkeit, die anderen Quellen zu Folge von Felix von Luschan (von 1904 bis 1910 Direktor der Afrika- und Asienabteilung des ehemaligen Königlichen Museums für Völkerkunde, in Folge Ethnologisches Museum Berlin) initiiert wurde, der den Thron erwerben wollte und den König überzeugte, sich einen neuen Thron, eigens für ihn, fertigen zu lassen. Bei Christraud Geary erfahren wir, dass sich laut der Tradition jeder Herrscher der Bamum einen eigenen Thron anfertigen lassen konnte, so dass Luschan dies als Argumentation für die Übereignung ins Feld führte. Der kamerunische König ließ sich überzeugen und übersandte 1908 mit Hilfe des damaligen Gouverneurs Theodor Seitz den Thron an den deutschen Kaiser (Geary 2008: 45). Als Gegengeschenk erhielt König Nyoja eine Kürassieruniform der kaiserlichen Garde Kaiser Wilhelm II., in welcher er sich mehrmals vor seinem Palast fotografieren ließ (vgl. Geary 2008: 45, 51). Auch wenn wir die Intention von Felix von Luschan nicht abschließend klären können, erinnern wir uns an die didaktische Absicht der 1980er 476

Jahre und stellen uns vor, dass an dieser Stelle auch eine Debatte über koloniale Erwerbspraktiken stehen könnte, die immer wieder mit dem Sammeln oder dem Erwerb von Ethnografika diskutiert wird. Während vorkolonialer Reisen oder Sammlungsexpeditionen ergab sich stets die Situation ungleicher Machtstrukturen: dabei ging es primär darum, museale Sammlungen zu begründen oder zu erweitern, auch wenn dies ungerechtfertigt geschah und vor allem der Absicht folgte, möglichst umfassende Bestände zu begründen oder besonders ›exotische‹ Gegenstände zu erwerben. Heinrichs beschreibt, dass die Sammelnden sich lange nicht als schuldig, im Unrecht und zerstörend begriffen, sondern als Bewahrende (1998: 4849): Die Ethnologen waren immer mehr oder weniger Verehrer und Zerstörer des Sakralen, leidenschaftliche Sammler und Räuber im Dienst einer Nation und Institution, unlösbar verstrickt in ein Netz aus Hochschätzung und Exotismus (in seiner zu Ende gehenden Blüte), aus Entdeckerlust und der latenten oder manifesten Bereitschaft, sich willig in den Dienst einer Macht zu stellen. Ihre individuellen Ideen korrespondierten – und das war das Verhängnisvolle und sie schuldig machende – mit dem Machtgebaren der Nationen und wissenschaftlichen Institutionen, auch wenn sie sich als einzelne zurückzunehmen versuchten. Das individuelle und kollektive ›Dämonische‹ äußert sich in der Nichtbeachtung der Würde des anderen, in der Entheiligung seiner Räume … Das Exportieren von Gütern und Werten der westlichen Welt und das Importieren von Insignien des vermeintlich Exotischen erweist sich als eine Art Zauberformel im Banne des Imperialismus (Heinrichs 1998: 48-49). Auch Michel Leiris, der nach 1945 Forscher am neu gegründeten ›Musée de l’Homme‹ in Paris wurde, beschrieb in seinem Tagebuch der Reise von Dakar nach Djibouti (1931), dass neben den ethnographischen Interviews Räume und heilige Stätten durchsucht wurden, um Masken und andere Objekte zu rauben (Leiris 1980: 167). Auch wenn Leiris sich sehr niedergeschlagen fühlt, wie er selbst beschreibt, so lässt er sich doch davon überzeugen, Kostüme aus einer Höhle zu entwenden, indem er die Unterstützung der Dogon selbst in Anspruch nimmt (Leiris 1980: 168). Am letzten 477

Tag vor der Abreise aus Sanga war er noch an dem ›Raub‹ einer Statue beteiligt, die nicht durch Listen oder durch Überzeugung zu erhalten war. – Heute, wenn wir vor einer perfekt ausgeleuchteten Vitrine mit DogonMasken im ›Musée du Quai Branly‹ stehen, erfahren wir weder von Leiris, noch den Details des Erwerbsprozesses, noch seines Tagebuchs. Die geführte Diskussion über die Rechtmäßigkeit des Besitzes in der Kolonialzeit erworbener Objekte wird mit dem Umzug der ethnographischen Objekte ins Berliner Schloss, welches sich als Zentrum für Kunst, Kultur, Wissenschaft und Bildung versteht,2 erneut und heftig geführt: Vorwürfe des Eurozentrismus kursieren im Internet; spannend bleibt, wie Objekte präsentiert werden, welche Auswahl von Objekten und welche Konnotation wir erwarten dürfen. … Auch jetzt, wir verharren nach wie vor im Dunkeln, hängen wir vor mandu yenu unseren Gedanken nach, sind versucht, uns zu fragen, was wir eigentlich sehen – Sind wir zufrieden mit dem kolonialen Gedankenspiel, dessen Zweischneidigkeit sich immer wieder in ethnographischen Museen ergibt? Sind wir bereits satt mit den zwangsläufig selektiven Beschreibungen, die uns über das Geschenk König Nyojas an den deutschen Kaiser informieren? Wissen wir nun, was wir gegenüber stehen? Einem Objekt, das, über und über mit bunten Perlen bestickt ist, aus zwei Ebenen besteht: die Sitzfläche wird von ebenfalls bestickten Figuren begrenzt und von schlangenförmigen Körpern getragen, die Fußbank wird aus fünf weiteren Figuren gebildet, schließt beiderseits mit Gewehre tragenden Figuren ab, die den Sitzenden umrahmen. Wenn wir uns in diesem Moment an Geary erinnern, hilft sie uns weiter, indem sie uns Details der Ikonographie näherbringt: Sie erläutert, dass sich die widerspiegelnde Weltsicht der Bamum in dem verwendeten Holz des Kapok-Baums abbildet, welches als Unglück und Gefahren abwehrend gilt. Die Perlen und Kaurischnecken wurden nicht nur von der königlichen Familie, sondern auch von den adligen Familien finanziert, welche sich somit mit dem Thron und dem Herrscher solidarisch und zusammengehörig fühlten (Geary 2008: 44). Die Autorin gibt an, dass die meisten Quellen die oberen beiden Figuren als Zwillingspaar beschreiben; Zwillingen wird besondere Kraft und Macht zugewiesen, die nur vom König besänftigt werden kann. Der männliche Zwilling hält ein Trinkhorn, der weibliche Zwilling eine Schale – Palmwein und Kolanüsse sind hier als Zeichen für Gastfreundschaft und Gemeinschaft zu deuten. Die Schlange und die Muster, welche den Sitz bilden, gelten als Symbole für die Eigenschaften des Königtums wie Fruchtbarkeit und Weisheit, sie stehen zudem für Mut und Tapferkeit im Krieg, was die beiden   2siehe

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http://humboldt-box.com (27.09.2017)

Gewehre tragenden Soldatenfiguren untermauern. Die Figuren in der Fußbank setzt sie mit Dienern gleich, die den königlichen Hofstaat stets mittragen. Der Thron als Gesamtkunstwerk ist jedoch nur vollständig, wenn der König auf ihm sitzt … Der Anblick des Königs, der von den Zwillingsdienern beschützt wird, auf der doppelköpfigen Schlange sitzt, von Dienern umgeben und von den Soldaten auf der Fußbank bewacht, der aber in einer Geste der Überlegenheit auch seine Füsse auf die Gewehrgriffe stellen kann, demonstriert die Grundprinzipien der Bamum-Monarchie. Wenn der Thron für Zeremonien aus dem Palast getragen wird, dann steht er niemals allein. Vor ihm und auf dem Sitz liegt ein Leoparden- oder Löwenfell, und ein Läufer in Form einer doppelköpfigen Schlange rundet das Ensemble ab. Zwei massive Elefantenstosszähne (Elfenbein war dem König vorbehalten) rahmen den mandu yenu ein, neben ihn werden andere königliche Hocker gestellt, und die königlichen Diener und Palastadligen stehen an seinen Seiten … Nur besondere Höflinge konnten ein so machtvolles Ritualobjekt berühren, und niemand anders als der König durfte darauf sitzen, ohne schwerwiegende Folgen und sogar den Tod fürchten zu müssen. Bis heute darf niemand auf einem Stuhl sitzen, den der Herrscher einmal benutzt hat (Geary 2008: 49). Wenn wir uns jedoch nicht an Geary erinnern, bleibt ein Bedauern der für uns dekontextualisierenden Präsentation eines faszinierenden Throns, der lediglich als Objekt, als zu bestaunendes und faszinierendes Werk für sich alleine steht. Wir sind an die gängige Praxis in Kunstmuseen erinnert – dabei stehen die Gegenstände für sich alleine, wirken und sprechen aus und für sich selbst. Ausschließlich der visuelle Ausdruck und die künstlerische Ästhetik sind entscheidend, keinerlei Begleitinformationen, evtl. Erläuterungen oder biographische oder funktionale Angaben lenken ab vom Wirken und der Ästhetik der Dinge … Kunstmuseen verstehen sich als ausgegrenzte Räume, in welchen die Werke ihren eigenen, ästhetischen und künstlerischen Vorgaben entsprechend zu sehen sind. Die eigene Wirkkraft von Kunst bedingt den Ausschluss von Informationen; Kunst wirkt autonom und individuell, und Beschreibendes oder Begleitendes beeinflusst die den Dingen inhärente Wirkung; so der oft vermittelte Ansatz. Dass sich auch in Kunstwerken Be-

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deutung und Hintergrund, Handwerk und Präsentation vermischen, ist jedoch selbstverständlich, auch hier wirkt der Prozess der Musealisierung, welcher die Gegenstände in einen neuen Bedeutungszusammenhang einbindet. Die Ausstellungspräsentation nach formalästhetischen Kriterien wie die einer in Kunstmuseen üblichen Präsentationsweise, oder die Darstellung eines Aspektes, ob dieser die Ikonographie, die Funktion und Verwendung oder einen religiösen und rituellen Bezug betont – stets werden wir mit der Limitiertheit der Darstellung konfrontiert. Stets begegnen uns dieselben Schwierigkeiten und Fragen, aber auch Chancen und Möglichkeiten in der Präsentation und der Freude am Umgang mit materieller Kultur, die in einem individuellen Kontext stand und steht, einem permanenten Wandel ausgesetzt ist, sich mit Umdeutungen konfrontiert sieht. Genügt es uns, dass das medium bereits the message ist (Mai 1986: 122), der museale Rahmen sich als Ort der Ausstellung selbst genügt, oder nutzen wir die Chance der Einbindung in einen, wenn auch selektiven, Kontext, der uns kleinste Mosaiksteine an Bedeutung und Wissen aus einem unendlichen Reservoir an Deutung und Zuschreibung zur Verfügung stellt? Oder verschließen wir nicht nur die Augen, sondern schließen ebenfalls ethnographische Abteilungen in bestehenden Museen, um Platz zu machen für andere Disziplinen, die offenbar unkritischer damit umgehen, ›Fakten‹ zu transportieren? Es bleibt »die Macht der Aneignung und Repräsentation des Fremden. Es geht um Wissens- und Darstellungsmonopole … Es geht um die Frage, wie und unter welchen Umständen, Objekte fremder Kulturen ins Museum gelangten und Zeitgeist gesteuerten Repräsentations- und Sinngebungszwecken dienten und dienen« (Bräunlein 2004: 28). Es bleibt aber auch die Freude am Umgang mit dem ›Anderen‹, Interesse an Unbekanntem, die Konfrontation mit Geschaffenem und die Neugier am Leben der Dinge. Wir lassen uns begeistern und sehen weiteren Entwicklungen gespannt entgegen. Literatur Boas, Franz 1887. The Occurrence of Similar Inventions in Areas Widely Apart. Science IX (224), 485-486. Born, Klaus 1981. Skulpturen aus Kamerun, Sammlung Thorbecke, 1911/12. Mannheim: Städtisches Reiss-Museum. Bräunlein, Peter J. 2004. Religion und Museum: Zur visuellen Repräsentation von Religion/en im öffentlichen Raum. Bielefeld: transcript. 480

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Nathalie Scholz

Magd und Denker revisited Bemerkungen zur Bewertung von wissenschaftlicher Museumsarbeit Kürzlich besuchte ich eine Tagung, die im Rahmen des Masterstudiengangs Museumsmanagement- und Kommunikation an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin ausgerichtet wurde. Sie trug den provokanten Titel ›Muexit. Braucht das Museum die EU?‹1 Ein Museumsfach an einer wirtschaftlich-technischen Fachhochschule? Ganz recht – und zwar bereits seit 1993 (Fackler 2014: 42). Neben Studiengängen für Bauingenieurswesen, Betriebswirtschaftslehre und International Business finden sich der Bachelorstudiengang Museumskunde und der oben genannte Masterstudiengang.2 Hier werden die Museologinnen und Museologen von morgen ausgebildet, mittels eines ausgewogenen Verhältnisses von Theorie und Praxis – und offensichtlich auch mit einem Bewusstsein für durch Drittmittel geförderte Forschungsprojekte im Museum. Als Ethnologin mit Museumsschwerpunkt und Erfahrung in der Museumsarbeit bin ich an der Geschichte und Entwicklung der ethnologischen Institutionen interessiert und möchte mich den unterschiedlichen Formen, die die Ethnologie als Wissenschaft einnehmen kann, widmen. Hierzu gehört auch die Frage, welche Qualifikationen für die Etablierung im museumsethnologischen Berufsalltag gefragt sind. Die vielfach beschriebene Aufspaltung in eine Universitäts- und eine Museumsethnologie stellt ein besonders spannendes Diskussionsfeld dar, dessen Wahrnehmung und Problematisierung in der Ethnologie durch Mark   1

Die Tagung fand am 13. Februar 2017 statt, siehe http://mmk.htwberlin.de/aktivitaeten/tagungen/muexit/ (30.06.2017). 2 Siehe https://www.htw-berlin.de/studium/studiengaenge/?no_cache=1 (26.02.2017). In der DDR konnte man Museologie bzw. Museumskunde bereits seit den sechziger Jahren in Leipzig studieren (vgl. Fackler 2014: 41).

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Münzel unterstützt und geprägt wurde. Die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses für ethnologische Museen wird häufig mit diesem Thema in Verbindung gebracht, daher halte ich es für notwendig, auch die Museologie (oder Museumskunde) als Qualifizierungsmöglichkeit für die Museumswelt mit zu berücksichtigen. In der Ethnologie ist die Auseinandersetzung mit der Trennung von Museums- und Universitätsethnologie schon regelrecht zu einer (Marburger) Tradition geworden.3 Im Jahr 2000 beschreibt Münzel in seinem Artikel ›Magd und Denker: Zu den kulturellen Unterschieden zwischen Universität und Museum‹ eine Kluft, die sich zwischen Praktikerinnen im Museum (›Magd‹) und Theoretikern an der Universität (›Denker‹) aufgetan habe. Die Universitäts- und MuseumsethnologInnen spalteten sich innerhalb ihrer Disziplin in zwei Subkulturen, jeweils mit besonderen kulturellen Eigenheiten (Münzel 2000: 106-107). Als Kenner beider Arbeitsbereiche listet Münzel Eigenschaften des jeweiligen Alltags auf und erkennt, dass beide Subkulturen einen jeweils spezifischen Rhythmus entwickelt haben (Münzel 2000: 107). Fast zwanzig Jahre nachdem ›Magd und Denker‹ als Teil des Tagungsbandes ›Zur Beziehung zwischen Museum und Universität in der Ethnologie‹ (Kraus und Münzel 2000) erschienen ist, gilt es, den Text vor dem Hintergrund neuer Entwicklungen sowie persönlicher Beobachtungen und Erfahrungen noch einmal zu lesen. Museologie, Ethnologie und die Forschung Die Entwicklung der eingangs erwähnten museologischen Studiengänge stellt Guido Fackler 2014 in seinem Beitrag in der Zeitschrift ›Museumskunde‹ vor. So konnte sich in Deutschland das Fach Museologie erst in der Nachkriegszeit als eigenständige Disziplin etablieren – zunächst vor allem in der DDR, nach der Wiedervereinigung auch verstärkt in der gesamten Bundesrepublik (Fackler 2014: 40). Fackler beschreibt das Museologie-Studium und das Museumsvolontariat als zwei nebeneinander   3

Hiervon zeugen die beiden Tagungsbände Kraus und Münzel (2000, 2003). Die neuere Publikation von Kraus und Noack (2015) knüpft mit ihrem ersten Abschnitt ›Ungleiche Geschwister? Ethnologie an Museum und Universität« erneut an diese Thematik an. Auch sie ist das Produkt einer Tagung, die 2014 in Bonn stattfand.

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stehende Ausbildungsmöglichkeiten für die Museumslaufbahn: »Während man mit dem Volontariat die praxeologisch-museumskundliche Tradition unter dem Primat der Quellenwissenschaft fortschreibt, wird mit den verschiedenen Studiengängen die internationale Entwicklung nachgeholt« (Fackler 2014: 42). Als in anderen Ländern die Einführung von museumskundlichen Studiengängen längst stattgefunden hatte, verließen sich hiesige Museen lieber auf den Nachwuchs aus den so genannten Quellenfächern. Dieser Begriff wurde von Friedrich Waidacher geprägt und meint sämtliche »museumsrelevante Disziplinen« von der Archäologie über die Ethnologie und Kunstgeschichte bis hin zu den Naturwissenschaften (Fackler 2014: 41). Die Kombination einer Quellenwissenschaft mit dem Museologie-Studium ist für die Schwerpunktsetzung sehr wichtig. Fackler betont dennoch, dass sich z.B. die Würzburger Museologie, der er den letzten Abschnitt seines Aufsatzes widmet, als eigenständige Universitätsdisziplin verstehe (Fackler 2014: 44).4 Spätestens mit der Einführung des neuen Masterstudiengangs ›Sammlungen – Provenienz – Kulturelles Erbe‹ an der Würzburger Universität hat das Fach als forschende Disziplin noch einmal neuen Auftrieb erhalten.5 Da das Thema Provenienzforschung natürlich auch an Fächern wie Kunstgeschichte und Ethnologie nicht vorbeigeht,6 verstehe ich dies als eine weitere Verzahnung der Museologie mit den Quellenfächern und als einen wichtigen Schritt, Museumstheorie und -praxis stärker ineinander zu verweben. Der Schlüssel hierzu ist, das Forschungspotential von Museen und Sammlungen stärker in den Vordergrund zu bringen. Beispielhaft geschieht dies   4

Die Professur für Museologie, deren Inhaber Guido Fackler ist, wurde 2011 an der Würzburger Julius-Maximilians-Universität eingerichtet. 5 Der Studiengang wurde zum Wintersemester 2016/17 eingeführt und will auf die seit einigen Jahren verstärkt geförderte und geforderte Provenienzforschung an den Museen reagieren, siehe https://www.phil.uniwuerzburg.de/sammlungen_provenienz/studium/ (24.06.2017). 6 Provenienzforschung ist seit 2011 ein Modul im Lehrangebot des Kunsthistorischen Instituts der Freien Universität Berlin, siehe http://www.geschkult.fuberlin.de/e/khi/forschung/projekte/entartete_kunst/provenienzforschung/ index.html (27.06.2017). In Bonn wurden 2016 zwei Stiftungsprofessuren für Provenienzforschung eingerichtet, Rechtswissenschaften und Kunstgeschichte arbeiten hierbei vernetzt, siehe https://www.uni-bonn.de/neues/285-2015, (27.06.2017).

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mittels der Wiederentdeckung und Sichtbarmachung von Universitätssammlungen und des gestiegenen Bewusstseins für die Frage, wie die Objekte in die (Museums-)Sammlungen gelangt sind, was sich in diversen Forschungsprojekten widerspiegelt.7 Hierbei ist auch die eigene Fachund Institutionengeschichte ein nicht zu vernachlässigendes Forschungsfeld, da Kenntnisse über die Entstehung, Prägung und Entwicklung einer Sammlung oder eines Fachgebietes von großer Bedeutung für die eigene Positionierung und neue Forschungsfragen sind. Die eigene Fachkultur als Forschungsfeld zu begreifen, schlägt Karoline Noack vor: »Eine Annäherung zwischen der Universitäts- und Museumsethnologie durch das wechselseitige Ausloten von Fachidentitäten ließe sich beispielsweise in einem Projekt einer Institutionenethnographie denken« (Noack 2015: 60). Dies ist sicherlich auch in Münzels Interesse, denn er betont, dass gerade die »scharfe Kontrastierung« der beiden Arbeitsfelder »neue Anregungen« liefern könne (Münzel 2003: 22). In seinem Aufsatz »Magd und Denker« macht Münzel nichts anderes, als die beiden ›Kulturen‹ aus ethnologischer Perspektive zu beschreiben und die Grenzen absichtlich etwas schärfer zu umreißen: zwei Kulturen mit unterschiedlichem Alltag – die einen mit einem stärkeren Praxisbezug, die anderen mehr der Theorie zugeneigt. »Ans Museum geht, wer keine Theorie betreiben möchte; an die Universität, wer sich nicht materiell verunreinigen will« (Münzel 2000: 106). Dieser Dichotomie wirkt ein seit nun mehreren Jahren anhaltender Boom in der Auseinandersetzung mit museums- und objekttheoretischen Themen entgegen. Wir haben es mit der Ausbildung zweier Wissenschaftskulturen, deren Gegensätzlichkeit zwar künstlich (Münzel 2003: 22) aber dennoch nicht bedeutungsleer ist, zu tun. Ist diese damals diagnostizierte innere Spaltung heute noch ein Thema? Unwissenschaftlichkeit vs. Wissen(schaft) vermitteln Die Beschäftigung mit der zuvor beschriebenen Trennung von Universitäts- und Museumsethnologie verleitet dazu, ebenfalls nach Gegensätzen und Verbindungen zu suchen. Den Graben hierbei noch zu vertiefen kann jedoch nicht zielführend sein. Die Betrachtung einzelner Begriffe  

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Eine Auswahl aktueller Projekte und Förderprogramme wird im letzten Abschnitt vorgestellt.

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hilft, um das Thema etwas distanzierter anzugehen, vor allem, wenn es sich um Begrifflichkeiten handelt, die man selbst bedenkenlos gebraucht. So regt Bernd Schmelz etwa an, den Begriff des Museumsethnologen zu hinterfragen: Von Museumsethnologie zu sprechen sei schwierig, da auf diese Weise die Abgrenzung von einer Universitätsethnologie noch unterstützt werde (Schmelz 2003: 103). Das ist einleuchtend, da in anderen Fächern auf Wortschöpfungen wie z.B. Museumshistorikerinnen oder Museumsbiologen verzichtet wird. Die Museumsethnologie soll daher als Schwerpunkt innerhalb der Ethnologie und nicht als Begriff zur Grenzziehung verstanden werden. EthnologInnen scheinen sich voneinander abzugrenzen, sobald sie sich mit der Museums- bzw. Universitätsumgebung identifizieren. Erklärungsversuche für dieses Phänomen gibt es mittlerweile zahlreiche. Zuletzt machte Mona Suhrbier erneut auf eine historisch gewachsene Trennung innerhalb der Ethnologie aufmerksam, die sie mit der inhaltlichen Ausrichtung bzw. Verschiebung des Faches in Richtung der Sozialwissenschaften verbindet: Die besondere Problematik der Museen kann man nur im Zusammenhang mit dem universitären Fach verstehen. Denn mit der sozialwissenschaftlichen Wende haben sich Museum und Universität immer weiter voneinander entfernt (Suhrbier 2015: 95). Die Museumsethnologie werde an den Universitäten vernachlässigt, was dazu führt, dass mittels des Ethnologiestudiums kaum Nachwuchs für die ethnologischen Museen ausgebildet werde (Suhrbier 2015: 95). Till Förster verortet die Spaltung in den unterschiedlichen Produkten, die an Museum bzw. Universität hervorgebracht werden: Professionalisierung bedeutet aber in beiden Bereichen etwas anderes. Der Ausweis einer erfolgreichen Tätigkeit an einem Museum sind Ausstellungen mit zugehörigem Katalog, während an einer Universität die wissenschaftlichen Publikationen im Vordergrund stehen. Beide wenden sich an ein unterschiedliches Publikum bzw. an eine andere Leserschaft (Förster 2003: 36). Wenn ich an mein Studium zurückdenke, habe ich nicht selten Ausstellungskataloge für meine Referate und Hausarbeiten verwendet. In Mar487

burg war dies zu der Zeit, als das damalige Fachgebiet Völkerkunde noch im Kugelhaus residierte, mit etwas Unbehagen verbunden, da die Signaturengruppe ›Ausstellungskataloge‹ im hintersten Raum untergebracht war. Lehnte man sich im ersten Bibliotheksraum aus dem Fenster und blickte nach rechts, konnte man erkennen, dass der besagte Raum sich nur auf einen relativ dünnen Balken stützte und ansonsten in der Luft zu schweben schien. Der Balken hat glücklicherweise gehalten und das, obwohl sich unter den Ausstellungskatalogen einige sehr dicke Exemplare befanden, an denen neben den Ausstellungs-KuratorInnen auch oft FachkollegInnen von der Universität mitgewirkt hatten. Hier ist mir besonders der ›Amazonas-Indianer‹-Katalog von Doris Kurella und Dietmar Neitzke in Erinnerung geblieben (Kurella und Neitzke 2002). Vermutlich habe ich bei der Erarbeitung neuer Themen während des Studiums gern auf Ausstellungskataloge zurückgegriffen, da sie für den Einstieg einen leichteren Zugang und einen schnellen Überblick versprachen. Försters Hinweis auf die unterschiedlichen Zielgruppen ist sehr aufschlussreich. Da Ausstellungstexte und -kataloge für ein möglichst breites Publikum formuliert werden sollten, setzt hier schnell die Kritik der Unwissenschaftlichkeit an, etwa wenn pauschalisiert oder vereinfacht wird. Hierzu bemerkt Förster: Der Zwang, einen Gegenstand immer wieder allgemein verständlich darstellen zu müssen, kann durchaus heilsam sein. Andererseits laufen solche Publikationen Gefahr, zugunsten der Allgemeinverständlichkeit auf tiefer gehende, komplexere Darstellungen und Analysen zu verzichten. Das muss aber nicht so sein (Förster 2003: 36). Auch Münzel betont, dass diesem Dilemma durch Zusammenarbeit entgegengewirkt werden könne: »Gemeinsam können sie [das ethnologische Museum und die universitäre Ethnologie] den (von beiden Seiten liebevoll inszenierten) Scheingegensatz zwischen verspielter Schau und strenger Wissenschaft überwinden« (Münzel 2003: 22). Komplexe Themen verständlich zu vermitteln ist nicht nur eine große Kunst, sondern eine Wissenschaft für sich. Die Besucherforschung wird vor allem durch die

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Museumspädagogik bzw. Bildung und Vermittlung vorangetrieben und ist zu einem eigenen Forschungsfeld avanciert.8 Wenn sich in und für Museen entstandene Texte nicht mit wissenschaftlichen Publikationen messen können, gleichzeitig aber die Forschung im Museum immer ausdifferenzierter wird (auch Restaurierung ist schon lange kein Ausbildungsberuf mehr, sondern ein Studium), stellt sich die Frage, wie wissenschaftliche Museumsarbeit bewertet wird. Dieser Frage wird im folgenden Abschnitt nachgegangen, wobei auch die zu Beginn vorgestellte Museologie sowie die museumsrelevanten Naturwissenschaften mit in den Blick genommen werden. Zur Bewertung von Museumsarbeit: Von Forschung in Museen und Forschungsmuseen Wenn jemand vor dreissig, selbst vor zwanzig Jahren von der Museologie als einer Fachwissenschaft gesprochen oder geschrieben hätte, würde er bei vielen Personen einem mitleidigen, geringschätzenden Lächeln begegnet sein. Jetzt freilich ist dies anders (Grässe 1883: 113), freut sich Johann Georg Theodor Grässe 1883 in seiner ›Zeitschrift für Museologie und Antiquitätenkunde‹, die er, zu jenem Zeitpunkt Direktor des Grünen Gewölbes in Dresden, selbst herausgibt. Auch im Jahr 2016 scheint immer noch die Notwendigkeit zu bestehen, die Arbeit im Museum als wissenschaftliche Tätigkeit auszuweisen: die Koordinierungsstelle für wissenschaftliche Universitätssammlungen in Deutschland stellt entsprechend klar: »Die Arbeit mit und an Objekten ist eine grundlegende wissenschaftliche Beschäftigung« (Koordinierungsstel  8

Der Museumsbund bereitet aktuell eine neue Handreichung zum Thema Besucherforschung vor, die Ende 2017 erscheinen soll, siehe http://www.museumsbund.de/besucherforschung-evaluation/ (25.06.2017). Eine kleine Studie, in der Ausstellungstexte auf den Prüfstand genommen wurden, ist Ergebnis einer Kooperation zwischen dem Linden-Museum Stuttgart und der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, siehe Fromm und Schulz (2012).

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le 2016: 1). Wie kommt es, dass hierauf extra hingewiesen werden muss? Welchen Stellenwert hat die Museumsarbeit in der Wissenschaft? Erschwerend für die Auseinandersetzung mit Museen ist zunächst die häufig angesprochene Problematik, dass der Begriff ›Museum‹ nicht geschützt ist (Deutscher Museumsbund 2006: 4) und die Bandbreite dessen, was sich als Museum bezeichnet und vermarktet, entsprechend groß und vielfältig ist. Vermutlich hat die undurchschaubare Masse an Museumstypen und ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen dazu geführt, dass Museen ihre Wissenschaftlichkeit verteidigen müssen. Der Vorwurf, unwissenschaftlich zu arbeiten, ist jedoch auch aus den eigenen (fachlichen) Reihen zu hören. Was für Grässe also vor über hundert Jahren bereits selbstverständlich war, hat sich in der Fachwelt (und hier sind alle Einrichtungen gemeint, sowohl universitäre Institute als auch Museen und Sammlungen) nicht durchsetzen können. Daher ist auch die Einführung des Begriffs ›Forschungsmuseum‹ nicht verwunderlich. Einige Beispiele seiner Verwendung sollen im Folgenden Aufschluss über Museumsidentitäten und ihrer Beziehung zur jeweiligen Universitätsdisziplin geben. Der Begriff des Forschungsmuseums ist eindeutig naturwissenschaftlich geprägt. Er wird seit einiger Zeit auch für ausgewählte kulturhistorische Museen verwendet: Der Wissenschaftsrat spricht in seinen ›Empfehlungen zu wissenschaftlichen Sammlungen als Forschungsinfrastrukturen‹ 2011 von den ›großen Forschungsmuseen‹ (Wissenschaftsrat 2011: 15). Bei diesen Forschungsmuseen handelt es sich um Einrichtungen, die der Leibniz-Gemeinschaft angehören und besonders gefördert werden, darunter auch das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg und das Römisch-Germanische Zentralmuseum in Mainz.9 Allein die Existenz der Begrifflichkeit ›Forschungsmuseum‹ verweist darauf, dass Museen auch heutzutage noch explizit auf ihre Forschungstätigkeit hinweisen müssen. In den Empfehlungen des Wissenschaftsrates wird daher die Schwierigkeit, die der Begriff des Forschungsmuseums mit sich bringt, nicht verschwiegen: In einer Fußnote wird sich auf die Hauptaufgaben des Museums – Sammeln, Bewahren, Forschen und Vermitteln gemäß ICOM – berufen, um den Begriff des Forschungsmuseums zu untermauern. Direkt darauf folgt allerdings die Feststellung, dass es sich um eine Tautolo  9

Siehe https://www.leibniz-gemeinschaft.de/institute-museen/ forschungsmuseen/ (27.06.2017).

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gie handele (Wissenschaftsrat 2011: 15, FN 19).10 Und schließlich wird eine Unterscheidung für jene Fälle gemacht, von denen man doch ausdrücklich als Forschungsmuseen sprechen könne, nämlich, wenn diese sich an Einrichtungen befinden, die sich vordergründig als Forschungseinrichtung definieren (Wissenschaftsrat 2011: 15, FN 19). Das lässt das Universitätssammlungsherz natürlich gleich höher schlagen! Doch leider befindet sich in diesem Verband der Forschungsmuseen bisher keine einzige Universitätssammlung. Die Forschung als besonderes Merkmal und gar als Alleinstellungsmerkmal (Gemeinsame Wissenschaftskonferenz 2012: 5-6)11 zu deklarieren, funktioniert nur bedingt. Schließlich spricht auch niemand von speziellen Bewahrungs- oder Vermittlungsmuseen obwohl diese Bereiche an Museen ebenfalls in unterschiedlicher Intensität umgesetzt werden. Interessant ist, dass der Begriff häufig in naturwissenschaftlichen Kontexten gebraucht wird. Dort ist er seit Jahren etabliert und es stellt sich die Frage, ob die naturkundlichen Museen auf diese Weise ihren Anschluss an die Universitätsdisziplinen als gleichberechtigte Forschungseinrichtungen bewahren konnten. Ein kleiner Ausflug in Biologie und Co. liefert hierfür einige Anhaltspunkte. Neben den Forschungsmuseen der Leibniz-Gemeinschaft (WGL-Forschungsmuseen) gibt es weitere Verbände, die sich unter dem Begriff Forschungsmuseum zusammengeschlossen haben, in diesen Fällen allerdings explizit mit naturwissenschaftlicher Ausrichtung: Der ›Humboldt-Ring‹ – ein ›Verbund deutscher Forschungsmuseen‹ mit sechs Mitgliedern12 formuliert z.B. die Förderung   10

Markus Walz weist die Tautologie-Zuschreibung hingegen entschieden zurück und sieht das Problem eher in der nur vagen Definition von Forschung seitens des Internationalen Museumsrats ICOM (siehe Walz 2016b: 205). 11 Neben der Forschung werden sogar die Brückenbildung von Forschung zu Bildung und die Wechselwirkungen »der Bereiche Forschung, Sammlung und Vermittlung« als Alleinstellungsmerkmale der Forschungsmuseen benannt (Gemeinsame Wissenschaftskonferenz 2012). Das Eckpunktepapier liest sich wie eine Beschreibung herkömmlicher, lange etablierter Aufgabenbereiche an Museen. Ihr Alleinstellungsmerkmal kann also höchstens die besondere Bundesförderung sein, die ihnen mehr Forschungsaktivitäten erlaubt. 12 Siehe Mitglieder des Humboldt-Rings in http://humboldt-ring.de/index.php/ de/mitglieder (21.06.2017).

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der Biodiversitätsforschung als ein gemeinsames Ziel.13 Das Konsortium ›Deutsche Naturwissenschaftliche Forschungssammlungen e.V. (DNFS)‹ hat aktuell zehn institutionelle Mitglieder, darunter auch eine Universitätssammlung und drei ›ständige Gäste‹.14 Der Begriff der Forschungssammlung ist wiederum auch der Ethnologie nicht fremd. So wird bei Universitätssammlungen auch gern von Lehr- und Forschungssammlungen gesprochen, um ihre Funktion hervorzuheben (Noack 2016: 167). Der Zusatz von Lehre und Forschung verleiht dem Sammlungsbegriff eine gewisse Dynamik – es wird aktiv an ihnen gelehrt und gelernt. Dies passiert in Museen natürlich auch, nur dass dort hauptsächlich die Präsentation bzw. Ausstellung der Ort ist, an dem Mensch und Objekt aufeinander treffen – meistens getrennt durch Vitrinenglas. Wenn Forschenden der Zugang zu den magazinierten Sammlungen gewährt wird, müssen sie sich zum Schutz der Objekte (und zum Eigenschutz) an gewisse Auflagen halten. Im Seminar hingegen kann meist eine freiere Auseinandersetzung mit den Gegenständen erfolgen, da das Objekt-Handling nicht so stark reglementiert ist wie in professionell geführten Museen. Wichtig ist an dieser Stelle ganz klar die Zusammenarbeit zwischen Universitätsinstituten und Museen um Studierenden Einblicke in aktuelle Museumsarbeit zu gewähren. Daher möchte ich auch, um auf die Merkmale der Forschungsmuseen zurückzukommen, den Punkt ›Vernetzung mit Hochschulen‹ im ›Bundes-Länder-Eckpunktepapier zu den Forschungssammlungen der Leibniz-Gemeinschaft‹ hervorheben. Dort werden als verbindendes Element zwischen Forschungsmuseum und Universität gemeinsame Berufungen benannt (Gemeinsame Wissenschaftskonferenz 2012: 5). Dies erinnert stark an Zeiten, in denen auch die Leitungsstellen ethnologischer Museen und Universitätsinstitute personell verwoben waren, etwa in Frankfurt am Main, wo bis 1966/67 das Museum für Völkerkunde und das Frobenius-Institut in Personalunion geführt wurden (Frobenius-Institut 1998: 17). In Hamburg war bis 1971 Hans Fischer gleichzeitig Direktor des Völkerkundemuseums und Lehrstuhlinhaber des damaligen Völkerkundlichen Seminars, bis er sich vollständig der Leitung des Instituts widmete (Kokot 2012: 239). Annette Rein weist auf die heutzutage ungewöhnlich anmutende Stellenkonstruktion hin:   13 14

Siehe http://humboldt-ring.de/index.php/de/ziele (21.06.2017). Siehe http://www.dnfs.de/seite/mitglieder (21.06.2017).

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Was heute fast als ein Novum erscheint, war vor 100 Jahren eine Selbstverständlichkeit. Durch Personalunion war ein Museumsdirektor auch Universitätsprofessor, und die Museumsarbeit war gleichermaßen mit Forschen, Sammeln, Lehren und Ausstellen von Objekten verbunden (Rein 2016: 9). Johannes Tripps beschreibt in Markus Walz‘ ›Handbuch Museum‹ (Walz 2016a) den außergewöhnlichen Fall einer Kunstgeschichtsprofessur in Frankfurt am Main, die zur Hälfte die Tätigkeit an einem Museum beinhaltet und bezeichnet diese besondere Einrichtung als einzigartig und richtungsweisend: »Die in diesem Rahmen entstandenen Projekte und Publikationen sprechen in ihrer wissenschaftlichen Qualität dafür, dass hier ein Modellfall vorliegt, der Schule machen sollte« (Tripps 2016: 208). Leider wird die betreffende Professur nicht benannt, es könnte sich aber um den Leiter der Antiken- und Asiensammlungen der Liebieghaus Skulpturensammlung handeln, der gleichzeitig eine außerplanmäßige Professur an der Goethe-Universität innehat. Durch Kontakte und letztendlich Personen, die Universitäten und Museen miteinander verbinden, ergeben sich Möglichkeiten für innovative Projekte, wie Tripps betont. So fand auch zwischen Goethe-Universität und Liebieghaus 2013 ein gemeinsames Ausstellungsprojekt statt, welches ich als damalige Mitarbeiterin an der Universität administrativ begleiten durfte: ›Nok – Ein Ursprung afrikanischer Skulptur‹ (Breunig 2013). Das Ergebnis der Kooperation war eine Ausstellung, die stark von den unterschiedlichen Expertisen, die hier zusammenkamen, profitierte. Während die beteiligten Archäologinnen und Archäologen ihre Forschungsergebnisse und -fragen frisch von der Grabungsstätte in die Ausstellung einbrachten, betrachtete der Kurator des Liebieghauses die Skulpturenfragmente zusätzlich unter ästhetischen Gesichtspunkten. Dies führte zu einer besonderen Art der Präsentation, einer idealen Verbindung aus Information und Ästhetik, die die einzelnen Institutionen ohneeinander auf diese Weise nicht hätten hervorbringen können. Dem Thema Forschung in Museen bzw. Forschungsmuseen kommt in dem von Markus Walz herausgegebenen ›Handbuch Museum‹ ein eigenes Kapitel zu (Walz 2016a: 202-218). Darin wird zwischen den einzelnen Museumsarten unterschieden, was sehr viel ertragreicher ist als die verallgemeinernden Formulierungen in dem Eckpunktepapier der Gemeinsa493

men Wissenschaftskonferenz. Die Arbeit an den Bestandskatalogen wird im Abschnitt über die ›Forschung in Kunstmuseen‹ als wichtige Grundlagenforschung bewertet (Tripps 2016: 206), was für alle Museen gelten sollte. Ein Blick in die Vergangenheit der Biologie hingegen liefert Informationen über den Stellenwert von Naturmuseen für die Fachdisziplin: Am 1. Juli 1994 fragt Hubert Markl im Rahmen des Akademischen Festaktes anlässlich der Gründung des Zentralinstituts Museum für Naturkunde und des Instituts für Biologie der Humboldt-Universität zu Berlin »Wohin geht die Biologie?« Markl betont einleitend die Diversität des Faches, indem er über die »klassischen Teil-Disziplinen … Anthropologie, Botanik, Mikrobiologie [und] Zoologie« hinaus auch die Querschnittsbereiche wie Genetik, Ökologie usw. als Bereiche der biologischen Wissenschaften und nicht etwa einer singulären Biologie versteht (Markl 1994: 5). Biowissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse durchdrängen außerdem zahlreiche Nachbardisziplinen, inklusive der Geisteswissenschaften, und beeinflussen durch Methoden und Erkenntnisse deren Forschung zum Teil maßgeblich (Markl 1994: 6). Die Ausbreitung der Biologie ist für Markl grenzenlos, da sich der Mensch als biologisches Wesen immer selbst in den Mittelpunkt stelle (Markl 1994: 8). Für die Erforschung der Welt, vor allem der Vielfalt der Organismen, kommt dem Naturkundemuseum (zu dessen Eröffnung Markl seinen Vortrag hält) eine bedeutende Rolle zu: Die Pflege dieses Wissens und seine beständige Vertiefung und Erweiterung in den dafür bestgeeigneten Institutionen – also den bedeutenden biologischen Forschungsmuseen dieser Welt, wovon mit dem Museum für Naturkunde der Humboldt-Universität hier mitten in Berlin mit Sicherheit eines der zehn, wenn nicht fünf bedeutendsten Zentren solcher Forschung gelegen ist, – gehört zu den großen Kulturleistungen von Wissenschaftsnationen, nicht anders als die Pflege ihrer wertvollsten Bibliotheksbestände und Kunstschätze (Markl 1994: 13). Die Naturkundemuseen scheinen, zumindest damals, in ihren Quellenwissenschaften einen ganz anderen Status zu genießen als etwa die ethnologischen Museen. Dies mag an der ungebrochenen Relevanz ihrer Sammlungen für die Grundlagenforschung, z.B. Biodiversitätsforschung, liegen (Walz 2016b: 202). 494

Die acht Forschungsmuseen der Leibniz-Gemeinschaft erhalten für ihren Forschungsetat zur Hälfte institutionelle Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (2012: 3). Diese Art der dauerhaften Förderung ist sehr wichtig für die Museen, da sie nicht projektgebunden ist und somit große Freiräume lässt. Diesen Aspekt hebt auch der Wissenschaftsrat hervor, formuliert als Vorteil, den die Forschungsmuseen gegenüber den Universitäten hätten: hier [können] langfristig angelegte sammlungsbezogene Forschungsprojekte leichter verwirklicht werden als in den Universitäten, die sich in ihrer Forschung eher an den häufig kurzfristigen Schwerpunktsetzungen der Drittmittelförderung orientieren (Wissenschaftsrat 2011: 28). Sicherlich wären die Universitätssammlungen inhaltlich und aufgrund ihrer institutionellen Anbindung prädestiniert, um in den Kreis der WGLForschungsmuseen aufgenommen zu werden und so langfristige Förderung zu erhalten. Der Wissenschaftsrat bringt jedoch als gewichtigen Grund, der gegen die Aufnahme spricht, die in den meisten Fällen dürftige finanzielle, räumliche und personelle Ausstattung der Universitätssammlungen an (Wissenschaftsrat 2011: 29). Das Museumsstudium kehrt an die Universitäten zurück Den Universitätssammlungen kommt in der Debatte um die Trennung von Museum und Universität ein besonderer Stellenwert zu. Diese Sammlungen erfahren seit mehreren Jahren einen Aufschwung und dass ihnen vermehrt Beachtung geschenkt wird, beeinflusst letztendlich auch die Beziehung zwischen Museum und Universität. Eine Hauptaussage in Münzels ›Magd und Denker‹ ist, dass das bloße Studium der Ethnologie nicht ausreichend für die Museumsarbeit qualifiziere. Er beschreibt den Vorgang der Wissensreproduktion und vermittlung anhand des Referates. Es zieht sich als Kernmedium vom Studium bis in den Berufsalltag: Man liest ein Buch, fasst es zusammen und liest es, komprimiert in ein Referat, dem Seminar vor. Im Museum angekommen, verfahre man dann weiterhin ähnlich, mit den Ausstellungstexten als Folgeform der Referate (Münzel 2000: 112-113). Um aus dem Referatsduktus ausbrechen zu können, sind weitere Vermittlungs495

formen für den Unterricht an der Universität denkbar. Hierzu finden sich Anregungen im ›Positionspapier zur Lehre mit Sammlungen‹, herausgegeben von der Koordinierungsstelle für Universitätssammlungen in Deutschland. Objekte erlauben einen interdisziplinären Zugang. Dabei entstehen auch neue Forschungsfragen. In fakultätsübergreifenden Modulangeboten werden neben Fachkompetenzen auch allgemeine Schlüsselqualifikationen wie z.B. Methoden- und Handlungskompetenz vermittelt. Sammlungen mit ihrer Vielfalt an Objekten liefern hier fast grenzenlos Material und sind Ideengeber für neue Lehrformate. Die geistesund kulturwissenschaftliche Seminarstruktur der Lektüre mit anschließender Diskussion lässt sich mit Objekten bereichern und ergänzen (Koordinierungsstelle 2016: 1). Die Objekte können allerdings sehr viel mehr als nur bereichern und veranschaulichen. Als Forschungsgegenstand mit dem Potential, auf weitere Forschungsfelder zu verweisen (Sammlungszusammenhang, Herkunftsregion, Herstellungsart usw.), verdient das Objekt den Status einer eigenständigen Quelle, für deren Untersuchung ebenso wissenschaftliche Techniken und Fähigkeiten notwendig sind, wie zum Lesen und Interpretieren eines Textes oder wie zum Führen und Auswerten von Interviews. Um mit den Sammlungsbeständen entsprechend umgehen zu können, bedarf es spezifischer Qualifikationen. Bereits 1883 befasst sich Johann Georg Theodor Grässe mit dem Berufs- bzw. Ausbildungshintergrund von Museumsleitern: Allein im allgemeinen war doch der Grundsatz vorherrschend, zu Inspektoren oder Direktoren von Kunstsammlungen allgemeineren Umfangs entweder gediente Offiziere oder solche Personen zu wählen, denen man eine ruhige, einträgliche Stellung verschaffen wollte, und die man anderswo ihrer mehr weltmännischen als eigentlichen praktischen Bildung wegen nicht gut unterbringen konnte (Grässe 1883: 114). Laut Grässe qualifiziere besonders das ›Weltmännische‹ den ansonsten für die praktische Museumsarbeit ungeeigneten Akademiker, denn er könne mit seiner Weltgewandtheit sowohl ein internationales Publikum 496

als auch seine »Untergebenen« beeindrucken (Grässe 1883: 114). Schwieriger findet er hingegen zu beurteilen, ob für Kunstsammlungen eine akademische oder künstlerisch-technische Vorbildung, z.B. die eines Malers oder Kupferstechers, besser geeignet sei. Er schätzt, dass es dem Theoretiker leichter falle, sich das technische Wissen durch »Studium und Belehrung« anzueignen, als umgekehrt dem Techniker die Erlernung der theoretischen Grundlagen (Grässe 1883: 114-115). Die Schwierigkeit zu beurteilen, welche Ausbildung am besten für die Museumsarbeit qualifiziere, wird bei Grässes Überlegungen zu einer einheitlichen Abprüfbarkeit der Eignung für den Museumsberuf besonders deutlich: Ein Examen für Kandidaten um MuseumsbeamtenStellen gibt es nicht und wird es auch schon darum wohl schwerlich jemals geben, weil den Verhältnissen nach nur sehr wenige solcher Stellen existieren. Wie sollte auch eine Kommission zur Abhaltung solcher Prüfungen zusammengesetzt werden? Sie könnte nur wieder aus Direktoren von Museen bestehen und wie verschieden würden dann die Beurteilungen ausfallen, so lange nicht eine Einheit in den Ansichten über die Bildung und Eigenschaften eines Museumsbeamten überhaupt in den massgebenden Kreisen hergestellt ist (Grässe 1883: 131). Besonders geeignet erscheint ihm letztendlich der universal gebildete Akademiker: Mythologie, Symbolik, Anfangsgründe der Heraldik, Siegelkunde, Paläographie, Numismatik, Ethnographie, Keramik gehören natürlich auch zu denjenigen Gegenständen, welche der (sic) Inbegriff des museologischen Studiums bilden (Grässe 1883: 130). Durch die Ausdifferenzierung der Studiengänge und Ausbildungsberufe für eine Museumslaufbahn ist die Rekrutierung von Personal heute einfacher und es sind sowohl Spezialisierung als auch Kenntnisse in mehreren Bereichen oder Regionen erwünscht.15 Die kleinen Einblicke, die Grässe   15

Der Deutsche Museumsbund hat gemeinsam mit ICOM 2008 einen Leitfaden zum Thema Museumsberufe veröffentlicht, der die gängigen Positionen auflistet

 

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in die Museumswelt vor 130 Jahren liefert, sind wichtig für das Verständnis des Museumsbetriebes und seiner Entwicklung. Wenn auch einige Aussagen in Grässes Aufsatz heute seltsam bis befremdlich wirken, ist seine Diskussion des Verhältnisses von Theorie und Praxis für die Museumsarbeit bis heute aktuell und verdeutlicht die Notwendigkeit einer museumspraktischen Ausbildung im Rahmen des Studiums nur umso mehr. Der konkrete fachliche Bezug, wie ihn auch Grässe fordert, ist heutzutage ein wichtiges Einstellungsmerkmal. So kommen im Idealfall frisch ausgebildete Ethnologinnen und Ethnologen an die Völkerkundemuseen, um dort in die Berufspraxis einzusteigen. Bernd Schmelz plädiert ebenfalls dafür, ausgebildete EthnologInnen an den ethnologischen Museen einzustellen, wobei er den Weg über Museumspraktika während des Studiums sowie ein anschließendes Volontariat als ideal ansieht (Schmelz 2003: 111). Der fachwissenschaftliche Schwerpunkt ist für die Museumsarbeit von großer Bedeutung und die Universitäten reagieren mit neuen Masterstudiengängen darauf, indem sie zusätzlich museumspraktische Studiengänge anbieten oder entsprechende Profilbildungen ermöglichen. Diese Entwicklung sollte sich die Ethnologie ruhig noch stärker zu Nutze machen. Einige ethnologische Institute kooperieren bereits mit den Museumsstudiengängen, wie z.B. im Falle des Masterstudiengangs ›Curatorial Studies‹ an der Frankfurter Goethe-Universität.16 Das neue Masterprofil ›Museen und Sammlungen‹ an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen kommt hingegen leider ohne die Ethnologie aus.17   und die dazugehörigen Abschlüsse benennt, http://www.museumsbund.de/wpcontent/uploads/2017/03/leitfaden-europaeische-museumsberufe-2008.pdf (28.06.2017). 16 Siehe http://www.kuratierenundkritik.net/deutsch/studiengang/ studiengangkonzeption.html (09.06.2017). 17 Siehe https://www.uni-tuebingen.de/fakultaeten/philosophischefakultaet/fachbereiche/altertums-und-kunstwissenschaften/kunsthistorischesinstitut/studium/studiengaenge/masterprofil-museum-sammlungen.html (27.06.2017). Das Profil ›Museen und Sammlungen‹ ist für die Studiengänge Ägyptologie, Archäologie, Empirische Kulturwissenschaften, Kunstgeschichte und Ur- und Frühgeschichte konzipiert.

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Die eingangs erwähnte Tagung ›MUEXIT. Braucht das Museum die EU?‹ wurde übrigens von den Master-Studierenden des Studiengangs Museumsmanagement- und Kommunikation organisiert. Die Museen werden hier als international agierende Forschungseinrichtungen begriffen, was sich auch im Tagungsprogramm widerspiegelte. Nach einem Vortrag über ein Porzellanmuseum, das schon häufiger erfolgreich EUProjekte eingeworben hat, berichtete eine Lehrende der Hochschule für Technik und Wirtschaft, dass sie den Studierenden die Antragstellung im Seminar vermittele und als Prüfungsleistung ein ausgearbeiteter Antrag anstelle einer Hausarbeit verlangt werde. Diese praktische Herangehensweise an substantielle Themen wie Drittmittelförderung wünsche ich mir auch für das Ethnologiestudium. Beispiele aktueller Förderung von museums- und objektbezogener Forschung Die Beantragung von Drittmitteln für Forschungsprojekte ist für ethnologische Museen und Universitätsinstitute gleichermaßen von Bedeutung, da sie die Bearbeitung spezieller Themen oder Sammlungsbestände ermöglichen, die im Alltagsgeschäft unter Umständen zu kurz kommen. Die Museen verzeichnen seit ein paar Jahren einen regelrechten Provenienzforschungs-Boom, der zu neuen Forschungsprojekten und zu (temporär) eingerichteten Stellen führte. Um nur einige Beispiele zu nennen: Das Deutsches Ledermuseum Offenbach erhielt Fördermittel vom Bund, um von 2011 bis 2014 die Sammlungseingänge zwischen 1933 und 1945 systematisch aufzuarbeiten.18 Das Linden-Museum Stuttgart erhielt aus demselben Fördertopf ebenfalls Mittel für eine 12-monatige Stelle für die Provenienzforschung von Objekten, die in der NS-Zeit in die Sammlung gelangten. Des Weiteren ist das Linden-Museum aktuell Partner in einem Projekt der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, das sich mit dem Umgang mit kolonialen Sammlungen befasst.19 Im April 2017 fanden gleich zwei große Tagungen zum Thema Provenienzforschung mit dem   18

Siehe https://www.kulturgutverluste.de/Content/03_Forschungsfoerderung/ Projekt/Deutsches-Ledermuseum-Offenbach/Projekt1.html (21.06.2017). 19 Siehe http://www.lindenmuseum.de/ueber-uns/forschung-und-netzwerk/ (21.06.2017).

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Schwerpunkt Kolonialzeit statt: ›Provenienzforschung zu ethnologischen Sammlungen der Kolonialzeit‹ (07.-08.04.2017, München, Museum Fünf Kontinente/AG Museum der DGV) und ›Schwieriges Erbe. Koloniale Objekte – Postkoloniales Wissen‹ (24.04.2017, Stuttgart, LindenMuseum/Eberhard-Karls-Universität Tübingen). Diese Entwicklungen sind sehr erfreulich, da sie neben der zusätzlichen Finanzierung auch mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Positiv hervorzuheben ist des Weiteren die gezielte BMBF-Förderung von Universitätssammlungen anhand des Programms ›Vernetzen – Erschließen – Forschen. Allianz für universitäre Sammlungen‹. Die bewilligten Projekte laufen seit Ende 2016 bzw. Anfang 2017, davon mehrere unter ethnologischer Beteiligung: Das Projekt ›Die universitäre Sammlung als lebendes Archiv: Lehre und Forschung im Spannungsfeld von Materialität und Medialität‹ startete am 1. Februar 2017 und befasst sich mit den Hintergründen und Problemen der Digitalisierung von Sammlungen (BMBF [2017]: 8). In Hildesheim kooperieren die Universität, die Kunsthochschule und das Roemer- und Pelizaeus-Museum in dem Projekt »Wissensspeicher Musik in der musealen Praxis: Möglichkeiten und Herausforderungen von Sammlungsmanagement und Kuratierung einer musikethnologischen Universitätssammlung« (BMBF [2017]: 17). Münzel appelliert im Jahr 2000 an Ethnologinnen und Ethnologen, die sich Universitäten oder Museen zugehörig fühlen, zu hinterfragen, ob die Geringschätzung der Museumsarbeit nicht »die Fratze unseres eigenen Spiegelbildes« sei (Münzel 2000: 115). Die Museen als »klassischen Ort der ethnologischen Wissenschaft« und Teil des Ursprungs der Ethnologie als Universitätsdisziplin fordert er auf, Forschungsthemen nicht »unter dem Diktat der Objekt-fernen Universitätsethnologie« zu generieren, sondern aus den Gegenständen selbst (Münzel 2000: 116). Diesen Ansatz finde ich auch heute noch für die Forschung bedeutend und wichtig. Ausschreibungen wie das BMBF-Förderprogramm ›Die Sprache der Objekte‹ belegen seine ungebrochene Aktualität. Das Programm existiert seit 2013, die Ausschreibung für die nächste Runde erfolgte erst kürzlich (22.05.2017). Original-Objekte mit ihren spezifischen Geschichten und ihren Entstehungs- und Bedeutungszusammenhängen als eigenständige Quellen erforschen zu können, ist ein tatsächliches Alleinstellungsmerkmal von Museen und Sammlungen, welches sie von anderen Forschungseinrichtungen unterscheidet. Ihr Potential geht hierbei weit über die vom

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Wissenschaftsrat umfangreich beschriebene Funktion als ›Forschungsinfrastruktur‹20 hinaus. So schwer sich Grässe mit den benötigten Eigenschaften erfolgreicher Museumsleute auch tut, am Ende ist es die Erfahrung, der er den höchsten Stellenwert beimisst: Diese lässt sich nicht aus Büchern erlernen, sondern diese erlangt man eigentlich nur durch den Verkehr mit Gelehrten gleicher Stellung, mit Kennern, mögen diese Fachmänner oder blosse Amateurs heissen, namentlich aber durch Reisen und den Besuch anderer Kunstsammlungen (Grässe 1883: 131). Für die Entwicklung der Ethnologie und ihres besonderen Berufsfeldes Museum lohnt es, Magd und Denker hin und wieder einen Besuch abzustatten, da auch sie an Erfahrung reicher werden und sich verändern. Literatur Breunig, Peter (Hg.) 2013. Nok – Ein Ursprung afrikanischer Skulptur. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Liebieghaus Skulpturensammlung vom 30. Oktober 2013 bis 23. März 2014. Frankfurt/Main: Africa Magna Verlag. BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.) 2012. Museen: Forschung, die sich sehen lässt, https://www.leibnizgemeinschaft.de/fileadmin/user_upload/downloads/Presse/ Publikationen/museen_forschung_die_sich_sehen_laesst.pdf (2017). ―― (Hg.) 2016. Die Sprache der Objekte. Kulturelles Erbe bewahren, erforschen und vermitteln, https://www.bmbf.de/pub/Sprache_der_Objekte.pdf (27.06.2017).   20

»Sammlungen sind als Forschungsinfrastruktur ›einzigartige Einrichtungen, Ressourcen und Dienstleistungen‹, die die Forschung ganzer Wissenschaftsgemeinschaften ermöglichen und erleichtern. Sie stellen als solche eine wesentliche Grundlage (›Grundversorgung‹) der Forschung in verschiedenen Disziplinen sowohl der Natur- als auch der Sozial- und Geisteswissenschaften und in interdisziplinären Zusammenhängen dar« (Wissenschaftsrat 2011: 16-17).

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―― (Hg.) [2017]. BMBF-Förderbekanntmachung ›Vernetzen – Erschließen – Forschen. Allianz für universitäre Sammlungen‹ (2015) Übersicht zu geförderten Projekten, https://www.bmbf.de/files/Kurztexte_Allianz_gelayoutet_final.pdf (27.06.2017). Deutscher Museumsbund (Hg.) 2006. Standards für Museen, http://www.museumsbund.de/wp-content/uploads/ 2017/03/standards-fuer-museen-2006-1.pdf (21.06.2017). Deutscher Museumsbund (Hg.) 2008. Museumsberufe – eine europäische Empfehlung, http://www.museumsbund.de/wp-content/uploads/ 2017/03/leitfaden-europaeische-museumsberufe-2008.pdf (28.06.2017). Fackler, Guido 2014. „Die Museumswissenschaft ist erwachsen geworden“: Zur Fachgeschichte der Museologie, zur Museumsausbildung und zum Würzburger Studienangebot. Museumskunde 79/2, 40-46. Förster, Till 2003. Inszenierte Glaubwürdigkeiten. Unzusammenhängende Seitenblicke auf Museum und Universität. In: Michael Kraus und Mark Münzel (Hg.) Museum und Universität in der Ethnologie. Marburg: Curupira, 27-41. Frobenius-Institut (Hg.) 1998. Das Frobenius-Institut an der Johann Wolfgang Goethe-Universität 1898-1998. Frankfurt/Main: Frobenius-Institut. Fromm, Martin und Alexandra Schulz 2012. Texte im Völkerkundemuseum: Ein Werkstattbericht. Münster: Waxmann. Gemeinsame Wissenschaftskonferenz (Hg.) 2012. Bund-LänderEckpunktepapier zu den Forschungsmuseen der Leibniz-Gemeinschaft, https://www.bmbf.de/files/Bund-Laender-EckpunktepapierForschungsmuseen-Leibniz.pdf (09.06.2017). Graesse, J. G. Th. 1883. Die Museologie als Fachwissenschaft. Zeitschrift für Museologie und Antiquitätenkunde 15, 113-115 und 17, 129-131. Kokot, Waltraud 2012. Laudatio für Hans Fischer. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde 43, 22-25. Koordinierungsstelle für wissenschaftliche Universitätssammlungen in Deutschland (Hg.) 2016. Positionspapier zu Lehre mit Sammlungen, http://wissenschaftlichesammlungen.de/files/4414/8422/1454/PP_Lehre-mitSammlungen_201608.pdf (09.06.2017). Kraus, Michael und Mark Münzel (Hg.) 2000. Zur Beziehung zwischen Universität und Museum in der Ethnologie. Marburg: Curupira. 502

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Sebastian Hainsch

Gegenstände, die im Museum aufleben Kunstethnologie oder indigene Kunstgeschichte Die europäische Kunstgeschichte hat gezeigt, wie fruchtbar gerade die Ungenauigkeit des Begriffes ›Kunst‹ sein kann. Gerade die ständige Um- und Neudefinierung, das immer erneute Erweitern der Grenzen des Kunstbegriffes ist ein Moment des Lebens der Kunst. Und schließlich hat auch in der Ethnologie die Unsicherheit von Begriffen oft eher belebende Wirkung gezeitigt. Bei der Annäherung an eine fremde Kultur tut es nämlich gut, sich der eigenen Begriffe nicht allzu sicher zu sein. Der Glaube, man käme da mit genauen Definitionen und aufgeräumten Schubladen besser voran, fügt sich eher zur zählenden, messenden, klassifizierenden Statistik, als zur Ethnologie mit ihrer Pflicht zum Bemühen um Verstehen (Münzel 1988: 38). Wenn Mark Münzel das »Erweitern der Grenzen des Kunstbegriffes« als einen »Moment des Lebens der Kunst« bezeichnet, so sieht dies innerhalb der Gemeinschaft der Kunsthistoriker1 nicht jeder so. Hans Belting ist skeptisch, er glaubt nicht an die Idee einer indigenen Kunst: Die sogenannte Kunstgeschichte ist ... eine Erfindung von begrenztem Nutzen und für eine begrenzte Idee von Kunst. Anders gesagt, gibt es in einer Stammeskultur – ja, ich wage zu sagen – keine Kunst, aber nicht deswegen, weil dort die Bilder kunstlos wären. Sie sind nur nicht im Hinblick auf Kunst entstanden, sondern haben der Religion oder sozialen Riten 1

Ich verwende hier und bei anderen Bezeichnungen das generische Maskulinum, weibliche Personen sind in den Bezeichnungen explizit inkludiert.

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gedient, was vielleicht bedeutsamer ist, als Kunst in unserem Sinne zu machen (Belting 2001 [1995]: 74, Herv. i. O.). Diese Aussage von Hans Belting ist bezeichnend. Sie kann Kunsthistorikern als Ausflucht dienen, sich nicht mit indigener Kunst zu beschäftigen. Wer so denkt, dürfte sich auch nicht mit mittelalterlicher religiöser Malerei beschäftigen. Diese entstand im Verständnis der westlichen Kunstgeschichte ebenfalls nicht in der Absicht, Kunst zu sein, sondern sollte vielmehr der Untermalung religiöser Praktiken in den Kirchen als auch der Unterweisung der Gläubigen dienen, die keinen Zugang zu der in lateinischer Sprache verfassten Bibel hatten. Wir werden noch sehen, dass auch in der Ethnologie die Auseinandersetzung oder Nicht-Auseinander-setzung mit der Kunst eng mit der Frage nach ihrem Zweck verbunden ist. Die ›Entdeckung‹ Amerikas durch Kolumbus spielt zwar eine große symbolische Rolle in der europäischen Geschichte. Sie wird oft als bedingt durch den Kontext der Renaissance begriffen. Doch, wo diese sogenannte Entdeckung als Teil der europäischen Geschichte wahrgenommen wird, fragt zumindest in der Kunstgeschichte kaum jemand, was oder wer im Zuge der ›Entdeckungen‹ eigentlich ›entdeckt‹ wurde und welche Kunstgeschichten die indigenen Völker besaßen.2 Zahlreiche Bilder der ›Entdeckungen‹ und ›Entdeckten‹ entstehen. Zunächst Druckgraphik (de Bry), später auch Gemälde (Post, Eckhout). Die eurozentrische Verfasstheit der Kunstgeschichtsschreibung übersah jedoch nahezu komplett die Artefakte, Graphismen und visuelle Symbolik indigener Völker. Desinteresse und die Rede von der ›Primitiven Kunst‹ tat sicher ein weiteres. Eine Kommilitonin fragte mich 2005 in einem Jenaer Copyshop, ob das denn Kunst sei, womit ich mich beschäftigte. Die durchaus berechtigte Frage, deren Beantwortung freilich eine Dissertationsschrift füllen könnte, beinhaltete eigentlich schon eine negative Antwort – man könnte dies als ›rhetorische Frage‹ bezeichnen. Das wäre noch nicht tragisch, wenn nicht dahinter die Haltung stehen würde, dass die Zeichnungen indigener Künstler nicht wert sind, Thema einer kunsthistorischen Arbeit zu sein. Diese implizite Aussage verbarg sich nicht nur hinter der Frage der Kommilitonin, sondern auch hinter 2

Viktoria Schmidt-Linsenhoff (2008) schrieb einen Aufsatz über die europäischen Graphiken des Entdeckungszeitalters und arbeitete dabei die verschiedenen Standpunkte der Werke heraus. Ihr Fokus gilt dem europäischen Blick auf die ›Entdeckten‹. Zugleich macht sie deutlich, dass auch die Bewohner der ›Neuen Welt‹ heute in einen Dialog mit westlicher Kunst und westlicher Kulturgeschichte treten.

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dem »keine-Kunst«-Zitat von Hans Belting. Denn in der Praxis gibt es so gut wie keine Auseinandersetzung von Kunsthistorikern mit indigener Kunst. Daher ist die Negierung des Kunstbegriffes für die Gesamtheit der Artefakte indigener Kulturen auch so absurd. Es würde hier zu weit führen, die Gründe für das Ignorieren auf Seiten der Kunsthistoriker zu untersuchen. Dies ist nicht das Ziel dieses Aufsatzes. Vielmehr soll es darum gehen, wie sich Kunstgeschichte und Ethnologie begegnen können und wie eine kuratorische Praxis aussehen könnte, die Objekte indigener Herkunft einer nicht-indigenen Öffentlichkeit präsentiert. Von der formalen und inhaltlichen (von mir nicht überschauten) Bandbreite der westlichen Kunst möglicherweise ernüchtert, hatte ich 2003 die Möglichkeit, an einem Studentenaustausch in Belo Horizonte, Brasilien teilzunehmen. Völlig unbedarft und zugegebenermaßen bis dahin uninteressiert an indigener Kunst (weil Teil einer vermeintlich hermetisch abgeschlossenen, mir unbekannten Welt), sah ich in Büchern, die die Literaturwissenschaftlerin Maria Inês de Almeida ihren Studenten zeigte, Abbildungen indigener Arbeiten auf Papier. Die Begeisterung der Dozentin ergriff mich – schnell stand das Thema meiner Magisterarbeit fest: ›Die indigene Zeichnung‹. Unterstützt und betreut in diesem Vorhaben hat mich in Jena Franz-Joachim Verspohl (1946-2009). Ihn um die Betreuung meiner anschließenden Promotion mit dem erweiterten Thema der Magisterarbeit bittend, erhielt ich eine Absage, mit der Begründung, dass er aufgrund seiner Unkenntnis auf diesem Gebiet nicht die geeignete Person wäre. Stattdessen solle ich mich in der Ethnologie umschauen. Anstelle einer für mich bequemen Lösung musste ich mich mit der mir nahezu unbekannten deutschsprachigen Ethnologie-Landschaft auseinandersetzen. Die für mich damals etwas enttäuschende Absage von Franz-Joachim Verspohl war richtig. Nicht nur, weil es aus seiner Sicht sinnvoll war, als Betreuer Kenntnisse der von mir behandelten Themen zu besitzen. Sondern vor allem auch, weil die Impulse für eine kreative Auseinandersetzung mit den Werken indigener Künstler einer zusätzlichen Perspektive bedurfte. Der Absage verdanke ich die Tatsache, mit Mark Münzel nicht nur einen Kenner der kunstethnologischen Forschung als Betreuer ›gewonnen‹ zu haben, sondern auch einen Verfasser zahlreicher Schriften mit kunstethnologischen Themen. Die autobiographischen Betrachtungen kommen nun glücklicherweise an ihr Ende, ich hoffe aber, dass sie zumindest einen erhellenden Einblick in die Realität eines Kunsthistorikers liefern konnten. 507

Was ist oder gibt es überhaupt indigene Kunst? Wenn die Kunstgeschichte das künstlerische Schaffen indigener Völker gerne übersah und übersieht, so geht die deutschsprachige Ethnologie im Allgemeinen zumindest auf Distanz zu einer allzu detaillierten Betrachtung der Artefakte. Hier herrscht(e) vor allem Skepsis. Diese Skepsis, die die Ethnologie der Beschäftigung mit den Kunstformen indigener Völker entgegenbrachte, erklärt sich zum Teil aus der Begeisterung, die einige Künstlergruppen gegenüber außereuropäischer Kunst äußerten: Das überschäumende Interesse der kunstbegeisterten Teile der Avantgarde [war] eine Herausforderung für die Völkerkunde der Jahrhundertwende und der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts … der diese sich schließlich durch Themenwechsel, durch Aufgabe des Interesses an Kunsttheorien entzog (Münzel 1990: 400). Mark Münzel beschäftigt sich in zahlreichen Aufsätzen mit Zeichnungen indigener Künstler Südamerikas, vor allem Brasiliens. Daneben ist es ihm auch ein Anliegen, innerhalb der Ethnologie für eine systematische Erforschung der Kunstwerke zu werben. Warum sich die deutsche Ethnologie im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder schwer tat, gestalteten Artefakten Forschungsarbeiten zu widmen, erläutert Münzel an verschiedenen Stellen. Wie bereits im obigen Zitat angeführt, führten auch die europäischen Avantgarde-Bewegungen, hier vor allem der Expressionismus, zu einer Abwehrhaltung der Ethnologen. Neben dieser Kunstbewegung waren jedoch auch andere Diskurse für eine Zurückhaltung beim Schreiben über Kunst – und übrigens auch über Religion, die Münzel beide in einem engen Zusammenhang sieht – verantwortlich. Dabei taten sich zwei Pole bei der Interpretation der Bedeutung von Kunst auf: Auf der einen Seite wurden Kunst und Religion als Puzzleteil der Gesellschaftsstruktur gesehen, als notwendige Elemente für das Funktionieren einer Gesellschaft und als Überbau eines eigentlichen materiellen Unterbaus. Im Sinne dieser Denkrichtung sollte Kunst nur im Rahmen der Gesellschafts- oder Kulturanalyse und nur zum Ziele der Offenlegung von Herrschafts- und Machtstrukturen erforscht werden. Münzel schreibt: Die Aufgabe der kritischen Anthropologie besteht darin, den Zusammenhang von Religion und Herrschaft, von Kunst 508

und Arbeit aufzudecken … Kunst dient … ebenso wie Religion, dem Bekräftigen von Herrschaftsverhältnissen oder ist sonst irgendwie nützlich, wenn sie denn zu etwas gut ist. Eigentlich gibt es also gar keine Kunst, außer als Funktion einer anderen, vernünftigeren gesellschaftlichen Institution. Und sonst brauchen wir uns nicht mit ihr zu beschäftigen, denn … l‘art pour l‘art gibt es nicht (Münzel 2008: 192-193). Diese ernüchterte Darstellung ethnologischer Forschung bringt eine vollkommene Unterkühlung, eine geradezu erschreckende Ignoranz gegenüber der menschlichen Kreativität, dem spielerischen Umgang mit der Umwelt und mit künstlerischen Materialien sowie mit dem Material der künstlerischen Tradition zum Ausdruck. »Interessanterweise«, so Münzel, »unterliegen andere Teilbereiche der Völkerkunde oft nicht dem Unterordnungsdiktat unter die Gesellschaftsanalyse« (Münzel 1990: 403). Diese wissenschaftliche Praxis resultiert dann eben nicht in einer »Einfühlung in Äußerungen fremder Religiosität oder künstlerischer Kreativität, sondern [im] Verständniszugriff auf die Mechanismen des ›Funktionierens‹ einer Gesellschaft« (Münzel 1990: 403). Hinausgehend über eine Skepsis gegenüber der Vorstellung eines abgetrennten gesellschaftlichen Feldes der Kunst, sahen einige Wissenschaftler die Gefahr, den indigenen Kulturen den ihnen fremden ›westlichen‹ Kunstbegriff überzustülpen, etwa aufgrund der Beobachtung, bestimmte Objekte seien über den Alltag erhaben (Münzel 1990: 402). Hier wird deutlich, dass in Kunstgeschichte und Ethnologie ähnliche Argumente für die Vermeidung des Kunstbegriffes vorgebracht werden (siehe Belting 2001). Der andere Pol wird von einer Haltung gebildet, die einzelne Kulturen als Gesamtkunstwerk interpretiert. Kunst umfasst hier den gesamten Lebensstil und wird in allem gesehen, alles wird als ästhetische Praxis gelesen (Münzel 1990: 400-402). In diesem Zusammenhang werden Kunstobjekte als äußeres Zeichen für ein inneres Wesen gelesen (Münzel 1990: 401). Kunst wird dann zu einem alle Lebensbereiche durchdringenden Äther. Auch in anderen Forschungsdisziplinen kann man diese Tendenzen feststellen. Roland Barthesʼ Text über den Citroën DS, den er mit einer gotischen Kathedrale vergleicht, verdeutlicht die allumfassende Macht menschengemachter Kultobjekte, an deren erster Stelle im 20. Jahrhundert das Auto steht (Barthes 2010: 196-198). Die Sinnlichkeit und Haptik der Artefakte, auf die auch Barthes rekurriert, spielen eine enorme Rolle im Alltag. 509

Dafür ist gerade der Erfolg der Marke Apple ein Beleg. Zugegebenermaßen steht das Design hier im Dienst des Verkaufserfolgs. Dieser ist aber nur gegeben, weil Menschen die ästhetische Durchdringung ihres Alltags als wichtig empfinden. Autos und Smartphones sind Teil einer ästhetisierten Alltagskultur, Teil einer ästhetischen Praxis, zu der auch Kleidung, Gesten, sprachliche Codes, Frisuren, Tätowierungen und vieles mehr gehören. Man kann all dies unter dem Begriff ›Kunst‹ zusammenfassen. In dieser Lesart stellen dann Kunstobjekte in Museen eine kondensierte, häufig aber auch die Phänomene der Alltagskunst kommentierende, kritisierende und ironisierende Ausdrucksform dar. Zwischen diesen beiden Polen ist viel Platz für eingehende Beobachtungen und Betrachtungen zu den Objekten indigener Künstler, für vielstimmige Perspektiven und sorgfältige Einordnungen. Mit seinen eigenen kunstethnologischen Arbeiten konnte Mark Münzel zeigen, wie fruchtbar eine Beschäftigung mit den Arbeiten indigener Künstler sein kann. Dabei betont er auch, welche Motivation europäische Forscher dazu trieb (und treibt), sich mit indigener Kunst zu beschäftigen und konfrontiert den Leser auch mit Vorurteilen. Er verdeutlicht: wie sehr es eine Illusion ist, in der sogenannten Primitiven Kunst unberührte Anfänge, Ursprünge zu suchen – was wir da bewundern, ist seit dem Hereinbrechen der Kolonialzeit über die Stammesvölker längst von den Einflüssen Europas berührt. Zum anderen aber auch, ein wie fruchtbares Mißverständnis gerade die Suche nach den Ursprüngen für unser Verständnis der fremden Kunst geworden ist (Münzel 1988a: 177). Münzel sieht in der Beschäftigung mit der indigenen Kunst ein Suchen nach Ursprünglichem als Beweggrund und kommt zu dem Schluss, dass diese Ursprünglichkeit tatsächlich nicht (mehr) existiert. Er erkennt in dieser Fehleinschätzung aber auch den Keim für ein besseres Verständnis. Dieses setzt dann ein, so kann man als Leser schlussfolgern, wenn die Transformationen und Kontaktgeschichten der indigenen Völker als spannende kulturelle Prozesse wahrgenommen werden, in denen die indigenen Akteure sich Kulturtechniken aneignen und diese zu ihren eigenen machen, mit neuen Konnotationen und verwoben mit dem existierenden, aktiv genutzten Erbe. Mit diesem Blick kann der ›westliche‹ Betrachter mit

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Neugier auf eine Vielzahl kultureller Prozesse schauen und faszinierende Einblicke zutage fördern. Eine Herangehensweise, die Münzel in seinen Aufsätzen nutzt, ist der Vergleich von Papierarbeiten unterschiedlicher Zeitabschnitte. Beispielsweise untersucht er Arbeiten, die der aus Hessen stammende Theodor Koch-Grünberg um 1900 sammelte und stellt sie solchen aus den 1980er Jahren gegenüber. So kann Kunstethnologie dabei helfen, den Wandel ästhetischer Praxis zu dokumentieren und diesen Wandel als einen Prozess der aktiven Aneignung neuer (Kultur-)Techniken zu begreifen. Diachron (synchron/diachron erscheint mir als nützliches Begriffspaar aus der Sprachwissenschaft, das auch im Fall der Kunstethnologie sinnvoll gebraucht werden kann) vergleichende Kunstethnologie kann zeigen, wozu synchrone ethnologische Forschungsarbeiten nicht in der Lage sind. Am Beispiel der künstlerischen Praxis kann in anschaulicher Weise die Dynamik kultureller (hier künstlerisch-ästhetischer) Prozesse verdeutlicht werden, die sich besonders intensiv in Arbeiten auf Papier zeigt. In einem Aufsatz über die Kunst der indigenen Bevölkerung der Uaupés-Region (Brasilien/Kolumbien) beschränkt sich Münzel (1988a: 173-241) nicht auf die erwähnten Indianervölker, sondern er erklärt die historischen Zusammenhänge der Expedition Koch-Grünbergs, dessen gesammelte Zeichnungen die Grundlage für den Aufsatz bilden. Warum die Zeichnungen entstanden und in welcher geistigen Umgebung der Sammler anzusiedeln ist, diese Fragen erachtet der Autor als ebenso wichtig wie die Informationen zu den einzelnen Ethnien und ihren kulturellen Querverbindungen. Die Forschung wird als ein Kind ihrer Zeit dargestellt. Koch-Grünberg wird so von Münzel in eine Epoche eingebettet, in der besonders die Künstler des Expressionismus das ›Unverbrauchte‹, ›Naive‹ in der Kunst indigener Völker suchten. Gleichfalls erwähnt er den Konflikt zwischen Künstlern des Expressionismus und Wissenschaftlern/Völkerkundlern, der unter anderem aus dem Vorwurf erwachse, dass die Expressionisten die Wissenschaft zugunsten ihrer Sinne vernachlässigen: Ein Wermutstropfen mischt sich hier in Emil Noldes Erinnerung, wenn er von der distanzierten Haltung der ›Zünftigen‹ (wohl im Sinne von: für Laien verschlossene Zunft) spricht, die im Grunde nur Kunstbanausen sind und das Fremde nicht verstehen. Wen er da meint, wird im nächsten Satz deutlicher: ›Der Wissenschaft der Völkerkunde aber sind 511

wir heute noch wie lästige Eindringlinge, weil wir sinnliches Sehen mehr lieben als nur das Wissen‹ … Die Völkerkundemuseen fanden in den Anhängern des Expressionismus ein neues Publikum, das jedoch auch mit neuem Blick und neuen Fragen kam – Anlaß für Konflikte zwischen den Kunst-Interessierten und den Wissenschaftlern (Münzel 1988a: 181182). Koch-Grünberg wird von Münzel in die Nähe der Expressionisten gerückt, da ersterer die indigenen Zeichner a priori als Künstler bezeichnete und eher einen idealistischen als einen materialistischen Standpunkt vertrat (Münzel 1988a: 183-184). Dennoch kann auch Koch-Grünberg nicht auf eine Kontextualisierung der Kunstwerke verzichten. Sie ist vielmehr das Mittel für seine These vom Bild als Vermittler von Inhalten. Münzel stellt heraus, dass Koch-Grünberg in seinen Schriften die Nähe zur geistigen Haltung seiner Zeit sucht (Münzel 1988a: 185). Die Bedeutung KochGrünbergs hebt Münzel auch deshalb hervor, weil die Umstände der Entstehung der Zeichnungen und die Impulse, die Koch-Grünberg zu seiner Forschung angeregt haben, etwas über die Entwicklung der Kunstethnologie verraten. Dank Koch-Grünbergs Interesse existieren diese Zeichnungen heute sowohl als historische Dokumente als auch als künstlerisch-spielerische Werke, die es erlauben, einen Vergleich mit zeitgenössischen Werken indigener Künstler zu ziehen.3 Wenn Mark Münzel sich mit den von Koch-Grünberg gesammelten Arbeiten auf Papier beschäftigt, so betonen seine Ausführungen häufig die formalen Elemente der Darstellungen, was einen stilistischen Vergleich von früheren und später entstandenen Zeichnungen ermöglicht. Somit widmet sich Münzel hier der Erforschung der Entwicklung der Zeichnungen mit Einbeziehung von Fragen nach Traditionslinien und Kontinuitäten (Münzel 1988a: 187). Eine dieser Kontinuitäten liegt in der Feststellung, dass Bedeutungen nicht eindeutig sind, sondern in unterschiedlichen Zusammenhängen differieren. In den früheren Zeichnungen liege die Mehrdeutigkeit beispielsweise in einem einzigen Symbol, während in späteren Zeichnungen, die beispielsweise von Berta Ribeiro gesammelt wurden, die Mehrdeutigkeit des Objekts in einer Bilderzählung eindeutig gemacht worden sei und so dem westlichen Betrachter 3

Zur Motivation und Vorgehensweise Koch-Grünbergs siehe Münzel (1988a: 185-187).

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einfacher vermittelt werden könne (Münzel 1988a: 190, 198-199). Die Zeichnung auf Papier als eine westliche Technik steht bei Münzel auch für eine Entwicklung. Während in früheren Zeichnungen kein Versuch unternommen worden sei, Mehrdeutigkeiten zu vermeiden, seien spätere Zeichnungen in ein leichter lesbares Schema eingepasst worden (Münzel 1988a: 187-199). Münzel ergänzt seine Vergleiche um die Frage, wie ein Gegenstand aus Sicht der indigenen Künstler dargestellt werden muss, um die Charakteristik dieses Objekts in der Zeichnung beizubehalten. Hierbei geht es auch um Fragen von Abstraktion und Repräsentation. Der Leser erfährt etwas über einen Künstler, der die Zeichnung eines Holzschemels auf einem Blatt Papier anfertigt. Auf diesem ist nicht etwa der Schemel als Ganzes, sondern lediglich sein Muster, ergänzt um einen dekorativen Rand, dargestellt. Was dies bedeutet, beschreibt Münzel so: [Der Künstler] nimmt ein Stück aus dem Leben, aus dem Gesamtzusammenhang, aus jenem schon erwähnten ›Urwald der Künste‹, er abstrahiert das Ornament von dessen Unterlage und Umfeld und stellt es gesondert. Er tut also das, was Völkerkundler an vielen Prachtbänden über ›Primitive Kunst‹ kritisieren und was auch einen gewichtigen Vorwurf gegen das Museum ausmacht: Er reißt die Kunst aus ihrem lebendigen Zusammenhang (Münzel 1988a: 204). Tatsächlich führe die Ablösung des dekorativen Schemel-Musters sowohl zu einer Abstraktion, als auch zu einer Reduktion auf das Wesentliche. Münzel verdeutlicht, dass der Schemel aus der Sicht des Künstlers durch sein abstraktes Muster charakterisiert und repräsentiert wird. Münzels Herangehensweise beruht zu einem großen Teil auf einer Auseinandersetzung mit den formalen Bestandteilen der Zeichnung. Ihre Analyse kombiniert er mit den Kenntnissen von Mythologie und Lebensgewohnheiten. Die Methode, die Beobachtungen von Koch-Grünberg heutigen Erkenntnissen gegenüberzustellen, bringt Einsichten mit sich, die es dem Leser erlauben, die Zeichnungen in ihrer differenzierenden Art der Darstellung verschiedener Tiere und Wesen je nach unterschiedlichen Kontexten wahrzunehmen. Ebenso, wie um die Einbettung der Zeichnungen in den kulturellen Rahmen, bemüht sich Münzel darum, zu zeigen, dass sich mit dem graphischen

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Mittel auch ein neues Medium herausgebildet hat. Hierbei werden sowohl formale, als auch semantische Kriterien beobachtet. In einem weiteren Beitrag – ›Der spielerische Sieg über die Dämonen: Die Kunst der Kamayurá‹ – stellt Münzel nicht nur die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der zu verschiedenen Zeitpunkten entstandenen Werke heraus, sondern auch Kontraste auf synchroner Ebene, Vergleiche zwischen verschiedenen indigenen Kulturen. Zum Ende des Aufsatzes legt Münzel den Akzent noch auf einen anderen Aspekt – das Spielerische der Kunst: Spielerische Freude ist aber auch ein gewichtiger Teil der Kunst der Erwachsenen. Sie lugt hinter den parodistisch anklingenden Masken hervor, sie triumphiert über die Schreckensvision des Affengeistes, wenn er als schön schauriges Monstrum porträtiert und damit überwunden wird. So ernst die Kamayurá die Urzeit und die Gefahren aus dem Jenseits auch nehmen, sie machen daraus doch allemal eine glänzende Schau und einen guten Witz. So wie die Kunst der Wald-indianer immer wieder ins Gleichgewicht zwischen kollektiver Ordnung und individueller Freiheit gelangt, so auch zwischen heiligem Ernst und künstlerischem Vergnügen (Münzel 1988b: 625). Mark Münzel wird dieser Kunst gerecht, indem er in seinem Artikel eine humorvolle Sprache verwendet, welche dem zumeist westlichen Leser eigene Vorurteile und Stereotypen vor Augen führt. Die mehrdeutigen symbolischen Bezüge der Artefakte werden mit einem Augenzwinkern entfaltet. Solche eingehenden Untersuchungen von Zeichnungen sind nicht nur wichtig, um für Fachwissenschaftler und interdisziplinäre Forschungsprojekte Erkenntnisse zu liefern. Auch Ausstellungen und Museen und damit Besucher profitieren von den umfangreichen Analysen der indigenen Papierarbeiten. Aufsätze von Mark Münzel, Mona Suhrbier, Mariana Ferreira, Vera Coelho, Ulrike Prinz und anderen Ethnologen tragen einen wichtigen Teil zum Verständnis der heterogenen künstlerischen Ausdrucksform der Zeichnung auf Papier bei. Auch die kunsthistorische Forschung besitzt zahlreiche Methoden und Instrumente, mit deren Hilfe aufschlussreiche Betrachtungen durchgeführt werden könnten. Der Konjunktiv ist hierbei

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der entscheidende Modus, denn die Realität der Kunstwissenschaft ist eine andere. Kunstgeschichte und indigene Kunst Unkenntnis, Desinteresse, die eigene Forschungstradition und die Ablehnung des Kunstbegriffs für indigene Kunst stehen der Beschäftigung von Kunsthistorikern mit indigenen Kunstobjekten seit jeher im Weg – Ausnahmen bestätigen die Regel. Eine dieser Ausnahmen war Aby Warburg. Er wagte den Versuch, Pueblo-Indianern New Mexicos eine europäische Geschichte malen zu lassen, die Blitze enthält, um zu schauen, ob sie dafür traditionelle Symbole benutzen würden (Münzel 1988c: 31). Bei Warburg war die Erkenntnis verankert, dass eine (kulturelle) Transformation stattgefunden hatte. Er ging nicht von der ›Ursprünglichkeit‹ der von ihm besuchten Menschen aus. Münzel sieht Warburg daher in einem Gegensatz zu Koch-Grünberg, der die Indianer-Zeichnungen als ›urtümlich‹ wertete: »[Warburg] zeigte freilich einen schärferen Blick als Koch-Grünberg für modernen Wandel«. Das Beispiel Warburgs zeigt einen Forscher, der Beispiele für seine Universalismen suchte. Das Schlangensymbol (das er auch in den Blitzdarstellungen erkannte), das er bei den Pueblo-Indianern vordergründig untersuchte, deutet er so: Die Schlange ist eben ein internationales Antwortsymbol auf die Frage: Woher kommt elementare Zerstörung, Tod und Leid in der Welt? Wie die christologische Idee sich der heidnischen Schlangenbildersprache [der Laokoon-Gruppe] bedient, um den Inbegriff von Leid und Erlösung schlangensymbolisch auszudrücken, sahen wir in [der Kirche zu] Lüdingworth. Man kann vielleicht sagen: Wo ratloses Menschenleid nach Erlösung sucht, ist die Schlange als erklärende bildhafte Ursache in der Nähe zu finden (Warburg 1988: 70).4 Auch im Aufspüren der Schlangensymbolik bei den Pueblo-Indianern bewegte Warburg sich im Dienste einer universalen Theorie. Er war Zeit seines Forscherlebens auf der Suche nach Nachweisen und dem Nachwirken 4

Dass Warburg hier in seiner Erinnerung an die genannte Kirche fehlte, zeigten Nesselrath und Strauch (2010).

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universaler Formeln in Bildzeugnissen unterschiedlicher Kulturen und verschiedenster Epochen. Diese Suche hatte auch im Falle der Pueblo-Indianer für Warburg Erfolg gehabt. Auch hier fand er die Schlange, die sowohl Teil der griechisch-heidnischen Mythologie und Kunst als auch der christlichen Überlieferung und Kunst ist. Er fand sie in der Symbolik der Darstellungen und des Tanzes wieder. Neben dem universalistischen Denken kommt bei Warburg auch der Überbau eines Kulturentwicklungsmodells hinzu, den man in seinem Aufsatz zur Schlangensymbolik vernimmt (Warburg 1988: 15). Hierzu heißt es bei Ernst Gombrich: Was für die meisten Beobachter gilt, traf in gewissem Sinn auch auf Warburg zu. Er sah, was er sehen wollte. Als überzeugter Evolutionist erblickte er in den Indianern von NeuMexiko eine Kulturstufe, die der Stufe des Heidentums entsprach, aus der das antike Griechenland mit dem Heraufdämmern des Rationalismus herausgetreten war (Gombrich 1992: 121). Der Verfasser des Kommentars des Warburgschen Textes in der Ausgabe von 1988, Ulrich Raulff, schreibt allerdings, dass es Warburg nicht um die progressive Entwicklungsgeschichte gehe, sondern um das Verständnis der »Genesis des primitiven Denkens« und um die Suche nach dem »symbolbildenden Menschen«.5 Das Denkmodell einer universalen Entwicklungsgeschichte des Menschen mag nicht das Hauptaugenmerk Warburgs gewesen sein, es bestimmte aber seine Sichtweise. Die Pueblo-Indianer dienten streng genommen seiner eigenen Suche. Ihre Kunst war für ihn nicht per se der Betrachtung wert, sondern ihre ästhetischen und performativen Ausdrucksformen vervollständigten seine Sammlung von Beispielen für die Übertragung und das Weiterleben der ›Pathosformeln‹. Interessant ist auch noch die Frage nach der Motivation für seine Themenwahl. Ausgangspunkt für seine Beschäftigung mit indigenen Kulturen war bei Warburg ein starkes Unbehagen gegenüber der etablierten kunsthistorischen Forschung. Er drückte dieses Unbehagen wie folgt aus: Außerdem hatte ich vor der ästhetisierenden Kunstgeschichte einen aufrichtigen Ekel bekommen. Die formale Be-

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Ulrich Raulff im Nachwort zu Warburg (1988: 102).

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trachtung des Bildes – unbegriffen als biologisch notwendiges Produkt zwischen Religion und Kunstausübung –… schien mir ein steriles Wortgeschäft hervorzurufen (Warburg in Gombrich 1992: 118). Das Gefühl des sterilen Wortgeschäfts und des Ekels konnte Warburg auf einem zuvor unbearbeiteten thematischen Feld abschütteln. Hier besaß er eine größere Freiheit, es gab aus kunsthistorischer Perspektive keine ausgetretenen Pfade. Dass Warburgs Beschäftigung mit indigenen Kulturen dennoch nicht beispielgebend für die nachfolgenden Generationen von Kunsthistorikern war, hängt sicher auch mit der Entstehungsgeschichte seines Textes zusammen, der, 1923 als Vortrag in einer psychiatrischen Heilanstalt gehalten, erst 1988 veröffentlicht wurde. Warburg hatte nicht vor, seinen Text in einem Buch zu veröffentlichen (Gombrich 1992: 123). Sein Text zum Schlangenritual muss jedoch als Ausdruck einer grenzüberschreitenden Beschäftigung mit menschlichen Bildwerken gesehen werden, wie Horst Bredekamp schreibt: Warburg ist nicht zuletzt darin ein Maßstab, dass er über die Gattungen der bildenden Künste hinaus auch Körpergesten, Kleiderformen, Teppiche, Festumzüge, Propagandablätter, Briefmarken und … Illustrierte als unabdingbare Gegenstände der Forschung verstand. Er hat damit [den] allgemeinen Begriff des Bildes … in die Verantwortung der Kunstgeschichte gestellt. Hierzu gehören auch alle Gebrauchsgegenstände von Kultobjekten bis hin zu Alltagsdingen, deren Benutzbarkeit keinesfalls ausschließt, aus ihrem Dingcharakter heraus ein irritierendes Leben zu besitzen (Bredekamp 2010: 305). In diesem Sinne war Warburg in jedem Falle ein Wissenschaftler, der die Kunstgeschichte nicht allein als Erfüllungsgehilfe der Erforschung einer ›abendländischen (Hoch-)Kultur‹ sehen wollte, wie viele vor und nach ihm, sondern eine kulturwissenschaftlich ausgelegte Kunstgeschichte lebte. In diesem Sinne gab er Möglichkeiten vor, die eine Beschäftigung mit indigenem Kunstschaffen zumindest erleichtern. Und weiterhin könnte Warburg auch für Ausstellungsmacher ein Anknüpfungspunkt sein – dazu soll im letzten Abschnitt mehr gesagt werden. Indigene Kunst ist weiterhin nicht

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im Umfeld kunsthistorischer Forschung zu finden. Selbst die aus den modernistischen Bewegungen sich speisenden Arbeiten zu ›primitiver Kunst‹ übersahen (Süd-)Amerika. José Fernandes Dias stellt fest: Indigenous art from the Amazon, and the Americas in general, is notoriously absent from the main studies on ›primitive‹ art … while examples of works from Africa and the Pacific islands are everywhere (Fernandes Dias 2001: 55). Fernandes Dias macht deutlich, dass selbst innerhalb der Studien, die sich auf indigene Kunst beziehen, nur wenig bis gar nichts über Südamerika zu lesen war. Das mag daran liegen, dass sich die europäischen Künstler zwar mit afrikanischen und pazifischen Bildwerken auseinandersetzten, nicht jedoch etwa mit (süd)amerikanischen. Das ›keine Kunst‹-Verdikt Beltings galt zu Beginn des 20. Jahrhunderts und es gilt abgeschwächt noch heute. Im Zuge der Verlagerung des Bestandes außereuropäischer Kunst ins Humboldt-Forum in der Mitte Berlins kann sich dies vielleicht ändern. An dieser Stelle soll deshalb über die Präsentation von Kunst und Kunstgegenständen indigener Herkunft in Kunstmuseen und ethnologischen Museen nachgedacht werden. Kunstmuseen und heutige Ausstellungsmöglichkeiten Ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 12. Juli 2017 steht beispielhaft für den Umgang mit indigener Kunst, in mehrfacher Hinsicht.6 Es geht dabei um den Fall des Künstlers Jimmie Durham, der sich als Cherokee bezeichnet, aber nicht von den Cherokee Nations als solcher anerkannt wird. Er erhielt eine große Ausstellung im Walker Arts Center in Minneapolis. Das Museum postete auf seiner Website den Hinweis: Note: While Durham self-identifies as Cherokee, he is not recognized by any of the three Cherokee Nations, which as

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Siehe http://www.sueddeutsche.de/kultur/kunst-indianer-ohne-stamm1.3584305 (23.08.2017).

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sovereign nations determine their own citizenship. We recognize that there are Cherokee artists and scholars who reject Durham’s claims of Cherokee ancestry.7 Durham agiert in einem Spannungsfeld zwischen weißer Mehrheitskultur und indigener Identität. Dieses Spannungsfeld, in seinen Kunstwerken zum Ausdruck gebracht, macht ihn für ein Kunstmuseum wie das Walker Arts Center offenbar spannend. Dyani White Hawk, eine indigene Künstlerin, die von der SZ zitiert wird, äußert sich auf dem Kunst-Blog ›Hyperallergic‹ so: I haven’t seen a catalogue of this size by a mainstream institution written about a solo exhibition by a Native artist with this much academic attention.8 Die Kunstwelt (in den USA) scheint sich nach wie vor nicht für indigene Kunst zu interessieren, jedenfalls nicht, wenn sie unmittelbar aus dem Kontext der indigenen Gemeinschaften kommt. Hier wird aufseiten der Museen und Kuratoren offenbar davon ausgegangen, dass die formalen und inhaltlichen Eigenschaften der Kunstwerke nicht relevant genug für die Besucher bedeutender Museen sind. Wenn indigene Positionen von den Kunstmuseen nicht ausgestellt werden und stattdessen lieber vertraute Mechanismen des zeitgenössischen westlichen Kunstdiskurses bedient werden (durch das Unterwandern von Kunstgattungen, das Offenlegen von Klischees, das Infragestellen der eigenen Identität, das Ansprechen von Tabus), so ist dies vermutlich das Resultat anhaltender Unkenntnis und von Desinteresse. Durham hat sich außerhalb der ihn nicht anerkennenden Cherokee Nations im Kunstbetrieb einen Namen gemacht und dabei durchaus von dem Spiel mit seiner Identität profitiert. Die besondere Situation in den USA – der dortige ›Indian Arts and Crafts Act‹ soll dafür sorgen, dass nicht-indigene Personen ihre Kunst nicht als indigen bezeichnen und verkaufen dürfen – ist nicht dazu angetan, es den Kunstmuseen zu erleichtern, indigene Kunst zu kaufen oder auszustellen, denn diese müssen sich vorher informieren, ob der betreffende Künstler tatsächlich 7

Siehe https://walkerart.org/calendar/2017/jimmie-durham-center-world (23.8.2017). 8 Siehe https://hyperallergic.com/387970/jimmie-durham-retrospective-reignites-debate-over-his-claim-of-native-ancestry/ (30.8.2017).

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von den indigenen Gemeinschaften anerkannt wird. Auch andernorts verfügen Kuratoren nicht über die notwendigen Kenntnisse, um indigene Kunst einzuordnen oder sind nicht in der Lage, die komplexen Bedeutungsstrukturen zu analysieren, die Papierarbeiten und Objekten zugrunde liegen. Kunstobjekte, die aus ethnologischen Sammlungen stammen, Kunstwerke, die von indigenen zeitgenössischen Künstlern geschaffen werden, haben es schwer, sich in einem Kunstmuseum Raum zu verschaffen. Nicht anders ergeht es zeitgenössischen Arbeiten auf Papier, die implizit oder (seltener) explizit die spannenden Transformations- und Aneignungsprozesse der indigenen Gemeinschaften veranschaulichen. Ergeht es diesen Objekten im ethnologischen Museum anders? Nicht wirklich, wie Mark Münzel deutlich macht. Die zahlreich aufgearbeiteten Sammlungsgeschichten, also die in den Mittelpunkt der Präsentation gerückte Selbstreflexion, führte zu einem Verschwinden der Objekte in die Magazine und zu einer erneuten eurozentrischen Nabelschau: die Kritik am westlichen, kolonialgeborenen Blick … wird … leicht zur westlichen Nabelschau, in der die außereuropäischen Produzenten keine viel größere Rolle spielen als im kolonialen Blick (Münzel 2011: 45). Aber auch die Interventionen, die in ethnologischen Museen stattfinden und z.T. den heutigen Mitgliedern der source communities eine Stimme geben sollen, führen nicht immer zu einem größeren Verständnis der ein Eigenleben besitzenden Objekte, da nicht die Produzenten der vorliegenden Exponate zu Worte kommen.9 Dieses Eigenleben führte bei Münzel zu einem humorvollen mea culpa: Objekte … springen dich an, wollen von sich und nicht von der reversiv denkenden Buße der europäischen Ethnologie

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Ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass ich sowohl die Aufarbeitung der Sammlungsgeschichten als auch die Suche nach den Stimmen der source communities für extrem sinnvoll und wichtig erachte. Die ethnologischen Museen in Deutschland sind meines Erachtens auf einem guten Weg, diese Geschichten und Stimmen zu dokumentieren und einem Publikum zugänglich zu machen, und es sollten auch weitere Anstrengungen auf diesem Wege unternommen werden, wo noch nicht geschehen.

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sprechen. Nun ist der Augenblick gekommen, da ich bekennen muss, dass ich solchen Fetischen zum Opfer gefallen bin, mich für die fremden Objekte in ihrer sinnlichen Faßbarkeit und Exotik interessiert habe (Münzel 2011: 41). Das Schuldeingeständnis ist für mich als Kunsthistoriker vollkommen nachvollziehbar. Der Wunsch, den Objekten (Kunstwerken) und ihrem Gehalt näher zu sein, hat sowohl meinen Studienwunsch Kunstgeschichte, als auch das Thema meiner Promotion geleitet. Das Artefakt als Fetisch übt einen ungeheuren Sog aus. Sein Geheimnis – ›das Fremde‹ / ›die Exotik‹ – verströmt Zauber. Das kann doch kein schlechter Ausgangspunkt für eine intensive Auseinandersetzung mit den Objekten sein. Es darf nur nicht der einzige Ansatz bleiben. Die Exotisierung ist meines Erachtens legitim, sofern es nicht dabei bleibt. Es kann jedoch ein sehr spannender Ansatz sein, sich über die Fremdheit an das Objekt heranzutasten, es zu befragen und dabei über die eigenen Fragen zu reflektieren. Daran könnten Kunstmuseen in Ausstellungen anknüpfen, um zunächst die Befremdung der Besucher zu thematisieren und letztere dann durch geeignete multimediale Vermittlung (ohne Überfrachtung) an die Objekte heranzuführen. Die Vermittlungsstrategien in den Räumen der Dauer- und Sonderausstellungen von Kunstmuseen sind zum großen Teil als bescheiden zu charakterisieren. In Kunstmuseen gab es ab dem 19. Jahrhundert vor allem bildungsbürgerliche Besucher. Hier konnte von einem bestimmten vorhandenen Wissenskanon ausgegangen werden. Durch die Besuche in Museen wurde dieser kulturelle Wissenskanon gefestigt und erweitert. Die griechisch-römische Mythologie, die christliche Religion, nationale Geschichte(n) standen im Vordergrund. Die Museen bebilderten den kulturellen Kanon und wurden gleichzeitig ein Teil von ihm. Kunstmuseen waren affirmative Kultureinrichtungen. Ein Kunstwerk zu erklären, dem Besucher beispielsweise durch Texte den Kontext eines Werkes näherzubringen, dies gehörte nicht zur affirmativen Erfahrung des Besuchs eines Kunstmuseums. Spätestens die Künstler der klassischen Moderne, eigentlich aber bereits die Impressionisten unterliefen die Rezeptionserfahrung der Besucher. Der Kanon wurde aufgebrochen. Auf welche gemeinsamen kulturellen Werte, auf welches kollektive Narrativ wurde hier rekurriert? Noch die deutsche romantische Malerei beschwor die nationale Einheit. Eine gemeinsame Geschichte, der vermeintliche deutsche Stil der mittelalterlichen Gotik wurde zum Symbol der eigenen Nation stilisiert. Die zweite 521

Bauphase des Kölner Doms fällt in diese Zeit der nationalen Besinnung auf den gotischen Stil. Diese Strömung der Kunst war vielleicht eines der letzten populären, nationalen Kunst-Narrative. Mit dem Einzug der Impressionisten und später Expressionisten erübrigten sich bildungsbürgerliche Wissenswelten. Die Kunstwerke konnten den Betrachter unmittelbar ansprechen. Nicht der Intellekt sondern Empfinden, Wahrnehmung und Ausdruck bestimmten die Kunstwelt und die Rezeption. Wozu hätte es hier noch einer umfangreichen Kontextualisierung der Ausstellungen bedurft? Dies öffnete einen neuen Zugang zu den Kunstwerken, der nicht mehr durch den Bildungskanon beschränkt war, eine Erweiterung des Besucherkreises war möglich geworden. Doch nach wie vor befanden sich die alten Werke, die von den Mythen und Geschichten der Antike durchdrungen waren, ebenso im Museum wie die Werke, die sich mit der christlichen Überlieferung auseinandersetzten. Ein immer kleiner werdender Personenkreis kann die vielen Anspielungen und Ebenen in den Kunstwerken nachvollziehen und zuordnen. Die Kunstwerke selbst werden fremd, unnahbar, geheimnisvoll. Sie üben zwar noch eine Faszination aus – es ist aber eine Faszination der Exotik, da sie nichts mit der Lebensrealität und auch nichts mehr mit der Wissensrealität der meisten Menschen zu tun haben. Zusätzlich werden einige Kunstwerke wieder in die Nähe eines Kultgegenstands gerückt, der für sich Beachtung fordert, aber nicht verstanden wird. Fernandes Dias schreibt hierzu: If during the course of the nineteenth century, European art lost much of its traditional public role … this loss was compensated by an auto-reflective retreat regarding art’s own means and roles, in which its survival was justified by an insistence on its autonomy. However, such an autonomy was always problematic. In some cases the works of art, freed from external representation, were granted powers equivalent to those of objects produced by traditional societies (Fernandes Dias 2001: 56). Die Quasi-Religiosität der Kunst im 20. Jahrhundert ging mit einer Fetischisierung und Ikonisierung einher, die es den Werken vorzutäuschen half, nur aus sich selbst leben zu können – ohne Vermittlung, ohne Bezug zur Lebensrealität. Diese Verselbständigung führte gleichzeitig auch zu einer Entfremdung des Betrachters vom Kunstwerk. Die Ikonisierung berühmter Kunstwerke, die sich mit der massenhaften Verbreitung durch 522

Smartphone-Fotos fortsetzt, dabei vollständige Dekontextualisierung bedeutet, führt nicht zu einem größeren Interesse für die weniger bekannten Kunstwerke, die eine vielleicht umso faszinierendere Geschichte und bildaktive Substanz besitzen. Gleichzeitig mit der Sakralisierung von Kunstobjekten im 20. Jahrhundert entstanden aber auch zahlreiche Kunstwerke, die nicht selbstreferentiell waren, sondern geradezu die Interaktion der Menschen untereinander und mit den Kunstwerken forderten. Fernandes Dias beschreibt diesen Prozess als einen, in dem die Kunstwerke sich wieder dem Leben der Menschen annähern, sich ihrer Lebensrealität zuwenden (Fernandes Dias 2001: 56-57). Spätestens an dieser Stelle müsste doch in den Museen eine Kontextualisierung der Kunstwerke einsetzen, um den Besuchern wieder einen Zugang zu schaffen: Ein Zugang, der die ›Lust am Fremden‹ und ›an der Exotik‹ nicht zerstört, sondern beides aufgreift und an einen Ort führt, der immer noch voller Spannung und Faszination ist. Ein Kunstwerk muss nicht weniger spannend werden, wenn man einen Teil seines Geheimnisses preisgibt. Es wird noch genügend Geheimnisse zurückhalten können. Warum sind – die vorangegangenen Gedanken als (tatsächlich nicht vorhandener) Konsens vorausgesetzt – in Kunstmuseen nach wie vor so viele Kunstwerke zu sehen, ohne dass eine Kontextualisierung (auch der Sammlungsgeschichte) geschieht? Warum werden Exponate in ethnologischen Museen umfangreich erklärt und in die Alltagsrealität einer Personengruppe eingeordnet (häufig leider ohne den individuellen kreativen Beitrag der herstellenden Person zu würdigen), europäische Kunstwerke jedoch nicht? Wenn man sich Kunstmuseen betrachtet, so fällt auf, dass keine äußere Anpassung der Dauerausstellungen an ein erweitertes Publikum stattfindet. Stattdessen erhellen Audioguides und Broschüren lediglich einige wenige Exponate, während diese dennoch meist untereinander isoliert bleiben. Sonderausstellungen vermitteln hingegen oft über einleitende Texte zeitliche und kulturelle sowie biographische Kontexte und ermöglichen über Kapitel- und Objekttexte ein besseres mentales Bild eines gegebenen Themas. Der ›Tempel‹ Kunstmuseum steht aber noch immer. Wie in einer Kathedrale stehen Skulpturen auf Sockeln, hängen unberührbare Kunstwerke an den Wänden, unvermittelt ohne Text, manchmal gar ohne Materialität, weil nicht einmal Technik und Material erklärt werden – unnötige Geheimniskrämerei. Möchte ich aus einem Kunstmuseum ein ethnologisches Museum machen oder sollte ein ethnologisches Museum mehr wie ein Kunstmuseum aussehen? Solche Fragen erörtert auch der Ethnologe 523

José Fernandes Dias. Er wünscht sich die gemeinsame Präsentation von indigenen und nicht-indigenen (Kunst-)Objekten (Fernandes Dias 2001: 59). Generell sieht er festgelegte Interpretationen von Objekten skeptisch. Er weist darauf hin, dass selbst innerhalb einer indigenen Gemeinschaft multiple Stimmen zu vernehmen seien, die einzelne Objekte unterschiedlich interpretierten (Fernandes Dias 2001: 57). Die große Mannigfaltigkeit der möglichen Interpretationen sollte seiner Meinung nach gefördert werden: »The concepts and criteria of contemporary art offer good reasons to employ this approach to the indigenous arts of the Amazon« (Fernandes Dias 2001: 59). Fernandes Dias (2001: 59) fordert mithin ein Einbeziehen der indigenen Künste in den zeitgenössischen Kunst-Diskurs. Sicher würde dies helfen, die ästhetischen Qualitäten von Objekten indigener Herkunft wahrzunehmen, ihnen eine Gleichrangigkeit mit westlichen Kunstwerken zu geben. Wenn Fernandes Dias die Präsentation von indigenen Kunstobjekten in Kunstmuseen fordert, so möchte ich einwerfen, dass ich es nicht für wünschenswert erachte, Kunstwerke kontextlos zu präsentieren. Die Kunstmuseen sollten dabei helfen, die vielen Stimmen, die ein Objekt interpretieren, besser darzustellen. Ein klassischer Kunsthistoriker-Kurator sieht seine Aufgabe meist darin, eine bestimmte Perspektive, eine Fragestellung zu verfolgen. Somit ist seine Ausstellung eine Art Forschungsarbeit mit anderen Mitteln. Das Forschungsergebnis ist hierbei die Ausstellung selbst. Die Kunstwerke selbst sind der Kontext. Die Kunstwerke, in deren Umgebung sich ein Objekt in einer Ausstellung befindet, bieten den Referenzrahmen, ermöglichen eine anregende und sinnliche Auseinandersetzung, bei dem Schnittstellen aufscheinen, Parallelen deutlich werden und Gegensätze ins Licht rücken. Dies ist zwar ein klassisches kunsthistorisches Narrativ und entspricht zum Teil auch dem Selbstverständnis der Künstler des 19. und 20. Jahrhunderts als Stifter und Agenten solcher Narrative. Jedoch entspricht die Vorstellung eines einzelnen Narrativs nicht der Vorstellung von Multiperspektivität. Multiperspektivische Ausstellungen entstehen nicht durch die Abwesenheit von Kontextualisierung (eine neutrale, allen Perspektiven gleichzeitig gerecht werdende Disposition von Exponaten gibt es nicht), sondern durch Offenlegung der Konzepte und Kennzeichnung derselben als (Einzel-)Perspektiven. Der Bedarf an Kontextualisierung und damit dem Erheben einer Stimme im Kunstmuseum wird von den Institutionen immer mehr erkannt. Bisher

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antwortete man häufig mit Führungen, Workshops und anderen zusätzlichen Formaten oder mit Multimedia-basierter Vermittlung. Gut gemachte (im Sinne einer anschaulichen und nachvollziehbaren Kontextualisierung) Sonderausstellungen können dem Besucher auch ohne Multimediaguideoder Expertenführung die Idee der Kuratoren vermitteln und den Ausstellungsbesuch zu einem Erlebnis- und Erkenntnisgewinn werden lassen. Dauerausstellungen sollten auch nach diesem Prinzip funktionieren. Nicht nur subjektiv empfundenes, hoch-individuelles Betrachten bereitet Vergnügen, auch (wie auch immer konnotiertes) Wissen kann Vergnügen bereiten. Dabei ist aber wichtig, dass der Betrachter weiß, welche Person oder Personengruppe den Kontext des Kunstwerks erklärt. Ist es der Künstler, der Kurator? Aus welcher Sicht entstand gerade diese Kontextualisierung? Die Vermittlung einer Dauerausstellung erscheint oft auf den ersten Blick überindividuell (im Gegensatz zu einer einstündigen Kuratorenführung) und ist doch personen- und diskursgebunden und aus einer Perspektive erzählt. Dies muss in den vorhandenen Räumlichkeiten deutlich gemacht werden. Der kuratorische Blick auf eine Sammlung kann bereichernd sein, wenn sein Konzept vermittelt wird. Hierbei spielen Texte eine wesentliche Rolle. Ein Blick (oder mehrere Blicke), der religiöse, kulturelle, soziale und politische Phänomene fokussiert und behutsam in die Gesamtkonzeption einer (Dauer-)Ausstellung einbindet, erweitert und ergänzt die Empfindungen und Perspektiven der Besucher. ›Behutsam‹ bedeutet, den Kunstwerken nicht den Status eines historischen Dokuments zu verpassen. Die Gefahr, dass man Kunstwerken eine Kleidung überstreift, sie zu sehr kontextualisiert und filtert, ist immer gegeben. Andererseits ist zu bezweifeln, ob sich Kunstwerke überhaupt richtig entfalten können, wenn die Besucher vollständig im Unklaren über die Umstände ihrer Entstehung und der Intention des Autors gelassen werden. Das Eigenleben der Kunstwerke, wie aller Artefakte, fällt vielleicht auf fruchtbareren Boden, wenn die Besucher an einigen Stellen angestupst werden. Das kann auf eine Art und Weise passieren, dass man nach wie vor die Exponate, wenn man dies vorzieht, autonom betrachten kann, ohne das Gefühl zu haben, als Betrachter bevormundet und seiner Fantasie und Vorstellungskraft beraubt zu werden. Die Bereicherung, die damit einhergehen kann, neben der ästhetischen Empfindung auch noch das Eingebettetsein des Kunstwerks in eine Umwelt und eine Interaktion – sowohl mit anderen Kunstwerken als auch mit Personen und Personengruppen – wahrzunehmen, sollte Besuchern nicht

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vorenthalten werden. Die Vereinnahmung der Kunstwerke durch die verschiedenen Perspektiven ist Gefahr und Chance zugleich. Vermutlich ist aber das Eigenleben der Objekte stark genug und hält auch neue Kontextualisierungen und Ritualisierungen aus (Fernandes Dias 2001: 59-60). Wahrscheinlich brauchen die Objekte aber auch Rezipienten, die sich mit ihnen auseinandersetzen, mit ihnen in einen sprechenden oder schweigenden Dialog treten. Wenn dabei sowohl Erkenntnisse über die eigenen Perspektiven als auch über den Kontext der Entstehung des Objekts sowie den Künstler und dessen individuelle Kreativität herausspringen, ist das nur zu begrüßen.10 ›Die ernste Kunst ist eine Freude‹ – dieses Motto des Leipziger Gewandhauses gilt häufig auch für Kunstmuseen. Hier ist es leider oft so, dass das Museum sich selbst zu ernst nimmt und für den Dialog mit den Kunstobjekten keinen Spiel-Raum zulässt. Eine Veränderung hin zu multiperspektivischer Betrachtung – unter Beachtung der Künstlerpersönlichkeit, der sozialen Kontexte, der Rezipienten, der Beziehungen der Artefakte und Bildwerke zueinander, der Wirkmächtigkeit (›Bildakt‹/›Agency‹) der Objekte – kann diesen Spiel-Raum erzeugen, der notwendig ist, um deren irritierendes Eigenleben besser zur Geltung kommen zu lassen.11 Literatur Barthes, Roland 2010 [1964]. Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Belting, Hans 2001 [1995]. Das Ende der Kunstgeschichte: Eine Revision nach zehn Jahren. München: C. H. Beck. Bredekamp, Horst 2010. Theorie des Bildakts: Frankfurter Adorno-Vorlesungen. Berlin: Suhrkamp. Coelho, Vera Penteado 1993. Motivos Geométricos na Arte Waurá. In: Vera Penteado Coelho (Hg.) Karl von den Steinen: um Século de Antropologia no Xingu. São Paulo: Edusp, 591-629. —— 1995. Figuras zoomorfas na arte Waurá: anotações para o estudo de uma estética indígena. Revista do Museu de Arqueologia e Etnologia 5, 267281. 10

Siehe Münzel (2011: 41-43), zur individuellen Künstlerkreativität siehe Price (1992: 73, 91-92). 11 Zum »irritierende[n] Leben« der Gegenstände siehe Bredekamp (2010), S. 305.

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Fernandes Dias, José António 2001. Reviewing Indigenous Arts. In: Edward J. Sullivan (Hg.) Brazil: Body and Soul. New York: Guggenheim, 5461. Ferreira, Mariana Kawall Leal 2004. The Color Red: Fighting with Flowers and Fruits in Xavante Territory, Central Brazil. Indiana 21, 47-62. Ferreira, Mariana Kawall Leal und Mona B. Suhrbier 2002. The Poetics of Tupi-Guarani Art in the Face of Hunger and Scarcity. Paideuma 48, 145164. Gombrich, Ernst H. 1992 [1981]. Aby Warburg: Eine intellektuelle Biographie. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt. Münzel, Mark 1988a. Das fromme Lachen über den bärtigen Barbar. In: Ders. (Hg.) Die Mythen Sehen: Bilder und Zeichen vom Amazonas. Frankfurt am Main: Museum für Völkerkunde, 173-241. —— 1988b. Der spielerische Sieg über die Dämonen: Die Kunst der Kamayurá. In: Ders. (Hg.) Die Mythen Sehen: Bilder und Zeichen vom Amazonas. Frankfurt am Main: Museum für Völkerkunde, 572-627. —— 1988c. Zu den Grenzen ethnologischer Kunstbetrachtung. In: Ders. (Hg.) Die Mythen Sehen: Bilder und Zeichen vom Amazonas. Frankfurt am Main: Museum für Völkerkunde, 19-51. —— 1990. Versuch eines Plädoyers für die Kunstethnologie. In: Bruno Illius und Matthias Laubscher (Hg.) Circumpacifica, Bd. 2. Frankfurt am Main: Peter Lang, 391-407. —— 2008. Rückblick auf die Kunst. In: Ders. und Bernhard Streck (Hg.) Ethnologische Religionsästhetik. Marburg, 189-206. —— 2011. Gegenstände, die sich im Wald verstecken. In: Julia Erb und Thorsten Euler (Hg.) Gefunden im Dazwischen: Aufzeichnungen zum Begriff der Transition. Gießen: Justus-Liebig-Universität Gießen, 33-48. Nesselrath Arnold und Timo Strauch 2010. Laokoon an der Niederelbe oder wie Aby Warburg beim Spazierengehen den Laokoon findet. Pegasus 12, 121-139. Price, Sally 1992. Primitive Kunst in zivilisierter Gesellschaft. Frankfurt am Main: Campus. Prinz, Ulrike 2001. La metamorfosis como principio estético. Bulletin der Schweizerischen Amerikanisten-Gesellschaft 64-65, 161-167. —— 2004. El arte de la apropriación: Libros de texto y tradiciones locales en el Alto Xingu. Indiana 21, 63-77.

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Schmidt-Linsenhoff, Viktoria 2008. Spielräume im Stereotyp: Selbstreflexion des kolonisierenden, männlichen Blicks. http://alt.ifk.ac.at/dl.php/1/24/2008-02-20-Schmidt-Linsenhoff.pdf (29.08.2017). Suhrbier, Mona B. 2004. To be Made and to be Drawn: the Twofold Existence of Objects. Indiana 21, 79-94. —— 2008. Der ›schwebende‹ Topf: Die Perspektive eines indigenen Künstlers auf einen Gegenstand (Mehinako, Brasilien). In: Merle Amelung, Claudia Uzcátegui, Niels-Oliver Walkowski und Markus Zander (Hg.) Indiegegenwart. Indigene Realitäten im südamerikanischen Tiefland. Berlin: Ibero-Amerikanisches Institut, 257-268. Warburg, Aby 1988. Schlangenritual: Ein Reisebericht. Berlin: Wagenbach.

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Michael Kraus

»Schmeist’ses raus!« Über Dinge und Menschen und Museen Rio? Sorrio? Zango-me? Contemplo? Choro? Interrogo? José António Fernandes Dias

Kritik einer Ausstellung Es war im Sommer des Jahres 2009. Ich saß im Saal 9 der Gemäldegalerie Alte Meister im Semperbau am Dresdner Zwinger. Der Raum trägt die Überschrift ›Mythologische Historie und Stillleben um Rubens‹. Das Besondere damals war, dass zwischen den berühmten Gemälden, genauer gesagt vor Jan Wildens’ (einem Werkstattmitarbeiter von Peter Paul Rubens) 1624 geschaffener ›Winterlandschaft mit dem Jäger‹ auch ein ›Jagd- und Kriegergewand‹ der Dagomba aus dem nördlichen Ghana gezeigt wurde, das offenbar im 19. Jahrhundert nach Europa gebracht worden war. Der knappe Begleittext verwies auf den Status, den die zu sehenden Kleidungsstücke in ihrem jeweiligen sozialen Kontext widerspiegelten: Das ausgestellte Gewand der Dagomba zeigt die gesellschaftliche Stellung eines Mannes an, der sich bei der Großwildjagd und im Krieg ausgezeichnet hatte. Arabisch beschriebene (die Dagomba sind zum großen Teil Muslime), in Leder oder Fell eingenähte Schriftamulette, verweisen zudem darauf, dass es sich bei diesen Personen oftmals um religiöse Spezialisten gehandelt hatte, eine ebenfalls prestigeträchtige Position. Der Jäger im Gemälde von Wildens hält einen erlegten, noch blutigen Hasen in der linken Hand. Drei Hunde spielen um seine Beine. Die linke Bildhälfte ist von Baumstämmen ausgefüllt. Zentraler Blickpunkt ist der in der rechten Bildhälfte positionierte Jäger, der in einen kostbaren Pelzmantel gehüllt ist. Sowohl Kleidung als auch die Jagd selbst, so der Begleittext, verweisen auf den besonderen 529

Status der Person, der in den im 17. Jahrhundert in großer Zahl entstandenen flämischen Jagdszenen regelmäßig zum Ausdruck gebracht wurde.1 Die kleine Inszenierung war Teil der Sonderausstellung ›Begegnungen/Encounters‹, die aus zwölf Objektpaaren bestand: Einem Gemälde der Galerie Alte Meister war jeweils ein Objekt aus dem Völkerkunde-Museum zur Seite gestellt. Dabei folgte die Ausstellung keiner allzu strengen systematischen Vorgabe. Sowohl inhaltliche als auch äußere Aspekte, durch die Form ausgelöste Assoziationen, symbolische Verweise oder auch soziale Rollen und Beziehungen konnten Anlass für die Gegenüberstellung sein. Gleich im Eingangsbereich befand sich beispielsweise eine Adlerfederhaube der Dakota aus Nordamerika neben einem Bildnis von ›König August II. von Polen zu Pferde‹. Der Begleittext thematisierte an dieser Stelle jeweils kulturspezifische Attribute von Herrschaft und Macht, die in den Gegenständen verkörpert sind. Vor dem Gemälde von Jacob Jordaens, das den auf dem Markt mit einer Laterne nach Menschen suchenden Diogenes zeigt, befand sich eine chinesische Statue von Guanyin, eine Verkörperung des Bodhisattva Avalokiteshvara. Im Begleittext wurde unter anderem die jeweilige Suche nach Erkenntnis und Tugend hervorgehoben. Die ›Schlummernde Venus‹ von Giorgione und Tizian bildete ein Paar mit einer aus Holz geschnitzten weiblichen Figur der Senufo von der Elfenbeinküste. Rembrandts Gemälde, das die Entführung des Ganymed durch den in Adlergestalt auftretenden Göttervater Zeus zeigt, war ein Ahnenpfahl mit einer Adlerdarstellung der im heutigen Kanada beheimateten Tlingit zur Seite gestellt. Peter Paul Rubens’ Darstellung des ›Heiligen Hieronymus‹, der der Legende nach büßend durch die Wüste wanderte und dort unter anderem einem Löwen einen Dorn aus der Pfote zog, fand sich in Begleitung einer südindischen Schnitzerei aus dem 19. Jahrhundert, die Pil-

1

Es gibt von dieser Ausstellung leider keine Publikation. In meinen Beschreibungen beziehe ich mich auf eigenen Augenschein sowie die ausgehängten Begleittexte. Durch Vermittlung von Iris Edenheiser bekam ich diese Texte lange nach Abbau der Ethnographica von Uta Neidhardt erneut zur Verfügung gestellt. Beiden gilt mein herzlicher Dank. Im Januar 2015 habe ich die Gemäldegalerie Alte Meister noch einmal mit diesen Texten in der Hand besucht, um meine Erinnerungen aufzufrischen. Alexia Pooth danke ich dafür, dass sie mich 2009 auf die Ausstellung aufmerksam gemacht hatte.

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gerfiguren darstellt, welche auf der Suche nach spiritueller Vollkommenheit sind, um die eigene Wiedergeburt günstig zu beeinflussen. Auch Raffaels ›Sixtinische Madonna‹ war mit einbezogen und befand sich für drei Monate in Gesellschaft einer Plastik aus dem ehemaligen Königreich Benin, die als Gedenkkopf für eine Königinmutter gegossen worden war. Die von Uta Neidhardt und Claus Deimel verantwortete Ausstellung, auf die mich eine befreundete Kunsthistorikerin aufmerksam gemacht hatte, begeisterte mich. Zwar war sie nicht einfach zu finden. Der Aufseher, den ich am Eingang danach fragte, wusste nicht einmal, dass es sie gab.2 Und auch im Inneren der Gemäldegalerie musste man die sehr zurückhaltend präsentierten und auf verschiedene Räume verteilten Objektpaare regelrecht suchen. Doch war es gerade diese Unaufdringlichkeit, die auf farbliche, lichttechnische oder gestalterische Hervorhebungen der Sonderausstellungsstücke weitgehend verzichtete, die die jeweiligen Objekte – jedes Ensemble ein Kulturvergleich im Miniformat – geschickt in die Atmosphäre der Gemäldegalerie einband. Auch auf der Textebene hatten die Ausstellungsmacher auf großspuriges Pathos – und die durch den aufmerksamkeitsökonomischen Wettbewerb vielerorts übliche einführende Bedeutungszuschreibung an das eigene Werk – verzichtet. Einen zusammenfassenden Einführungstext gab es nicht. Die Objekttexte enthielten knappe Sachinformationen, ohne zu werten. Sie informierten, regten an und ließen darüber hinaus viel Spielraum für die Reflexionen der Besucher. Lediglich ein kleiner Flyer erklärte den größeren Zusammenhang. Hier war von den »großen Themen der Menschheitsgeschichte, wie Freude und Schmerz, Macht und Verletzlichkeit, Gegenwart und Vergänglichkeit, Religiosität und Festkultur« die Rede, die »in den Werken der abendländischen Kunst ebenso wie in denen außereuropäischer Kulturen« zum Ausdruck kommen.3 Im Jahresbericht der Staatlichen Kunstsammlungen 2

Dies mag in Museen öfter vorkommen; doch möchte ich anfügen, dass ich bei meinem zweiten Besuch im Januar 2015 auf der Suche nach manchem mittlerweile um- bzw. abgehängten ›Alten Meister‹ nicht nur von der freundlichen Hilfsbereitschaft, sondern auch von der Sachkompetenz mancher Aufsichtsperson in Dresden beeindruckt war. 3 Flyer zur Sonderausstellung ›Begegnungen/Encounters‹, Dresden, 11.07.– 11.10.2009. Ein Gemeinschaftsprojekt der Gemäldegalerie Alte Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und der Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsen.

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Dresden von 2009 ist darüber hinaus zu lesen, dass die Basis der Ausstellung »weniger wissenschaftliche Arbeit als vielmehr spontane Kooperation« war; entstanden sei das Ganze »aus dem Wunsch, den Besuchern zur Museumssommernacht etwas Besonderes zu bieten« (Staatliche Kunstsammlungen Dresden 2009). Wie in Jahresberichten üblich, wurde zudem noch auf die positive Besucherresonanz verwiesen, was zur Fortführung der Idee Anlass geben sollte. Ob die Besucherresonanz gut oder schlecht war, vermag ich nicht zu beurteilen. Konzentrieren will ich mich an dieser Stelle auf lediglich eine Reaktion, deren Zeuge ich bei meiner Betrachtung des Dagomba-Gewandes neben dem Wildens-Gemälde wurde. In stiller Kontemplation erfreute ich mich dieser Zusammenschau als plötzlich vom angrenzenden Raum 15 (›Andachtsbilder‹) eine kräftig gebaute Frau von vielleicht knapp sechzig Jahren hereinstürmte, die, nachdem sie das afrikanische Gewand entdeckt hatte, laut durch den Saal schrie: »Schmeisst’ses raus! Ihr macht’s mir ja meinen ganzen Rubens-Saal kaputt!« Im Anschluss redete sie wild auf einen Aufseher ein, den sie aufforderte ihr zu erklären, wer für all dies verantwortlich sei, da diese Person den sie offensichtlich empörenden Spuk auch wieder verschwinden lassen solle. Der etwas überfordert wirkende Aufseher versuchte zu beschwichtigen, beteuerte mehrfach seine Unschuld und war vermutlich erleichtert, als die Dame nach einiger Zeit von ihm abließ und sich zum Verlassen des Raumes entschloss. Ich blieb noch etwas. Im ersten Moment war ich leicht erschrocken, da ich nicht damit gerechnet hatte, dass jemand in der Gemäldegalerie schreit. Im zweiten Moment war ich dann eher belustigt, als mir klar wurde, was vor sich ging, und ich den Schimpftiraden der Besucherin lauschte. Es ist dieses Erlebnis – und die beeindruckende kleine Ausstellung, die sein Ausgangspunkt war –, das die nun folgenden Überlegungen inspiriert hat. Kritik der Kritik einer Ausstellung Abgesehen von der etwas unüblichen Lautstärke bei der geäußerten Kritik mag die geschilderte Szene zunächst wenig Außergewöhnliches besitzen. Zwei Personen kommen in ihrer Rezeption einer Ausstellung zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die eine findet es furchtbar, der andere großartig. So weit, so alltäglich, so banal. Und natürlich gibt es Ansatzpunkte für

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Kritik. Wie jedes Projekt, so ist auch das hier skizzierte Ausstellungskonzept angreifbar. So haftet, um nur einen Aspekt zu nennen, der Nebeneinanderstellung eines europäischen Gemäldes aus dem 17. und eines westafrikanischen Gewandes aus dem 19. Jahrhundert eine große Beliebigkeit an, die den Aussagewert des Ganzen in Frage stellen mag. Im oben zitierten Jahresbericht der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden hängte man das Ganze demonstrativ tief und betonte das Spontane (und damit letztlich das wenig Ausgereifte) der Schau. Doch glaube ich, dass sich an der geschilderten Reaktion noch etwas Grundsätzlicheres ablesen lässt als der subjektive Streit ums Gefallen oder der akademische um wissenschaftliche Kohärenz. Meines Erachtens geht es hier – auch – um den Einbruch des Fremden in das Vertraute (auch wenn ich an dieser Stelle lediglich spekulieren kann, dass die geschilderte Dame bereits häufig im Kunstmuseum war, aber nur ein geringes Interesse an fremden Völkern und Kulturen zeitigt). Es geht um die der Reaktion implizite Bewertung und Hierarchisierung des Unvertrauten. Um das vermeintlich gesicherte Wissen davon, was (›Hoch-‹)Kultur ist. Um die Absolutsetzung der eigenen (nicht nur ästhetischen) Maßstäbe. Das die Besucherin störende Element wird nicht lediglich kritisiert: Es muss entfernt werden. Womöglich hat gerade das, was mich faszinierte, meine Mit-Besucherin empört: Die wie selbstverständlich daherkommende Vermischung sonst getrennter Sphären und die damit verbundene Ent-Hierarchisierung in der Anordnung unterschiedlicher Dinge. Die in der Ausstellung gerade nicht erklärte, nicht eigens betonte Augenhöhe, auf der die Objekte gemeinsam präsentiert wurden. Als wäre eine derart gleichberechtigte Zusammenschau das Natürlichste dieser Welt. Dabei ist es durchaus von Belang, dass es im vorliegenden Fall keine Künstler waren, die, wie es aktuell en vogue ist, in ethnologischen (oder allgemeiner: in wissenschaftlichen) Sammlungen intervenieren und, mehr oder weniger kompetent, nach dem moralisch oder klassifikatorisch Rechten schauen. Stattdessen gesellten sich sogenannte Ethnographica, Dinge aus anderen Regionen der Welt, in Räume, die bis dahin ausschließlich anerkannten Meisterwerken der europäischen Kulturen vorbehalten waren. Und sie vermögen dort offenbar sowohl für Bewunderung als auch für Unruhe zu sorgen. Diesem – historisch bereits lange andauernden – Streit um In- und Exklusion sind die folgenden Abschnitte gewidmet.

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Integrationsversuche eines Faches Was ihre Anfangszeit angeht, so wird der Ethnologie gerne ihre enge Beziehung zum Kolonialgeschehen vorgeworfen, die damit immer wieder verbundene Zwangsaneignung von Objekten sowie die Inszenierung dieser Gegenstände auf eine Art und Weise, die die Primitivität und niedere Entwicklung der hierdurch Repräsentierten behauptete. Für all dies gibt es Beispiele und Belege. Dass bildende Künstler ebenso wie Schriftsteller, Journalisten oder andere nicht minder in das Kolonialgeschehen eingebunden waren – von Unternehmern, Politikern, Militärs und Missionaren ganz zu schweigen –, ist ebenfalls richtig, als Gegenargument aber natürlich wenig geeignet. Niemand ist entschuldigt, nur weil er nicht alleine war. Doch ist, wie bereits andernorts angemerkt, mit pauschalen, zeitlosen und kollektivierenden Zuweisungen eher Schaden angerichtet als Erkenntnis gefördert (Kraus 2015). Was nottut, ist die differenzierte Analyse des jeweiligen Einzelfalls. In diesem Essay konzentriere ich mich nun auf einen anderen Aspekt, der bei aller notwendigen historischen Kritik meiner Ansicht nach nicht außer Acht gelassen werden sollte: Den Versuch von Ethnologen, Fremdem Raum zu geben, auch auf die Gefahr hin, dass man stört. Auch wenn außereuropäische Dinge bereits vor und dann vor allem seit der Frühen Neuzeit in Europa Staunen erregten und einige Museen bereits in der Zeit der Aufklärung ihre Pforten für ein breiteres Publikum öffneten, so war der Versuch einer mit dem möglichst systematischen Anlegen von Sammlungen verbundenen Erforschung der ganzen Welt doch vor allem eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts. In Berlin war es der ebenso gerne gerühmte wie ins Lächerliche gezogene Adolf Bastian, 4 der sich als Gründungsdirektor des Königlichen Museums für Völkerkunde mit seiner Vision eines universalen Archivs der Menschheit für ein ›Lasst’ses rein!‹ fremder Dinge und Ideen in museale Räume, den akademischen Kanon und das europäische Denken einsetzte. Bastian kritisierte eine Weltgeschichts-Schreibung, die sich nur auf Weniges konzentrierte und selbst die Geschichte großer Reiche in Indien und China zunächst nur »mit manch bedenklichem Kopfschütteln« (Bastian 1881: 55) in die eigenen Darstellungen aufnahm. Offenbar nicht jeder, so Bastian, erscheint den Vertretern 4

Die Leistungen Bastians würdigen unter anderem Koepping 1983, Fischer, Bolz und Kamel (Hg.) 2007. Spott findet sich z.B. bei Kramer 1981 [1977].

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der bestehenden Disziplinen als für die wissenschaftliche Betrachtung geeignet und die Türhüter der etablierten Gelehrtenwelt glaubten, schlecht ihre Pflicht [zu] erfüllen, wenn jeder aus der Wilderniss herbeigelaufene Ankömmling sich unter die sorgsam und stattlich geordnete Reihe der Geschichtsvölker zwischen hineindrängen könnte [sic], um altbegründete Rechte anzutasten oder schmälern zu wollen (Bastian 1881: 56). Der Schriftbesitz, unverzichtbare Grundlage philologischer Studien, galt als entscheidendes Einlasskriterium. Schriftlose Völker waren dabei keineswegs der alleinige Gegenstand der Bastian’schen Ethnologie-Konzeption, doch war dieses Forschungsfeld noch unbesetzt, so dass es »die Territorien dieser Ausgewiesenen« waren, die »zunächst« (Bastian 1881: 58) den Gegenstand des sich gerade institutionalisierenden Faches Ethnologie ausmachten.5 Denn hier tat Forschung am allermeisten not, wie Bastian nicht ohne Polemik und Ironie betonte: Unsere, gravitätisch ihrer Weltgeschichte leitende Principien vorschreibende, Geschichtswissenschaft wusste von Nichts, reinweg nichts, kein Sterbenswörtchen über Japaner, Chinesen, Koreaner, ein klein bischen über Indien vielleicht mit philologischen Hilfen, aber bei dem anschliessenden Archipel bereits erwies sich die Kenntniss derartig gebrechlich, um einer Meldung nicht zu lohnen. Noch weniger war von der mit der Geschichtswissenschaft um die Herrschaft in der Gelehrtenrepublik rivalisierenden Philosophie zu erwarten. Ihre Adepten waren durch Springfederkraft der Speculationen zu derartigen Höhen emporgeschnellt, dass ihnen die materiell wirkliche Welt aus dem Gesicht gerathen war (besonders in den unteren Schichtungen, wo die ›Primitiven‹ krabbelten); und in feingesitteten Cirkeln 5

Für die Darstellung des Sachverhalts, dass es sich bei der Konzentration der Ethnologie auf schriftlose Kulturen um eine von den Gründungsvätern nicht konzeptionell gewollte, sondern der vorherrschenden Fächerlandschaft geschuldete Notlösung handelte, bei der man zu Etablierungszwecken zunächst das bisher nicht beanspruchte Terrain besetzte, wobei sich dieses Provisorium dann allerdings mehr und mehr festsetzte (und erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder zur Auflösung gelangen sollte) vgl. Kraus 2004: 76-85, 2007: 144-146.

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(der an höheren Lehranstalten zu aesthetischen und belletristischen Genüssen Herangezogenen) von naturwüchsiger Rohheit der Wildstämme zu reden, würde gegen den guten Ton verstossen haben. ›Negerplunder und Indianertand‹: bleibt mir mit solchem Zeug vom Leibe (Bastian 1899: 3536). Diesem angewiderten ›Lasst’ses draußen!‹ stellte Bastian – der die Unterstützung kolonialer Strukturen für seine Ideen allerdings durchaus gerne akzeptierte – seine Vision einer Ethnologie gegenüber, die einer philosophisch orientierten Geschichtsschreibung bzw. einer historisch argumentierenden Philosophie eine empirische Grundlage liefern sollte. Weltgeschichte müsse die Völker der Welt behandeln und dürfe sich nicht nur auf den eigenen Kirchturm oder die eigene Schlosskuppel konzentrieren. In seiner Analyse der Bastian’schen Museumskonzeption betont der USamerikanische Historiker Glenn Penny den universalen Charakter dieses Ansatzes und die liberalen, kosmopolitischen Überzeugungen seiner Vertreter. Die ethnologischen Sammlungen sollten Aussagen über die gesamte Menschheit und damit ein besseres Verständnis sowohl von fremden als auch von der eigenen Gesellschaft ermöglichen. Die offene, weitgehend frei von theoretischen Vorannahmen gestaltete Präsentationsweise im Museum, die auf eine leitende Narrative verzichtete, war dazu gedacht, den Vergleich des Ausgestellten zu fördern (Penny 2003: 88-93, 101). Von Außenstehenden wurde diese Ausstellungsform allerdings gerade aufgrund der fehlenden Einordnung des Gezeigten sowie des immensen Anwachsens der Bestände, was rasch zur Überfüllung des Berliner Museumsneubaus führte, als chaotisch empfunden. Die nachfolgende Generation wandte sich von Bastians Ideen ab und versuchte über theoriegeleitete Ausstellungsformen Ordnung zu schaffen. Der Einfluss öffentlicher Debatten und privater Geldgeber wuchs. Statt der vergleichenden Erforschung menschlicher Universalien legte man den Fokus nunmehr zunehmend auf die Betonung einer Hierarchien legitimierenden Differenz der Völker (Penny 2003; vgl. auch Penny 2002).

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Auch Andrew Zimmerman bestätigt den skizzierten Streit um In- und Exklusion,6 wenn er beispielsweise davon berichtet, dass für den Historiker Johann Gustav Droysen nur »die führende Spitze« der Menschheit ein angemessener Forschungsgegenstand war. Sein Fachkollege Ottokar Lorenz hielt die neu entstehende Disziplin gar für »politisch subversiv« und warnte davor, »daß solche Studien über die Menschheit das ›Staatsgefühl‹ schwächen könnten« (Zimmerman 1999: 209). Das Unverständnis, dem sich frühe Ethnologen bezüglich ihrer Studieninteressen ausgesetzt sahen, war groß. Als sich Franz Boas 1886 mit seinen Forschungen über Geographie, Ethnographie und Geophysik der arktischen Baffininsel in Berlin habilitierte, vermerkte einer der Gutachter, dass dieses Forschungsthema »von den Mittelpunkten der menschlichen Cultur weit abliegt, und seiner ganzen Natur nach nur wenig allgemeines Interesse erwecken kann«.7 Einen Nutzen der Arbeit sah der Gutachter schließlich darin, anderen Forschern, die in Zukunft Polarexpeditionen unternähmen, durch die Kenntnisse der lokalen Bevölkerung Unannehmlichkeiten beim Reisen ersparen und damit zur besseren Erreichung ihrer Ziele beitragen zu können.8 6

Zimmerman liefert ansonsten allerdings eine der Penny’schen Analyse nahezu entgegengesetzte Darstellung der deutschen Ethnologie bzw. Anthropologie in ihren Anfangsjahren. Er zeichnet das Bild einer naturwissenschaftlich orientierten, geschichtsfeindlich »anti-humanistischen« und eher national orientierten Disziplin, die den untersuchten Menschen Kultur und Geschichte absprach (Zimmerman 2001). Aufgrund meiner eigenen Studien zur Geschichte der Ethnologie halte ich im skizzierten Streit die Darstellung von Penny für angemessener. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Thesen Zimmermans muss an anderer Stelle erfolgen. Angedeutet findet sich meine Kritik bspw. in Kraus 2004: 91, 413, 427 und Kraus 2007. 7 v. Bezold, 15. März 1886. Gutachten über das Habilitationsgesuch des Dr. F. Boas. UA HU. Es ist interessant - aber außerhalb der Reichweite des vorliegenden Essays - dass sich die ›universal-historischen‹ Ansätze des 18. Jahrhunderts (vgl. z.B. Vermeulen 2008) in den genannten Diskussionen um 1900 nicht mehr wiederfinden. 8 Allerdings verwies auch Adolf Bastian (1899) auf den Nutzen der Ethnologie, beispielsweise für deutsche Handelsabsichten. Ob es sich dabei um innere Überzeugung oder aber um ein strategisches Argument handelte, um dem Fach bei Außenstehenden eine bessere Legitimation zu verschaffen, muss an dieser Stelle offen bleiben.

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Auch Theodor Koch-Grünberg, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Nordwest-Amazonien sowie in Nord-Brasilien und Süd-Venezuela ethnologisch gearbeitet hatte, stieß bei seinen Versuchen, Verständnis für die indigene Bevölkerung jener Gebiete zu wecken, auf Schwierigkeiten. Beim Abspielen von Tonaufnahmen indianischer Gesänge während eines Vortrags ärgerte ihn das »unberechtigte Gelächter«9 seiner Zuhörer, die den vorgetragenen Melodien nur wenig Verständnis entgegenbrachten. Eine Vorlesung an der Universität Freiburg begann er im Jahr 1914 mit dem Stoßseufzer: Von Naturvölkern oder primitiven Völkern macht sich der Laie meist ganz falsche Vorstellungen. Er verbindet damit gewöhnlich den Begriff völliger Kulturlosigkeit und glaubt, dass diese Leute, weil sie eine andere Hautfarbe haben als wir, weil sie nackt gehen, weil sie nicht in der Luft herumfliegen können und keine Automobile haben, nicht weit vom Tier entfernt sind. Wie oft habe ich mich in stundenlangen Vorträgen bemüht, der Menge klar zu machen, dass diese sogen. ›Wilden‹ im Grunde genommen Menschen sind wie wir, ja in mancher Beziehung sogar bessere Menschen. Wenn ich dann nach einem solchen Vortrag mit einigen Zuhörern und Zuhörerinnen zusammen sass, und diese ihr Interesse durch mehr oder weniger geistreiche Fragen zu zeigen suchten, da packte mich oft stille Verzweiflung, wenn ich sah, dass das Samenkörnlein auf blanken Fels gefallen war (Koch-Grünberg 1914, Unterstreichung im Original).10 Unverkennbar ist das mühevolle ›Lasst’ses rein!‹, das in all diesen Passagen zum Ausdruck kommt. Die geschilderten Konflikte sind dabei nicht nur mit Blick auf meine MitBesucherin in der Dresdner Galerie Alte Meister keineswegs als bloße Konflikte der Vergangenheit zu charakterisieren. Als im Jahr 2011 von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz eine international hochrangig besetzte,

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Koch-Grünberg an W. Seiler, 27.10.1920. VK Mr A.29. Koch-Grünberg, Vorlesungsmanuskript »Anfänge primitiver Religionen. Religiöse Vorstellungen bei den Naturvölkern«. VK Mr D.I.9.

10

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nicht-öffentliche Tagung veranstaltet wurde,11 um über die Neuaufstellung der Sammlungen des Ethnologischen Museums sowie des Museums für Asiatische Kunst für das im Bau befindliche Humboldt Forum zu beraten, verlief eine Konfliktlinie der Diskussion zwar nicht zwischen Europa und Außer-Europa, aber doch zwischen dem, was von einigen als Kunst und dem, was von ihnen als Alltagskultur empfunden wurde. So manch renommierte Gelehrte, wie beispielsweise Julian Raby oder Lothar Ledderose, polemisierten gegen die Option, dass vermeintlich plumpe ›Ethnographica‹ im neuen Museum den gleichen Stellenwert wie die von ihnen geschätzte ›Hoch-‹Kunst erhalten sollten. Ausdrücklich plädierte Ledderose für eine Ausstellungsgestaltung nach ästhetischen Prinzipien, was es seines Erachtens verbieten würde, beispielsweise bei der Repräsentation der deutschen Kultur neben einen Dürer auch eine Lederhose zu hängen. Möglicherweise hätte also auch er sich über ein afrikanisches Ledergewand neben einem Wildens empört. Die Tendenz jedenfalls war eindeutig: ›Lasst’ses draußen!‹. Dass diese Einstellung gerade dann, wenn Objekte den Intentionen ihrer Hersteller treu bleiben, statt sich in das eigene regime of value (Appadurai 2006 [1986]: 15, 57) einzufügen, keine Ausnahme ist, zeigen auch die Ausführungen von Lorenzo Brutti, der den willkürlichen, Urteile aus den Kulturen der Hersteller ignorierenden Umgang von Kunstexperten mit Gegenständen aus Übersee kritisiert (Brutti 2006: 235-245). Von einem Feldaufenthalt in Papua-Neuguinea erzählt er die Geschichte, dass er in einem Haufen Brennholz ein geschnitztes, mit verblasster Bemalung versehenes Brett aus einem Zeremonialhaus gefunden hatte. Das Zeremonialhaus selbst war nach der Ankunft von Missionaren zerstört worden. Ein ihn begleitender Museumskonservator12 interessierte sich stark für das Brett, »und zwar nicht nur wegen seiner Qualität, sondern auch wegen der Spuren, die die Zeit darauf hinterlassen hatte« (Brutti 2006: 248). Während der sich anschließenden Kaufverhandlungen soll der Eigentümer über den 11

Treffen des International Advisory Board für das Humboldt Forum Berlin, 6. – 8. April 2011. Für genaue Angaben danke ich Ingrid und Markus Schindlbeck. 12 Brutti nennt hier weder den Namen des Kollegen noch den des ›bedeutenden europäischen Museums‹, für das er tätig war. Der Begriff ›Museumskonservator‹ entstammt der zitierten deutschen Übersetzung des in einer ersten Fassung auf französisch veröffentlichten Beitrags und meint womöglich einen Kustos oder Abteilungsleiter.

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Preis, den man ihm für das von ihm zunächst weggeworfene Stück bot, sehr erstaunt gewesen sein. Als er es einen Tag später zum Flughafen brachte, staunten wiederum die europäischen Besucher. Der einheimische Verkäufer hatte das Brett neu bemalt, »ein übliches Verfahren bei rituellen Gegenständen, die zur Wiederverwendung bestimmt waren« (Brutti 2006: 249). Da der Wert des Stückes aus Sicht von Bruttis Begleiter stark von der Patina abhing, die durch das Übermalen verloren war, wies er den Erwerb des Gegenstandes nunmehr zurück. Das Erlebnis, so Brutti (2006: 249), zeigt, »dass unsere westlichen Vorstellungen von der Schönheit außereuropäischer Produkte sich oft gravierend von den Vorstellungen der Menschen unterscheiden, die die jeweilige materielle Kultur hervorgebracht haben«. Dass sich das fragliche Brett mittlerweile doch im Musée d’Arts Africains, Océaniens, Amérindiens in Marseille befindet, liegt daran, dass sich nun Brutti selbst zum Kauf, und damit für ein ›Lasst’ses rein!‹ des ehemaligen Zeremonialgegenstandes entschieden hatte. Umgangsformen mit Fremdem Ich weiß natürlich nicht, was Mark Münzel oder der Jaguar am Waldrand zu all dem sagen würden. Aber als ehemaliger Student und Doktorand von Mark Münzel kann ich zumindest von dem berichten, was man alles von ihm lernen konnte. Auch Münzel setzte sich dafür ein, fremden Dingen und Ideen in museale Räume, in den akademischen Kanon und in unser europäisches Denken Einlass zu verschaffen. Im Gegensatz zu Bastian kämpfte er jedoch gegen koloniale Strukturen und engagierte sich, wie im Falle der Aché, selbst eigene Gefahren und Verleumdungen in Kauf nehmend,13 für die besuchten Menschen, statt ihren Untergang fatalistisch dem 13

Zu Münzels Darstellung der Aché und des an ihnen verübten Genozids vgl. z.B. Münzel 1973, 1983, 1985. Vgl. auch verschiedene Ausgaben der von der Gesellschaft für bedrohte Völker herausgegebenen Zeitschrift Pogrom, in denen sich neben erschütternden Zeugnissen von Menschenjagden auch Hinweise auf mehr oder weniger offene Drohungen gegen Münzel finden (z.B. 18/1973: 37, Schreiben von Clemens von Thuemen und Milan Zeman; Pogrom 49/1977: 21, eidesstattliche Erklärung von Miguel Chase Sardi). Vgl. weiterhin vor allem Weber 2016. Die Öffnung der Akten des Auswärtigen Amtes, auf die sich Gaby Weber in ihrem Radio-Feature bezieht, macht nicht zuletzt die Perfidität von Aussagen

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Lauf der Weltgeschichte zuzuschreiben. Er war nicht nur an Erkenntnis interessiert. Er übernahm auch politisch Verantwortung. In der von ihm gelebten Ethnologie setzte sich Münzel intensiv mit der Mythologie, der Sprache und der Kunst verschiedener Indianergruppen Südamerikas auseinander. Trotz seiner tiefen Einblicke in die untersuchten Kulturen wusste er darum, »Nicht alles verstehen« zu können – was er in einem autobiographischen Text von 2009 sogar zur titelgebenden Aussage erhob. Uns Studierende versuchte er gerade auch an diese Erfahrungen immer wieder heranzuführen. So las er beispielsweise in einer Vorlesung eine indianische Mythe in der Originalsprache vor, so dass uns das Fremde noch unübersetzt und zumindest einige Minuten lang in einer (uns) völligen Unverständlichkeit gegenübertrat. Auch den Besuchern der von ihm erarbeiteten Ausstellungen mutete er das Verlassen vertrauter Wege zu, wenn er ihnen beispielsweise bewußt Erklärungen [vorsetzte], die schwer zu verstehen waren, die sich stark in den Zusammenhängen und der Sprechweise der entsprechenden Maskenhersteller bewegten. Wir schufen einen stilistischen Bastard zwischen einem wissenschaftlichen Text von uns und einem erklärenden mythischen Text, den die Leute dort geben würden. Wichtig war, daß den Besuchern überhaupt erst einmal klar wurde, daß es hier etwas ganz Fremdes gibt (Münzel und Schmalenbach 1994: 54). In einer Diskussion mit dem Kunsthistoriker Werner Schmalenbach betonte Münzel seine Intention »gegen die europäische Perspektive eine andere zu stellen« (Münzel und Schmalenbach 1994: 56). Sein Gesprächspartner hatte sich zwar ebenfalls intensiv mit außereuropäischen Objekten beschäftigt. Ein ›Lasst’ses draußen!‹ ist in der Diskussion allerdings auch bei Schmalenbach auszumachen. Es äußert sich in der kategorischen Ablehnung dessen, was Ethnologen die ›emische Perspektive‹ nennen, also das Bemühen, etwas aus der Innensicht einer anderen Kultur verstehen zu wollen. Münzel hingegen ging es um die Annäherung an uns fremde Welt-

wie denjenigen des ehemaligen deutschen Botschafters in Paraguay, Hubert Krier (1979: 681-682), deutlich, der den Genozid in Paraguay öffentlich leugnete und stattdessen diejenigen verunglimpfte, die ihn anklagten.

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und Lebenskonzeptionen, nicht um ihre an eigenen Werthierarchien ausgerichtete Einverleibung in das eigene System. Was ihn auszeichnete, war, dass er dabei lieber Schwierigkeiten und Nicht-Verstehen zugab als die Freiheit Anderslebender einschränken zu wollen: Je weniger die modernen Amazonasindianer von Entwicklungshelfern oder Völkerkundlern beraten werden, desto unbekümmerter verstoßen sie gegen unseren Geschmack. Für mich war es ein unbequemer, oft ärgerlicher, letztlich aber doch begeisternder und spannender Lernprozeß, zu erkennen, daß die Indianer andere Vorstellungen als ich vom Weg in die Moderne haben (Münzel 1988: 14). Wie sehr Erkenntnis immer nur vorläufig ist und sich auch eigene Gewissheiten im Laufe eines Lebens ändern können, demonstrierte Münzel 1999 in seinem Text »Frobenius kennen wir nun so ziemlich. Über das Unabgeschlossene in der Ethnologie«, in dem er verschiedene Diskussionskontexte und Blickwinkel auf Leo Frobenius offen legte und dabei auch den Wandel in seiner eigenen Wahrnehmung des berühmt und berüchtigten Afrikaforschers thematisierte.14 Was Münzel fremd war, war die Attitüde des ›Schmeist’ses raus!‹. Wenn er etwas nicht verstand, versuchte er zumindest, es stehen zu lassen. Wenn er an seine Grenzen stieß, sah er die Lösung nicht in der Ausweisung, sondern im Aushalten, in der das Aushalten begleitenden Reflexion und – immer gerne bzw. manchmal sicher auch als Notlösung – im Lachen. Zu seinen Anliegen zählte es, seine Gegenüber und sich selbst durch die Infragestellung vertrauter Ansichten immer wieder herauszufordern. Ausgestelltes sollte nicht den politischen, intellektuellen, spirituellen oder ästhetischen Interessen europäischer Konsumenten untergeordnet werden, sondern für die weite Welt jenseits vertrauter Kategorien sensibilisieren: 14 An einer Stelle des Aufsatzes fasst Münzel (1999: 23) seine Beschäftigung mit Frobenius zu folgendem Zwischenergebnis zusammen: »Nun habe ich ihn mehrere Jahrzehnte lang gelesen. In den 50er Jahren hat er mir aus dem humanistischen Eurozentrismus herausgeholfen, der Kultur nur rund ums Mittelmeer kannte. In den 60er Jahren hat er sich als Kolonialist entpuppt. In den 70er Jahren wurde er zum Museumsethnologen und Medien-gewieften Inszenator von Vorurteilskritik, in den 80ern zum postmodernen Karnevalisten. Im Grunde habe ich mit seinen Texten gemacht, was er mit den Kulturen Afrikas machte: Sie aus dem Geist meiner Zeit heraus gelesen.«

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Verständnis für chinesische Lackmalerei oder inkaische Festungsbaukunst zu wecken, ist nicht schwer: Der Europäer findet dort wieder, was er ohnehin hoch schätzt, ohne seine Wertvorstellungen ändern zu müssen. Wollen wir hingegen die Kulturen der Amazonasindianer verstehen, ja sie bewundern lernen, so müssen wir umdenken. Scheinbar Unscheinbares als schön begreifen, Werte umkehren: Das ist die Aufgabe einer Ethnologie, die es sich zum Ziel gesetzt hat, zum Akzeptieren des Fremden zu gelangen (Münzel 1988: 13). Über Dinge und Menschen und Museen Im Geleitwort zum Zürcher Ausstellungskatalog »Ka’apor – Menschen des Waldes und ihre Federkunst: Eine bedrohte Kultur in Brasilien« betont Mark Münzel, dass Kunst und Wissenschaft keinen Widerspruch darstellen. Auch hier ging es ihm darum, zwei unterschiedlichen Kulturen Raum zu geben, sie zu vereinen, ohne die eine leichtfertig (oder gewaltsam) in der anderen aufgehen zu lassen. In der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden hatten die Kunsthistorikerin Uta Neidhardt und der Ethnologe Claus Deimel versucht, Gegensätze, die nicht zuletzt aus unterschiedlichen, historisch konstituierten Klassifikationssystemen herrühren, zu überwinden. Sie haben Objekte, die neben großen Unterschieden auch gewisse Ähnlichkeiten aufweisen, gleichberechtigt nebeneinander gestellt. Und sie haben darauf verzichtet, den Besuchern Texttafeln zuzumuten, auf denen eine bestimmte Sichtweise als die einzig richtige beschworen wurde. Ich weiß nicht, was die beiden in letzter Hinsicht intendierten. Aber ich habe es genossen, dass sie mich zur Reflexion anregten, indem sie mich zum einen in der Einordnung des Gezeigten nicht völlig alleine ließen und zum anderen davon Abstand nahmen, mir genau zu erklären, was ich wahrnehmen solle. Vielleicht ist es das, was eine gute Ausstellung leisten kann. Der Ethnologe und Ausstellungsmacher José António Fernandes Dias veranschaulichte vor einigen Jahren bei der Auseinandersetzung mit den Werken des Künstlers Pedro Valdez Cardoso, der sich für seine Kunst unter anderem von französischen Stoffen, afrikanischen Objekten und historischen Ereignissen inspirieren ließ, den mitunter komplexen Annähe-

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rungsprozess an befremdende Dinge. Es ist das hier zu beobachtende Zusammenspiel von fremdkulturellen Einflüssen, Kunst und Ethnologie, von Spiel, Aneignung, Staunen, Erschrecken, Geltenlassen und Bewunderung, mit dem ich meine Ausführungen schließen möchte. Valdez Cardoso erstellt seine Skulpturen und Installationen aus Haushaltsutensilien und gebrauchten Materialien, wie Eimern, Schüsseln, Schwämmen und Wischlappen, Bratpfannen, Bierdosen, Plastikflaschen und anderem, die er oftmals mit Stoff überzieht. Dabei gehen Material, Inhalt und Form eine facettenreiche Verbindung ein, wenn Valdez Cardoso die gebrauchten Materialien beispielsweise in Toile-de-Jouy einnäht – einem ursprünglich von einem indischen Herstellungsverfahren inspirierten, nach seinem Produktionsort in Frankreich (Jouy) benannten, bedruckten Baumwollstoff, der mit ländlichen Szenerien, Tieren, Pflanzen oder anderen Ornamenten verziert ab dem Ende des 18. Jahrhunderts lange Zeit dem Geschmack des gehobenen Bürgertums entsprach –, und aus diesen Grundbestandteilen ›Plastiken‹ und Ensembles herstellt, die kolonialen Ikonographien – wie die aus ›exotischen‹ Tierteilen bestehenden Wanddekorationen von Großwildjägern – oder afrikanischen Masken ähneln. So verwendete er für ›Trophäe 1 (Nashorn)‹ neben dem mit ländlichen europäischen Szenen bedruckten Stoff ein Plastikbesteck, eine Jakobsmuschel aus Plastik, ein Plastiktablett sowie Fäden und Füllstoff. ›Maske 1‹ besteht aus einem Plastikeimer, einer Wasserflasche aus Plastik, Faden, einem Staubwedel, Holzringen und gemusterten Wischtüchern (Assírio und Alvim 2011, Werk 23 und 82). Fernandes Dias bekennt, dass ihm die erste Begegnung mit dieser Kunst nicht leicht gefallen ist: To someone who (like me) has followed and taken part on the debates concerning the artistic quality, or lack of it, of the objects made by conquered and colonised peoples, their uses and meanings in the societies that produced them, their wanderings in the colonial and post-colonial metropolises and their relationships with the contemporary artists of the countries that achieved independence during the 20th century’s second half, the pieces Pedro Valdez Cardoso brought to Lisbon’s Arte Contempo between April and June 2011, under the title Cross-Cultural (works on flatness, dominion and erasing) are,

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at the very least, disconcerting and provocative (Fernandes Dias 2011: 29, kursiv im Original). Und er schreibt weiter, dass ihm die hitzigen Diskussionen wieder in den Sinn kamen, die 2002 die Ausstellung ›Works from the Chapman Family Collection‹ in London ausgelöst hatte, auch wenn er bedauert, dass in Portugal, »our little corner by the sea«, 2011 keine ähnlichen Debatten stattgefunden haben. Doch lassen die Ambivalenz und die gewohnte Sichtweisen destabilisierenden Impressionen der Schau in Lissabon ebenso viele heterogene Lesarten zu wie die Ausstellung neun Jahre zuvor: Do I stand before a playful parody of ›primitive art‹? Or is it a mockery of the colonial/neocolonial system of appropriation, consumption and assimilation? Or a post-imperial melancholy, as Paul Gilroy would say, at the disappearance of ›authentic primitive art‹? Is there disrespect for the ›primitive cultures‹ in this trans-cultural intercrossing? Or is it instead a feeling of restlessness at the fate and condition of their descendents among us? (Fernandes Dias 2011: 30). Statt Empörung, die durchaus mitschwingt, versucht Fernandes Dias zu verstehen, was ihm hier widerfährt. Er kann nicht einfach akzeptieren, was Valdez Cardoso ihm zumutet. Aber er fordert auch nicht ›Schmeist’ses raus!‹. Er fällt kein apodiktisches Urteil, aber er lässt sich auch nicht vorschnell vereinnahmen. Stattdessen stellt er Fragen, um sich den Dingen anzunähern. Und er bleibt bei diesen Fragen nicht stehen, sondern bemüht sich um einen Antwortversuch, ohne dabei letzte Erkenntnisse zu behaupten. In seinem Essay skizziert er zunächst zentrale Momente der Begegnungsgeschichte zwischen ›westlicher Kunst‹, ›nicht-westlichen Ethnographica‹ sowie wissenschaftlichen Interpretationsversuchen – und es wirkt fast, als würde ihm dieser längere Vorlauf die notwendige Zeit geben zum Luftholen und Nachdenken. Die Arbeiten Valdez Cardosos, die ihn faszinieren, ohne dass er ihnen kritiklos verfallen würde, charakterisiert er schließlich als semantisch instabile queer objects, die Sand im Getriebe jeder eindeutigen Zuweisung von Identität als Resultat von Kolonialismus, Postkolonialismus und Globalisierung sind. Über ihre raffinierte Vielschichtigkeit bemerkt er: »[...] we have objects that seem amusing without letting that amusement value dilute a number of social and political concerns« (Fernandes Dias 2011: 39). 545

Im vorliegenden Essay habe ich ebenfalls versucht, mich anhand von Bruchstücken aus Geschichte und Gegenwart an ein bestimmtes Phänomen, den Streit um bzw. gegen die Exklusion des nicht immer leicht ertragoder verstehbaren Fremden, heranzutasten. Ich habe mich gefragt, was bestimmte Reaktionen bedeuten könnten und ich habe versucht, eine Antwort darauf zu geben. Nur Fragen sind meines Erachtens zu wenig. Aber Antworten sind nicht von Dauer. Enden soll dieser Beitrag daher zumindest beinahe so, wie er begonnen hat, mit den gleichen Fragen, jedoch leicht zeitversetzt und in neuer äußerer Form (womit es womöglich doch nicht mehr ganz die gleichen Fragen sind). Ich glaube, es wäre viel gewonnen, wenn wir als Besucherinnen und Besucher, statt mit klaren Gewissheiten, eine Ausstellung mit den Überlegungen verließen, die der Ethnologe José António Fernandes Dias (2011: 30) angesichts der hybriden Objekte des Künstlers Pedro Valdez Cardoso äußerte, wobei dieses Ziel nur bei einer wechselseitigen Offenheit von Ausstellungsgestaltung und Publikum erreicht werden kann: »Should I laugh? Should I smile? Should I rage? Should I contemplate? Should I cry? Should I wonder?« Unveröffentlichte Quellen UA HU = Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin. ACTA der Königl. Friedrich Wilhelms Universität zu Berlin betreffend: Habilitation der Privat-Docenten 1886, Philosophische Facultät. Littr. H. No. 1 Vol. X. VK Mr = Nachlass Theodor Koch-Grünberg. Völkerkundliche Sammlung der Philipps-Universität Marburg: A.29 (Korrespondenz J-Z 1920); D.I. (Vorlesungen/Vorträge).

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Verzeichnis der Autorinnen & Autoren

Beutlhauser, Andrea. Freiberufliche Lektorin, Autorin und Lehrbeauftragte an der Philipps-Universität Marburg. Bieker, Ulrike. Dekanatsreferentin für Internationales am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie der Philipps-Universität Marburg. Bönisch, Edgar. Verleger (Kula Verlag), Lehrbeauftragter am Fachgebiet Kultur- und Sozialanthropologie der Philipps-Universität Marburg und am Institut für Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Bräunlein, Peter J. Professor in Vertretung am Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig. Braun, Karl. Professor für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Drotbohm, Heike. Professorin für Ethnologie an der JohannesGutenberg-Universität Mainz. Dupont, Constanze. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Graduiertenkolleg ›Wert und Äquivalent‹ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Halbmayer, Ernst. Professor für Kultur- und Sozialanthropologie an der Philipps-Universität Marburg.

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Hainsch, Sebastian. Mitarbeiter Bildung und Vermittlung, Grassi Museum für Angewandte Kunst, Leipzig. Kann, Peter Herbert. Professor, Leiter des Bereichs Endokrinologie & Diabetologie und des Zentrums für In-Vitro-Diagnostik – Endokrinologie an der Philipps-Universität Marburg bzw. am Universitätsklinikum Gießen/Marburg (UKGM). Kaviany, Schabnam. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Kultur- und Sozialanthropologie der Philipps-Universität Marburg. Kosack, Godula. Privatdozentin am Fachgebiet Kultur- und Sozialanthropologie der Philipps-Universität Marburg. Kraus, Michael. Kustos der Ethnologischen Sammlung der GeorgAugust-Universität Göttingen. Krasberg, Ulrike. Privatdozentin am Fachgebiet Kultur- und Sozialanthropologie der Philipps-Universität Marburg. Lauser, Andrea. Professorin für Ethnologie an der Georg-AugustUniversität Göttingen. Montoya Bonilla, Sol. Ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Kultur- und Sozialanthropologie der Philipps-Universität Marburg. Poulelaouen, Bernard. Leiter im Ruhestand und Gründer des Centre du Patrimoine de la Facture Instrumentale (CPFI) in Le Mans (Frankreich) und Lehrbeauftragter am Fachgebiet Kultur- und Sozialanthropologie der Philipps-Universität Marburg. Prinz, Ulrike. Freie Autorin und Redakteurin. Riedel, Felix. Freischaffender Ethnologe, Autor und politischer Bildungsarbeiter.

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Rossbach de Olmos, Lioba. Ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Kultur- und Sozialanthropologie der Philipps-Universität Marburg. Schmelz, Bernd. Kustos für Europa am Museum für Völkerkunde Hamburg, Professor für Lateinamerikastudien an der Universität Hamburg. Scholz, Nathalie. Ehemalige Mitarbeiterin in der Ethnographischen Sammlung des Fachgebiets Kultur- und Sozialanthropologie der PhilippsUniversität Marburg. Schröder, Ingo W. Privatdozent am Fachgebiet Kultur- und Sozialanthropologie der Philipps-Universität Marburg. Schröder, Peter. Professor Associado am Departamento de Antropologia e Museologia (DAM) der Universidade Federal de Pernambuco (UFPE), Recife (Brasilien). Schweitzer de Palacios, Dagmar. Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Ethnographischen Sammlung am Fachgebiet Kultur- und Sozialanthropologie der Philipps-Universität Marburg. Streck, Bernhard. Professor im Ruhestand, 1994-2010 Leiter des Instituts für Ethnologie an der Universität Leipzig. Umstätter, Ulrike. Lehrbeauftragte am Fachgebiet Kultur- und Sozialanthropologie der Philipps-Universität Marburg.

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Tabula Gratulatoria

Ferdaouss Adda Susanne Berghöfer Andrea Beutlhauser Ulrike Bieker Edgar Bönisch Peter J. Bräunlein Karl Braun Christiane Clados Dietmar Cremers Erika Dahlmanns Josef Drexler Heike Drotbohm Constanze Dupont Antje van Elsbergen Verena Fibich Edith Franke Sarah Friedrichs Christian Häusler Sebastian Hainsch Ernst Halbmayer Volker Harms Andrea Herbert 555

Stephan Horschitz Margrit Jütte Elke Kamm Christiane Kania Peter Herbert Kann Schabnam Kaviany Hartmut Emanuel Kayser Korinna Klasing Karl-Heinz Kohl Godula Kosack Ulrike Krasberg Michael Kraus Andrea Lauser Simone Lehmann und Stéphane Voell Wolfgang Lindig Silke Lunnebach Mona Adriana Mansour Katrin Marggraff Ina Merkel Sol Montoya Bonilla Philipp Naucke Bernard Poulelaouen Ulrike Prinz Eva Ch. Raabe Georgia Rakelmann Felix Riedel Anna-Lena und Oliver Römer Lioba Rossbach de Olmos Heike Röttgen-Baumgartl 556

Birgit Scharlau Helmut Schindler und Minerva Schindler Bernd Schmelz Bettina E. Schmidt Nathalie Scholz Ingo W. Schröder Peter Schröder Dagmar Schweitzer de Palacios Mareile Seeber-Tegethoff Manfred Seifert Hilde Steinmetz Bernhard Streck Mona B. Suhrbier Ulrike Umstätter Ehler Voss Angela Weber Ciska van der Weele und Alexander Tansinna Kathleen Wind Ulrike Ziegler Harm-Peer Zimmermann

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